Magnus Gottfried Lichtwer
Fabeln
Magnus Gottfried Lichtwer

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Der Uhrensaal.

            Es trat in den vergang'nen Zeiten
Ein Phönix in der Kunst hervor,
Ein Mann, vor dessen Seltenheiten
Der Künstler Werk den Preis verlor.
Ihm lösten sich der Wahrheit Siegel,
Sein Witz zerbrach des Irrthums Riegel,
Und drang auf der entdeckten Spur
Zum Heiligthume der Natur.

    Ein Saal, den Marmorbögen banden,
War es, wo dieses Meisters Hand
Durch Uhren, die nie stille standen,
Ein neues Wunderwerk erfand.
Ihr Lauf beschrieb verschied'ne Kreise,
Und keine wich aus ihrem Gleise,
Obschon das Uhrwerk, das sie trieb,
Den Augen ein Geheimniß blieb.

    Da Alle hellen Kugeln glichen,
So war ihr Glanz doch mancherlei,
Die, der an Schönheit kleine wichen,
Kam größern an der Pracht nicht bei.
Die Klügsten mußten es bekennen,
Und jede was Vollkommnes nennen,
Nur merkte man mit Achtsamkeit
Die Stufen der Vollkommenheit.

    Dies Kunsthaus widerstand den Jahren,
Es priesen Alle, die gereist,
Und Alle, die im Lande waren,
Den unnachahmlich großen Geist.
An allen diesen Wunderuhren
Sah Niemand einer Aend'rung Spuren,
Und jede lief an ihrem Ort'
In der gekrümmten Bahne fort.

    Doch wird des Künstlers scharfes Auge
Zuletzt an einer Uhr gewahr,
Daß sie im Grunde nichts mehr tauge,
Und sein Entschluß ist sonderbar:
Er scheinet wegen Einer schlimmen
Nun über Alle zu ergrimmen,
Verderbt sie selbst, und ziert sein Haus
Mit lauter neuen Uhren aus.

    Viel sind, die diesem widersprechen;
Sollt' er den Fehler einer Uhr
An den vollkommnen Werken rächen?
Er ist von edlerer Natur.
Will er den Uhrensaal behalten,
Warum verheert er denn die alten,
Die so vollkommen, so geschwind,
So wunderbar, so herrlich sind?

    Nein! sagten sie, das ist erdichtet,
Der Augenschein hat Euch bethört,
Da er das böse Werk vernichtet,
Als sey der Uhrbau selbst zerstört.
Doch kaum sank die verworf'ne nieder,
So zeigten sich die andern wieder,
Und wurden, da der Fall gescheh'n,
Für neue fälschlich angeseh'n.

    Wer hat nun Recht von beiden Theilen?
Entscheidet, Menschen! diesen Streit.
Ihr müßt Euch hier nicht übereilen,
Wenn Ihr vielleicht der Meinung seyd,
Daß Gott bei dem Gericht der Erde
Das Weltall selbst vernichten werde,
Weil der so oft genannte Mann,
Der große Künstler, Gott seyn kann.


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