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Achtundzwanzigstes Kapitel

1

Frank wußte, daß seine Freundschaft mit Dr. Philipp McGarry das Einzige war, was ihn in der Kirche hielt. Seine kleine runde Frau Bess und die drei gut geratenen Kinder, für diese empfand er weniger leidenschaftliche Liebe als liebevolles Mitleid, und er glaubte genug Geld verdienen zu können, um sie zu versorgen.

McGarry war kein außerordentlicher Gelehrter, nicht besonders beredt, nicht außerordentlich tugendhaft, aber in ihm vereinte sich Freundlichkeit mit robustem Humor, mit einem Sehnen nach Gerechtigkeit, das von einem gesunden Verstand gestützt war, und mit eben jener Eigenschaft wirklicher Kameradschaftlichkeit, gegen welche sich die professionellen Guten Kameraden Zeniths, ob sie nun Prediger oder Schuhverkäufer waren, versündigten, indem sie brüllten, roh lachten und Schultern klopften. Frauen vertrauten seiner Kraft und seiner Ehrenhaftigkeit; Kinder empfanden keine Scheu vor ihm; Männer enthüllten ihm ihre heimlichsten Kümmernisse, und er beeilte sich mehr, ihnen zu helfen, als empört zu sein.

Frank verehrte ihn.

McGarry, selbst Junggeselle, war Intimus in Franks Haus geworden. Er wußte, wo der Eispfriem, und wo die Thermosflaschen für Picknicks aufbewahrt wurden; er war ebenso bereit wie Frank, nach späten Abendessen Teller zu waschen; und wenn er kam und die Eltern Shallard nicht zu Hause waren, ging er hinauf und wurde dann dabei ertappt, wie er die Kinder skandalöserweise durch Geschichten von seinen Jagden in Montana, Arizona und Saskatchewan lange wach hielt.

So war es auch, als Frank und Bess eines Abends von der Gebetsandacht heimkamen. Philipp McGarrys eigene Gebetsandachten waren kurz. Eine ganze Menge Leute behauptete, sie wären eine ebenso kunstvolle Form religiösen Köderns wie Elmer Gantrys Muntere Sonntagsabende; aber wenn McGarry wohl auch die Gewohnheit hatte, die Leute bei allen öffentlichen Ereignissen, außer Begräbnissen vielleicht, »Lach, lach, lach« singen zu lassen, so versteifte er sich wenigstens nicht so sehr darauf, daß sie es brüllten.

Sie gingen hinunter in das Pfarrerwohnzimmer, dem Bess mit Kattunresten ein heiteres, Frank mit gewichtigen Büchern über Soziologie ein gelehrtes Aussehen gegeben hatte. Frank saß tief in einem Stuhl und rauchte Pfeife – er konnte nie ganz darüber hinauskommen, wie ein sehr junger Collegeprofessor auszusehen, der raucht, um zu zeigen, was für ein mannhafter Kerl er sei. McGarry ging im Zimmer herum. Er hatte eine Art, seine Argumente zu unterstreichen, indem er mit Einrichtungsgegenständen herumarbeitete, mit Schürhaken, Vasen, Büchern, Lampen – eine Art, die ebenso gefährlich war, wie sie aussah.

»Ach, ich war miserabel bei der Gebetsandacht heute abend«, brummte Frank. »Verflixt und zugenäht, mir ist es unmöglich, so zu tun, als interessierte mich die Tatsache, daß die alte Mrs. Besom in Gott einen solchen Trost in ihren Leiden findet. Mrs. Besoms Schwiegertochter findet in ihren Leiden gar keinen Trost in Mrs. Besom, das kann ich Euch sagen! Und doch, ich weiß nicht, wie ich ihr sagen kann, nachdem sie unter den Engeln herumgeflattert ist und bekanntgegeben hat, wie sicher sie ist, daß Jesus sie liebt – ich bring' nicht recht den Mut auf, zu sagen: ›Schwester, Sie filziger, giftiger alter Drachen –‹«

»Aber, Frank!« von Bess in gelassener Frömmigkeit.

»– gehen Sie nach Haus, vergessen Sie Ihre Beliebtheit im Himmel und bitten Sie Ihren Sohn und seine Frau, sie mögen Ihnen verzeihen, daß Sie sie zu solchen Heiligen machen wollen, wie Sie eine sind, mit geistlicher Magensäure!«

»Aber, Frank

»Lassen Sie ihn toben, Bess«, sagte McGarry. »Wenn ein Prediger nicht ab und zu über seine Gemeinde fluchte, hätt' es kein Mensch außer dem heiligen Johannes überhaupt ausgehalten – und ich möcht' wetten, daß der auch nicht sehr gut bei Wochenandachten und Seelsorgerbesuchen war!«

» Und«, fuhr Frank fort, »morgen hab' ich ein Begräbnis. Der Henry Semp. Der hat zweihundertachtzig Pfund vom Hals abwärts und drei Unzen von Hals aufwärts gewogen. Ein völlig guter christlicher Bürger, der geglaubt hat, daß Warren G. Harding der größte Mann seit George Washington ist. Ich bin überzeugt, daß er seine Frau nie geprügelt hat. Ein würdiger Kommunikant. Aber wie seine Frau zu mir gekommen ist, wegen der Beerdigung, hat sie geweint wie der Deibel, während sie von Henrys Tod gesprochen hat; aber dann, wie sie unten auf der Straße weggegangen ist, hab' ich vom Fenster aus gesehen, daß sie wieder recht fröhlich ausgesehen hat. Ja, Henry war ein Bollwerk der Nation; da gibt's nichts drüber zu lachen. Und ich bin totsicher, nach dem, was sie gesagt hat, daß sie jedes Jahr der Regierung soviel Cents von der Einkommensteuer abgegaunert haben, wie sie nur konnten. Und morgen soll ich mich dort hinstellen und seinen Freunden erzählen, was für ein sittliches Vorbild und was für ein Geistesriese er war, und daß die arme kleine Frau vom Kummer ganz einfach gebrochen ist. Na, nur langsam! Nach allem, was ich von ihr weiß, wird sie in sechs Monaten wieder verheiratet sein, und wenn ich morgen gute Priesterarbeit leiste, dann werd' ich vielleicht auch das Honorar kriegen. Ach du lieber Gott, Phil, was für ein Beruf, was für ein verlogener, kompromißlerischer Beruf, Geistlicher zu sein!«

Es war ihr hundertster Streit über diese Frage.

McGarry fuchtelte mit einem Kissen herum, vertauschte es mit Bess' Börse, während sie versuchte, nicht erschrocken auszusehen, und rief: »Wie ich einmal einen großen New Yorker Prediger sagen gehört habe: er wisse, wie unvollkommen die Geistlichkeit sei, und wie viele Zweitklassige in unseren Beruf kämen, und doch, wenn er tausend Leben hätte, in jedem von diesen würde er Diener des Evangeliums sein wollen, ein Mensch, der der Menschheit die Philosophie Jesu zeige. Und die Universalkirche ist trotz allen ihren Fehlern noch immer die einzige Institution, in der wir zusammenarbeiten können, um diese Botschaft zu verbreiten. Vielleicht ist es dein Fehler, nicht der der Kirche, junger Frank, wenn du vor deinen Leuten solche Angst hast, daß du bei Begräbnissen lügst. Ich tu's nicht, weiß Gott!«

»Du tust's, weiß Gott, mein lieber Phil! Du weißt es nur nicht. Nein, du tust was anderes, du hypnotisierst dich selbst, bis du überzeugt bist, daß jeder teure Dahingegangene das Vorbild irgendeiner Tugend war, und dann schwefelst du darüber.«

»Freilich, wahrscheinlich war er das auch!«

»Natürlich. Wahrscheinlich war dein Einbrecher ein Vorbild an Mut und dein Spieler ein Vorbild an Freundlichkeit gegen alle außer denen, die er ausgeplündert hat, aber mir ist es unangenehm, mich zum Loben von Einbrechern, Spielern und wohlanständigen Wucherern und Mastschweinen wie Henry Semp engagieren zu lassen, und zum Ermutigen der Jüngeren, auf diesem Niveau zu bleiben, und so an der Fortsetzung dieser barbarischen Zivilisation mitzuarbeiten, für die wir Prediger ebenso verantwortlich sind, wie die Rechtsanwälte, Politiker, Soldaten und auch die Schullehrer. Nein, mein Lieber! Oh, ich werde aus der Kirche rausgehen, merk dir das! Ein Prediger, der fromm wird, gerettet, ehrlich wird, rausgeht! Und dann würde ich auch die Freuden der Heiligung kennen lernen, von denen ihr Methodisten redet!«

»Ach, du langweilst mich«, klagte Bess, nicht sehr aggressiv. Sie sah mit ihren einundvierzig aus wie ein molliges, liebenswürdiges Mädchen von zwanzig Jahren. »Wirklich, Phil, ich wollte, Sie könnten Frank zeigen, wo sein Fehler steckt. Ich kann's nicht, und ich versuch's doch schon seit fünfzehn Jahren.«

»Das tun Sie, mein Lämmchen!«

»Wirklich, Phil, können Sie's ihm nicht klarmachen?« fragte Bess. »Er ist – ich bete ihn natürlich an, aber von allen kleinen Schreihälsen, mit denen ich in meinem Leben zu tun gehabt hab' – er ist das schlimmste von allen meinen Kindern! Er redet davon, daß er Armenpflege machen, eine Stellung bei einer Arbeiterbank oder einer Arbeiterzeitung bekommen, Vorträge halten, zu schreiben versuchen will. Können Sie ihm nicht klarmachen, daß er immer unzufrieden sein wird, bei allem, was er tut? Ich geh' jede Wette ein, daß die Arbeiterführer, die radikalen Agitatoren und die Leute von der Gesellschaft zur Organisation der Armenpflege ebensowenig vollkommene Engelchen sind wie Prediger!«

»Himmel, ich erwarte ja auch gar nicht, daß sie's sind! Ich erwart' gar nicht, zufrieden zu sein«, protestierte Frank. »Und ist es nicht ganz gut, daß ein paar Leute da sind, die sich nach etwas sehnen? Sonst würde man ja überhaupt nicht weiterkommen. Ist es nicht ein Spaß, daß ein Geistlicher, von dem man soviel göttliche Autorität erwartet, daß er den Leuten mit der Hölle drohen kann, gleichzeitig so ein Laufbursche sein soll, daß man ihn hinauswerfen und auf die Straße setzen kann, wenn er es wagt, an Kapitalisten oder seinen geistlichen Kollegen Kritik zu üben! Aber – liebe Bess, es ist schlecht gegen dich. Ich würde schon gern ein zufriedener Mensch sein, würde gern ›Erfolg haben‹ und mich gern damit begnügen, halbehrlich zu sein. Aber ich kann nicht … Siehst du, Phil, ich bin in dem Glauben aufgewachsen, daß der Christengott kein ängstlicher und kompromißlerischer Diener der Öffentlichkeit ist, sondern der Schöpfer und Fürsprecher der ganzen unbarmherzigen Wahrheit, und ich glaube, diese Erziehung hat mich verdorben – ich hab' meine Lehrer wirklich ernst genommen.«

»Ach, papperlapapp, Frank; das Malheur mit dir ist«, gähnte Philipp McGarry, »mit dir ist das Malheur, daß du lieber debattierst, als an den seelischen Problemen arbeitest, mit denen irgendein armes, dummes, unendlich jammervolles Menschenwesen hilfesuchend zu dir kommt, dem es ganz wurscht ist, ob du Zoroaster dienst oder Sabbathadventismus empfiehlst, solang es fühlt, daß du es liebst und ihm Kraft von einer Macht bringen kannst, die höher ist als es selber. Ich weiß, wenn du deinen geistigen Hochmut verlieren könntest, wenn du daran vergessen könntest, daß du eine neue Welt, besser als die des Schöpfers, erschaffen mußt, gleich heute abend – du und Bernard Shaw und H. G. Wells und H. L. Mencken und Sinclair Lewis (Herrgott, wie hat mich das Buch von Lewis, ›Main Street‹, gelangweilt, soweit ich es gelesen hab'; es windet sich immer weiter und weiter, und alles, was er sehen konnte, war, daß ein paar von den Bauernschädeln in Gopher Prairie nicht ganz so oft wie er selber zu literarischen Tees gehen! – das war alles, was er unter diesen herrlichen, heroischen Pionieren finden konnte!) also, was ich sagen wollte, wenn du, statt dort anzufangen, wo deine Gemeinde aufgehört hat, weil sie nie deine Möglichkeit gehabt haben, wenn du sie mit dir fortziehen könntest –«

»Ich versuch's ja! Und laß dir von mir sagen, junger Mann, ich hab' auch ein paar von ihnen so weit gebracht, daß sie vernünftig genug geworden sind, um mich und meine evangelische Kirche zu verlassen, und zu den Unitarianern überzugehen oder überhaupt keiner Kirche mehr anzugehören – und habe so, meine liebe Bess, erreicht, daß ich meine Frau und Kinder um ein paar Pennys mehr beraube! Aber, ernsthaft, Phil –«

»Man sagt immer ›Aber ernsthaft‹, wenn man fühlt, daß bisher die Argumente noch nicht recht gut waren!«

»Mag sein. Aber auf jeden Fall, was ich sagen will: Natürlich ist mein Liberalismus nichts als Dummheit! Weißt du, warum meine Leute dabei mitgehen? Sie haben nicht genug Interesse, um zu begreifen, was ich sage! Wenn ich einen Nachfolger haben sollte, der Fundamentalist ist, würden sie ihn ebenso gern oder noch lieber haben und mit Geschrei zum heiligen Höllenfeuer zurückkehren, von dem ich sie losgeredet hab'. Sie glauben nicht, daß es mir ernst ist, wenn ich etwas gegen die Angst vor der ewigen Strafe sage, gegen das ganze Zauber- und Tabusystem der Bibelverehrung und des Dienstes, und gegen alle die anderen totenschädelgeschmückten Überreste von Schauerlichem, die im sogenannten Christentum stecken! Sie wissen's nicht! Zum Teil deshalb, weil sie dazu erzogen sind, nicht alles zu glauben, was sie in Predigten hören. Aber es ist auch mein Fehler. Ich bin nicht aggressiv. Ich müßte rumspringen wie ein Wahnsinniger oder wie ein populärer Evangelist und brüllen: ›Versteht Ihr? Wenn ich sage, daß die meisten von Euren religiösen Anschauungen leere Phrasen sind, ja, dann will ich sagen, daß sie leere Phrasen sind!‹ Ich hab' es bis jetzt nie so leidenschaftlich ernst gemeint, daß man mich für die Sache des Herrn, unseres Gottes, geschlagen hätte! … Noch nicht!«

»Aha, da hab' ich dich, Frank! Ich muß ja lachen, wenn ich seh', wie du versuchst, den Dorfatheisten zu spielen! ›Für die Sache des Herrn, unseres Gottes‹, hast du eben gesagt. Und wie oft hab' ich dich beim Abschied sagen gehört: ›Gott sei mit dir‹ – und du hast's auch wirklich gemeint! O nein, du glaubst nicht an Christus! Nicht mehr als der Papst in Rom!«

»Ich glaube, wenn ich sagte: ›Gott verdamm' dich‹, so würde das auch ein Beweis dafür sein, daß ich ein frommer Christ bin! Ach, Phil, ich kann nicht begreifen, wie ein Mann, der so ehrlich ist wie du, der wirklich gern den Leuten hilft – und sie erträgt! – es aushalten kann, mit einer Menge von deinen Mitpredigern auf eine Stufe gestellt zu werden, und sich nicht einmal dagegen zu wehren! Denk doch nur daran, daß du es immer noch aushältst, methodistischer Predigerkollege in einer Stadt mit Elmer Gantry zu sein, und nicht einmal bei der Predigerzusammenkunft aufstehst und sagst: ›Entweder er geht, oder ich!‹«

»Ich weiß! Du Idiot, glaubst du denn nicht, daß diejenigen unter uns, die nur halbwegs anständig sind, darunter leiden, mit Elmer zusammengeworfen zu werden, und daß wir ihn noch mehr hassen als du? Aber wenn schon Elmer ein Schwein ist, was hat das zu sagen? Würdest du eine strebsame Institution voller großzügiger, ernster Menschen verdammen, weil einer von ihnen ein Mistkerl ist?«

»Einer? Nur einer? Ich will zugeben, daß es nicht viel, nicht sehr viel Schweine wie Gantry in deiner Kirche gibt, oder in irgendeiner anderen, aber ich möchte dir meine liebevolle, brüderliche Meinung über ein paar andere von deinen herrlichen Methodisten sagen! Bischof Toomis ist ein aufgeblasener Phrasendrescher. Chester Brown mit seinen Kerzen und Gesängen, der ist nichts weiter als ein Anglikaner, der zur anglikanischen Kirche übergehen würde, wenn er nicht Angst davor hätte, zuviel Gehalt einzubüßen, weil er wieder von neuem anfangen müßte – genau so wie eine ganze Menge von den anglo-katholischen Episkopalisten ganz einfach Katholiken sind, die zur römischen Kirche übergehen würden, wenn sie nicht Angst davor hätten, ihre Stellung in der Gesellschaft zu verlieren. Otto Hickenlooper mit seinen Stiftungen – die Reichen sind so gerührt von seinen Liebeswerken, daß sie ihm Geld geben, und Otto wird dafür gelobt, daß er dieses Geld ausgibt. Ein schöner Circulus viciosus. Und dann denk an irgendeinen armen jungen Idioten, der seine Zeit verschwendet und sich seine Gedanken verdrehen läßt, indem er in Ottos streng moralischen Kunstkursen arbeitet, wo der Lehrer mehr auf Grund seiner Ansichten über die Sakramente als auf Grund seiner Kompositionskenntnisse ausgesucht ist.«

»Aber, Frank, ich hab' ja gesagt, alle –«

»Und der solide, der gelehrte, der wohlausgeglichene Dr. Mahlon Potts! O ja, der ist ein restlos guter Mann, kein Fanatiker. Er glaubt nicht, daß die Evolution eine teuflische Lehre sei. Das einzige Unglück bei ihm ist – wie bei den meisten berühmten Predigern – daß er nicht die leiseste Ahnung davon hat, wie Menschenwesen wirklich sind. Er ist isoliert; er ist es die ganze Zeit, seitdem er Prediger geworden ist. Er geht an die Totenbetten Prostituierter (nicht zu oft, möcht' ich wetten!), aber er kann nicht begreifen, daß durchaus anständige Ehemänner und Frauen oft wegen sexueller Antipathie nicht miteinander auskommen können.

»Potts lebt in einer Bibliothek; seine Vorstellungen von menschlichen Motiven stammen aus George Eliot und Margaret Deland, seine Vorstellungen über Volkswirtschaft aus Leitartikeln im Advocate, und seine Vorstellungen von dem, was er wirklich leistet, aus den Schmeicheleien der Frauenhilfe! Er ist ein viel schlimmerer Verbrecher als Gantry! Ich denke mir, Elmer verspürt irgendeinen Wunsch, ein guter Kerl zu sein und seinen Raub zu teilen, aber Dr. Potts möchte eine ganze Welt lebendiger, blutender, schwitzender, liebender, kämpfender Menschenwesen zu lauter Dr. Potts' machen – zu Dr. Potts', die ihr Nachmittagsschläfchen unter einem Regal mit Büchern über die Lehren der vornikäischen Kirchenväter machen!«

»Donnerwetter, du liebst uns aber! Und du glaubst wohl, daß ich alle diese Kerle bewundere! Also: sie halten mich für einen Ketzer, alle, vom Bischof angefangen«, sagte Philipp McGarry.

»Und doch bleibst du bei ihnen!«

»Ist irgendeine andere Kirche besser?«

»O nein. Glaub nicht, daß ich den Methodisten meine ganze Liebe schenke. Ich hab' sie nur vorgenommen, weil sie zu dir gehören. Meine eigenen Kongregationalisten, die Baptisten, die mich gelehrt haben, daß die Taufe durch Untertauchen wichtiger sei als soziale Gerechtigkeit, die Presbyterianer, die Campbelliten, alle miteinander – oh, meine Liebe ist ziemlich gleichmäßig auf alle verteilt!«

»Und was ist mit dir selbst? Was mit mir?«

»Du weißt, was ich von mir halte – ein Mann, der zu schwach ist, um sich zu erheben und zu riskieren, daß man ihn einen Narren oder einen gemeinen Atheisten nenne! Und was dich angeht, mein junger, liberaler Freund, dich habe ich gerade für zuletzt in meiner Vorführung von Methodistenpfarrern aufgespart! Du bist der schlimmste von allen!«

»Aber, aber, Frank!« gähnte Bess.

Sie war schläfrig. Wie Prediger redeten! Saßen Stukkateure, Schriftsteller und Effektenmakler auch die ganze Nacht auf und diskutierten über ihre Seelen, um voller Eifer festzustellen, ob die Arbeit der Stukkateure, Schriftsteller oder Effektenmakler der Mühe wert sei?

Sie gähnte noch einmal, küßte Frank und streichelte Philip die Wange, dann ging sie mit den Worten: »Du bist vielleicht schwach, Frank, aber du kannst ganz entschieden eine starke, kräftige junge Frau zu Tod reden!«

Frank, den sonst ihr scherzhaftes Brummen und Philips freundliche Sticheleien besänftigten, war heute abend außer sich und nicht zur Ruhe zu bringen.

»Ja, du bist der Schlimmste von allen, Phil! Du weißt wirklich etwas von den Menschen. Du bist nicht wie der alte Potts, der immer so viel darüber zu sagen weiß, wieviel Sünde es in der Welt gibt, und immer so erstaunt ist, wenn er einen wirklichen Sünder trifft. Und du glaubst auch nicht, daß so viel davon abhängt, ob jemand, der Anständigkeit sucht, runtergedrückt – oder getauft – wird oder nicht. Und doch müssen, wenn du auf die Kanzel steigst, die Leute aus der Art, wie du betest, schließen, daß du mit der Gottheit genau so intim bist wie Potts oder Gantry. Dein Liberalismus reicht dir nie weiter als von meinem Haus bis zum Straßenbahnwagen. Du redest von den goldenen Straßen des Himmels und dem gesegneten Frieden des Jenseits, und doch hast du mir zugegeben, hin und wieder, daß du nicht die geringste Ahnung davon hast, ob es ein persönliches Weiterleben nach dem Tod gibt. Du redest von der Erlösung und dem Sakrament des heiligen Abendmahls und davon, wie Gott diesem Volk hilft, einen Krieg zu gewinnen, und jenes mit einer Flut schlägt, und von noch einer ganzen Menge Dinge, an die du privatim durchaus nicht glaubst.«

»Ach, ich weiß! Donnerwetter! Aber du selber – du betest in der Kirche.«

»Nicht wirklich. Seit mehr als einem Jahr hab' ich kein Gebet an irgendeine bestimmte Gottheit gerichtet. Ich sag' so etwas wie: »Wir wollen in stillem Denken, der Kümmernisse des täglichen Lebens vergessend, unsere Seelen in Sehnsucht nach dem Kommen des ewigen Friedens vereinen' – irgend so etwas.«

»Na, Frankie, mir klingt das wie ein ziemlich schlechtes Gebet! Das einzige Unglück mit dir ist, daß du glaubst, du bist dazu berufen, das Vaterunser noch einmal zu schreiben!«

Philip lachte ausgelassen und klopfte Frank auf die Schulter.

»Verdammt noch einmal! Mach keine Witze! Ich weiß, daß es ein miserables Gebet ist. Es ist fürchterlich. Verschwommen. Sinnlos. Wie von einem Ausrufer so einer Neudenkerbude. Ich nehm' dir nicht übel, daß es dir nicht gefällt, aber ich nehme dir übel, daß du's komisch nehmen willst! Wie kommt es nur, daß Ihr, die Ihr die Kirche verteidigt, so spaßhaft werdet, sooft Ihr wirklich dazu kommt, über die Wurzeln der Religion zu reden?«

»Ich weiß, Frank. Die Wirkung zu vielen Predigens. Aber ernsthaft: Ja, ich sage auf der Kanzel manches, was ich nicht buchstäblich meine. Und wenn schon? Die Leute verstehen diese Symbole; sie sind mit ihnen aufgewachsen, sie fühlen sich wohl bei ihnen. Mein Ziel beim Predigen ist, die Kunst des Lebens zu lehren, so gut ich kann; meine Leute – und mich selbst – dazu zu ermutigen, freundlich, ehrenhaft, sauber, tapfer zu sein, Gott und die Mitmenschen zu lieben; und die ganze Erfahrung der Kirche beweist, daß diese Lehren am besten durch solche wirklich edlen Begriffe, wie Erlösung, Gegenwart des Heiligen Geistes, Himmel und so weiter erteilt werden.«

»Hm. Beweist sie das? Hat die Kirche jemals etwas anderes versucht? Und was meinst du denn überhaupt mit ›sauber sein‹, ›ehrenhaft sein‹ und ›die Kunst des Lebens lehren‹? Herrgott, wie lieben wir Prediger es doch, Phrasen zu gebrauchen, die gar nichts bedeuten! Aber nehmen wir an, du hast recht. Trotzdem, dadurch, daß du im selben Theologenjargon redest wie ein Gantry, ein Toomis oder ein Potts, bringst du, ohne es zu wissen, alle Leute zu dem Glauben, daß du auch denkst und handelst wie sie.«

»Unsinn! Nicht, daß ich von den Reizen irgendwelcher dieser Mitweisen besonders angezogen wäre. Lieber würd' ich an einer einsamen Insel mit dir Schiffbruch leiden, du alter Atheist! – du verdammter alter Narr! Aber angenommen, sie sind genau so schlecht, wie du meinst. Ich würde es trotzdem nicht für meine Pflicht halten, mein eigenes Nest zu beschmutzen und diese große alte Methodistenkirche, mit ihren Heiligen und Helden wie Wesley und Asbury, Quayle, Cartwright, McDowell und McConnel – mir kommen ja die Tränen in die Augen, wenn ich an Männer wie die denke! Paß mal auf: Nimm an, du wärst im Krieg, in einem berühmten Regiment. Nimm an, eine Menge von deinen Kameraden, sogar der augenblickliche Regimentskommandant selbst, wären elende Kerle – Feiglinge. Würdest du desertieren wollen? Oder nur um so härter kämpfen, um ihre Fehler wettzumachen?«

»Phil, gleich nach dem Witzereißen, von dem ich gesprochen habe, und der Verwendung abgestandener Phrasen, ist das schlimmste Übel in religiösen Debatten die Verwendung von Metaphern! Die protestantische Kirche ist kein Regiment. Du bist kein Soldat. Der Soldat hat zu kämpfen, wann und wie es ihm gesagt wird. Du hast völlige Freiheit, abgesehen von einigen moralischen und doktrinären Vorschriften.«

»Aha, jetzt hab' ich dich, mein logischer junger Freund! Wenn wir diese Freiheit haben, warum bist du dann nicht bereit, in der Kirche zu bleiben? Ach Frank, Frank, bist du ein Narr! Ich weiß, daß du nach Rechtschaffenheit begehrst. Kannst du denn nicht begreifen, daß du sie am besten erreichst, wenn du in der Kirche bleibst, sie von innen liberalisierst, statt davon zu laufen und die Leute den Gantrys zu überlassen?«

»Ich weiß. Gerade das hab' ich ja alle diese Jahre gedacht. Das ist der Grund, warum ich noch immer Prediger bin! Aber ich komme zu dem Glauben, daß das Mist ist. Ich komme zu der Ansicht, daß die herumbrüllenden alten Reaktionäre die ehrlichen Liberalen viel mehr verderben, als die Liberalen den Hinterwäldlerverstand der Fundamentalisten erleuchten. Verflixt noch einmal, was bewirkt die Kirche denn überhaupt? Wozu überhaupt eine Kirche haben? Was hat sie denn für die Menschheit, was du nicht in weltlichen Quellen finden könntest – in Schulen, Büchern, Gesprächen?«

»Sie hat folgendes, Frank: Sie hat die einzigartige Persönlichkeit und die Lehre Jesu Christi, und es ist etwas an Jesus, es ist etwas an der Art, wie er geredet hat, es ist etwas an dem Gefühl eines Menschen, der mit einemmal jenes unausdrückbare Erlebnis hat, den Meister und seine Gegenwart zu erleben, das die Kirche Jesu von jeder anderen rein menschlichen Institution, von jedem anderen rein menschlichen Instrument unterscheidet! Jesus ist nicht bloß einfach größer und weiser als Sokrates oder Voltaire; er ist etwas ganz Anderes. Jedermann kann Sokrates oder Voltaire interpretieren und lehren – in Schulen, Büchern oder Gesprächen. Aber die Persönlichkeit und die Lehren Jesu zu interpretieren, dazu braucht es eine besonders berufene, auserwählte, erzogene, geweihte Körperschaft von Männern, die in einer besonderen Institution vereinigt sind – in der Kirche.«

»Phil, das klingt einfach fabelhaft. Aber was waren denn, praecise, die Persönlichkeit und die Lehren Jesu? Ich gebe ohne weiteres zu, es ist der Kern jeder Auseinandersetzung über die christliche Religion: abgesehen von der Tatsache, daß die meisten Leute natürlich an eine Kirche glauben, weil sie schon in sie hinein geboren wurden. Aber die wesentliche Frage ist: Hat Jesus – wenn die biblischen Berichte über ihn auch nur zur Hälfte genau sind – eine besonders edle Persönlichkeit gehabt, und waren seine Lehren besonders originell und tief? Du weißt, es ist fast unmöglich, die Menschen dazu zu bringen, daß sie die Bibel ehrlich lesen. Sie sind so dazu erzogen worden, die kirchliche Auslegung jedes Worts zu akzeptieren, daß sie in sie hineinlesen, was man sie in ihr finden gelehrt hat. So ist es auch mit mir gewesen, bis vor ein paar Jahren. Aber jetzt werd' ich zu einem Viertel frei, und zu meinem Entsetzen sehe ich, daß ich Jesus nicht für einen besonders bewunderungswürdigen Charakter halte!

»Er ist pittoresk. Er erzählt herrliche Geschichten. Er ist ein guter Mensch, ein Freund niedriger Gesellschaft – tatsächlich, der Gedanke, daß Jesus, den die Bischöfe seiner Tage als Wüstling und Weinsäufer verdammten, zum Gott der Prohibitionisten erwählt wurde, ist eine der komischesten Geschichtsverdrehungen. Aber er ist eitel, er lobt sich selbst über die Maßen, es macht ihm Freude, die Leute durch kleine Zaubertricks in Erstaunen zu setzen, die wir als ›Wunder‹ zu verehren gelehrt worden sind. Er wird wütend wie ein Kind, das einen Anfall hat, wenn die Leute ihn nicht als großen Führer anerkennen. Er verliert die Geduld. Er verflucht den armen unfruchtbaren Feigenbaum, der ihn nicht speist. Wie sieht der Verstand dieser Menschen eigentlich aus! Sie hören Prediger mit der Bibel die entgegengesetztesten Dinge beweisen: daß die römisch-katholische Kirche von Gott eingesetzt, und daß sie gegen alle göttlichen Verordnungen sei, und nie kommen sie auf den Gedanken, daß die christliche Religion – oder irgendeine andere Religion – weit entfernt davon, ein Segen für die Menschheit zu sein, eine derartige Verwirrung in allem Denken, derartig antiquierte Betrachtungen der aktuellen Geschehnisse verursacht hat, daß wir jetzt erst anfangen zu fragen, was und warum wir sind, und was wir mit dem Leben tun können!

»Ja, was sind denn die Lehren Christi? Ist er gekommen, mehr Frieden zu bringen oder mehr Krieg? Er sagt beides. Hat er irdische Reiche anerkannt oder gegen sie rebelliert? Er sagt beides. Hat er je – bedenke, Gott selbst, der Menschengestalt annimmt, um der Erde zu helfen – hat er je von hygienischen Vorschriften gesprochen, die Millionen Seuchen erspart hätten? Und du kannst nicht sagen, er hätte hier versagt, weil er zu erhaben gewesen sei, um an bloße Krankheiten zu denken. Im Gegenteil, er hatte sehr großes Interesse daran, heilte immer irgend jemand – vorausgesetzt, daß man seiner Eitelkeit genug schmeichelte.

»Was hat er gelehrt? An einer Stelle in der Bergpredigt lehrt er – wart, ich hol' meine Bibel – da ist es: ›Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen, und euren Vater im Himmel preisen‹, und dann sagt er fünf Minuten später: ›Habt acht auf eure Almosen, daß ihr die nicht gebt vor den Leuten, daß ihr von ihnen gesehen werdet; ihr habt anders keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel!‹ Das ist ein glatter Widerspruch, in dem einzigen Dokument, das die Gründungsurkunde der ganzen christlichen Kirche ist. Ach, ich weiß, du kannst die beiden Stellen miteinander in Einklang bringen, Phil. Das ist der ganze Zweck der geistlichen Ausbildung: uns Widersprüche in Einklang bringen zu lehren, indem man sagt, daß die eine der beiden Stellen nicht bedeutet, was sie bedeutet – und es ist immer wirksam, einzuwerfen: ›Sie würden es verstehen, wenn Sie es bloß im griechischen Originaltext läsen!‹

»Es gibt nur eines, das sich klar und unwidersprochen in Jesu Lehren hervorhebt. Er empfahl ein Wirtschaftssystem, nach dem niemand Geld sparen, Weizen aufstapeln oder überhaupt etwas anderes tun sollte, als wie ein Vagabund leben. Wäre diese seine Lehre akzeptiert worden, so würde die Welt zwanzig Jahre nach seinem Tod zugrunde gegangen sein!

»Nein, wart, Phil, nur noch eine Sekunde, und dann bin ich fertig!«

Er redete bis zur Dämmerung.

Als sie in dem kalten Grau auf den Stufen standen, war Franks letzter Protest:

»Was ich gegen die Kirche einzuwenden habe, ist nicht, daß die Prediger unmenschlich, heuchlerisch, wirklich verrucht sind, obwohl einige von ihnen es auch wirklich sind – bedenk doch, wie viele verhaftet werden wegen Verkaufs falscher Aktien, wegen Verführung vierzehnjähriger Mädchen in Waisenhäusern unter ihrer Obhut, wegen Brandstiftung oder Mord. Und es ist auch nicht so sehr, daß die Kirche im Bündnis mit dem Großkapital und mit Lehren ist, die von Millionären gegeben sind – obgleich viele Kirchen auch das wirklich sind. Mein Haupteinwand ist, daß neunundneunzig Prozent der Predigten und des Sonntagsschulunterrichts so tödlich langweilig sind!


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