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Elftes Kapitel

1

Elmer Gantry war achtundzwanzig Jahre alt, seit zwei Jahren reiste er für die Pequot Company.

Eggen und Harken und Sämaschinen; rotgestrichene Pflüge und goldgestreifte grüne Wagen; Kataloge und Bestellisten; durch Glaswände von dunklen Lagerräumen abgetrennte Kontore; hemdsärmelige Kaufleute auf hohen Stühlen vor hohen Pulten; die Kneipe an der Ecke; stickige kleine Hotels und Lunchlokale; das Warten auf Züge, die halbe Nacht durch, in schmutzigen Räumen auf Anschlußstationen; Züge, Züge, Züge; Züge, Fahrpläne und fröhliche Rückkehr in sein Hauptquartier in Denver; eine Trinkerei, ein Theater, Gottesdienst in einer großen Kirche.

Er trug einen gewürfelten Anzug, braune Glocke, gestreifte Socken, den großen Ring mit dem Opal und den goldenen Schlangen, den er sich vor langer Zeit gekauft hatte, geblümte Krawatten und, was er »Phantasiewesten« nannte – Kleidungsstücke aus Gelb mit roten Tupfen, grün mit weißen Streifen, aus Seide oder verwogenem Sämischleder.

Er hatte eine ganze Serie kleiner Liebschaften, von denen aber keine wichtig genug war, um dauern zu können.

Er war nicht erfolglos. Er war ein guter Sprecher, ein hervorragender Händeschüttler, auf sein Wort konnte man sich oft verlassen, und er hatte die meisten Preislisten und alle neuen schmutzigen Geschichten im Kopf. Im Bureau in Denver war er bei »den Jungs« beliebt. Er verfügte über eine unfehlbare »Nummer« – eine Predigtparodie. Man wußte, daß er studiert hatte, um Prediger zu werden, aber wacker zu dem Schluß gekommen wäre, dies sei keine Beschäftigung für einen »ganzen Kerl mit zwei Fäusten,« und daß er »den Profs Bescheid gesagt hätte, wo sie hingehörten.« Ein hoffnungsvoller und lobenswerter Bursche, der aller Voraussicht nach eines Tages Verkaufsdirektor sein würde.

Trotz allen Ausschweifungen hielt Elmer sich genügend im Training, um keinen Bauch zu bekommen und sich eine gute Haltung zu bewahren. Diakon Bains höhnische Bemerkung, daß er weich würde, hatte ihn entsetzt, er machte allmorgendlich in seinem Hotelzimmer ernsthafte Gymnastik; an den Abenden spielte er Kegel oder boxte in Y.M.C.A.-Turnhallen; wenn er in größeren Städten war, schwamm er feierlich in Bassins auf und ab wie ein weißer Delphin.

Er fühlte sich wohl und ebenso stark wie seinerzeit in Terwillinger.

Elmer war aber keineswegs glücklich.

Er wußte es zu schätzen, daß er frei war von den Seminargesetzen, frei von dem Schuldgefühl, das in der Seminarzeit auf seine Abenteuer in Monarch gefolgt war, frei von den unverständlichen Debatten zwischen Harry Zenz und Frank Shallard, doch er entbehrte das Vorsingen bei den alten Hymnen, den Klang seiner eigenen Stimme, das Gefühl seiner Macht, wenn er ein Auditorium mit seiner Predigt in Bann hielt. An allen Sonntagabenden ging er (wenn er nicht gerade ein Rendezvous mit einer Kellnerin oder einem Stubenmädchen hatte) in die seinem Hotel nächstgelegene evangelische Kirche. Es machte ihm Spaß, die Predigten fachmännisch zu kritisieren.

»Herr Gott, könnt' ich den armseligen Idioten nach Haus schicken! Bloß das Evangelium ist ja ganz gut, wenn er nur paar literarische Zitate reinbringen und mehr auf die Saloonwirte losgehen würde, könnt' er ihnen allen einheizen.«

Er sang so gewaltig, daß die Pfarrer ihm trotz einem gewissen Tabak- und Whiskygeruch, der von ihm ausging, immer die Hand mit besonderer Wärme drückten und sagten, daß sie sich freuten, den Bruder heute abend bei sich zu sehen.

Wenn er in wirklich erfolgreiche Kirchen kam, verwandelte sein Geschäftseifer sich in eine ausgesprochene Sehnsucht, zum Predigen zurückzukehren; er brannte danach, hinaufzutreten, den Geistlichen von seiner Kanzel zu stoßen und den Dienst zu versehen, statt einfach unbemerkt und unbewundert dort hinten zu sitzen, als ob er ein ganz gewöhnlicher Laie wäre.

»Diese Schafsköpfe würden schauen, wenn sie wüßten, was ich bin!« dachte er.

Nach derartigen Erlebnissen war es eine Qual, am Montagvormittag mit einem langweiligen Kaufmann über Rabatte auf Dungstreuer zu sprechen; es war zum Verzweifeln, in einer mit Spucknäpfen gefüllten Hotelhalle auf die Abfahrt des Zuges zu warten – statt in einem eleganten Kirchenbureau mit Büchern zu sitzen, hübschen Sekretärinnen Aufträge zu geben und sich vor Rat und Hilfe suchenden Sündern aufzublähen. Es war nur ein kleiner Trost für ihn, daß er ganz offen in jeden Saloon gehen und brüllen konnte: »Reinen Korn, Bill!«

Eines Sonntagabends kam er in einer Stadt in West-Kansas vor eine armselige kleine Kirche und las auf dem Anschlag draußen:

 

Heute morgen: Die Bedeutung der Erlösung
Heute abend: Ist das Tanzen vom Teufel?

ERSTE BAPTITSTENKRICHE

Pastor: Der Rev. Edward Fislinger, B.A., B.D.

 

»Ach Gott!« stöhnte Elmer. »Eddie Fislinger! In so 'nem Dorf mußte der ja landen! Der wird was von der Bedeutung der Erlösung oder irgend 'nem anderen Dogma wissen, dieses Murmeltier in Menschengestalt! Oder vom Tanzen! Wenn er mit mir in Denver gewesen war' und bei Billy Portifero mal 'ne Zehe hingelegt hätte, könnt' er drüber reden. Fislinger – muß derselbe Kerl sein. Ich werd' mich ganz vorn hinsetzen und ihm die Suppe versalzen!«

Eddie Fislingers Kirche war ein Achteck, mit der Kanzel in einer Ecke, ein Arrangement, das eine seltsame, ziemlich verwirrende Wirkung hervorbrachte. Innen war sie leuchtend gelb gestrichen, an den Wänden hingen viele Anschläge: »Mach deine Rechnung mit Gott«, »Wo willst du in der Ewigkeit sein?« und »Die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott.« Das Sonntagsschulprotokoll hinter der Kanzel gab Kunde davon, daß dem Unterricht heute einundvierzig beigewohnt hätten, gegen neununddreißig in der letzten Woche, und das Sammlungsergebnis sich auf neunundachtzig Cents beliefe, gegen nur siebenundsiebzig.

Elmer machte mit seinem gewürfelten Anzug großen Eindruck auf den Platzanweiser, einen Maurer mit sauberem Kragen, und wurde in die vorderste Reihe geführt.

Eddie errötete höchst erfreulich, als er von der Kanzel aus Elmer erblickte, setzte zu einer Verbeugung an, unterdrückte sie, blickte unbestimmt in die Richtung des Himmels und versuchte herablassend zu lächeln. Zu Beginn seiner Predigt war er nervös, schien aber dann auf den Gedanken zu kommen, daß seine Offensive gegen die Sünde – die bisher eine akademische, mechanische Angelegenheit ohne Beziehung auf eine bestimmte Person aus seiner schrecklich tugendhaften Herde gewesen war, zu etwas Wirklichem gemacht werden könnte. Mit seinem rührenden, eichhörnchenartigen Eifer sah er zu Elmer herab, und, was er sagte, war so gut wie eine Aufforderung an diesen, zum Teufel zu gehen und damit erledigt zu sein. Doch er besann sich eines Besseren und schloß mit der Bemerkung, daß Gott vielleicht sogar Elmer Gantry eine Gelegenheit geben könnte, wenn Elmer aufhörte zu rauchen, zu fluchen und gewürfelte Anzüge zu tragen. (Wenn er Elmer auch nicht namentlich erwähnte, durch giftige Blicke bezeichnete er ihn ganz genau.)

Elmer war wütend, dann betont unschuldig, schließlich gelangweilt. Er musterte die Kirche und zählte die Zuhörerschaft – siebenundzwanzig außer Eddie und dessen Frau. (Es stand ganz außer Frage, daß die junge Frau, die im vordersten Kirchenstuhl bewundernd aufblickte, Eddies Ehegemahl war. Sie hatte das erbärmlich verhungerte und hausgeschneiderte Aussehen einer Predigersfrau.) Als die Predigt zu Ende war, empfand Elmer Mitleid mit Eddie. Er sang die Schlußhymne »Er ist die Maienblume« mit schöner, salbungsvoller Anmut, stürzte sich mit Macht auf das jubilierende »Hallelujah« und wartete, um Eddie verzeihend die Hand zu drücken.

»Nanu, nanu, nanu,« sagten sie beide, und: »Was machst du in der Gegend?« Dann meinte Eddie: »Wart, bis alle gegangen sind – ich muß 'nen guten, schönen Tratsch mit dir haben, alter Junge.«

Als er mit den Fislingers zu dem einen Block entfernten Pfarrhaus ging und dann bei ihnen im Wohnzimmer saß, wollte Elmer wieder Prediger sein, Eddie seinen Posten wegnehmen und ihn gewandt versehen; aber die deprimierende Armseligkeit von Eddies Leben stieß ihn ab. Seine Hotelschlafzimmer waren schmierig genug, aber doch wenigstens frei von ewig fragenden Pfarrkindern, und mindestens ebenso komfortabel wie dieser Salon mit seiner regenfleckigen Decke, den kahlen Fichtendielen, den ausgesessenen Stühlen und dem beständigen Geruch nach feuchten Lappen. Es waren bereits – zwei Jahre nach Eddies Hochzeit – zwei Babies da, die aussahen, als ob sie nahezu ganz ohne Sünde empfangen worden wären; außerdem war eine Schwägerin mit völlig ausdruckslosem Gesicht da, welche die Kinder während des Gottesdienstes versorgte.

Elmer wollte rauchen und konnte sich trotz all seiner Übung in den ewigen Mysterien nicht entscheiden, ob es interessanter sein würde, Eddie durch Rauchen zu ärgern, oder ihn durch Enthaltsamkeit zu gewinnen.

Er rauchte und wünschte, er hätte es nicht getan.

Eddie bemerkte es, seine schnarrend sprechende Frau bemerkte es, die Schwägerin war starr vor Staunen, und alle drei bemühten sich vorzutäuschen, daß sie es nicht sähen.

Elmer kam sich bei ihnen groß, weltweise und wohlhabend vor, wie ein Citymakler, der bei einem Bauernvetter zu Besuch ist und sich überlegt, welche seiner Geschichten von goldenen Türmen simpel genug wäre, um geglaubt zu werden.

Eddie erzählte ihm die Neuigkeiten aus Mizpah. Frank Shallard hatte eine kleine Kirche in einer Stadt, die Catawba hieß und, vom Seminar aus gerechnet, am anderen Ende des Staates Winnemac lag. Wegen seiner Ordinierung hatte es einige Schwierigkeiten gegeben, denn er war sogar bei einer so klaren und erwiesenen Tatsache wie der jungfräulichen Geburt schwankend gewesen. Doch sein Vater und Dekan Tosper hatten sich für ihn verbürgt, und Frank war ordiniert worden. Harry Zenz hatte eine große Kirche in einer westvirginischen Minenstadt. Wallace Umstead, der Turnlehrer, »machte sich fein« in der Y.M.C.A. Professor Bruno Zechlin war tot, der arme Kerl.

»Was ist denn aus Horace Carp geworden?« erkundigte sich Elmer.

»Ja, das ist das Merkwürdigste von allem. Horace ist in die Episkopalkirche gegangen, wie er immer schon gesagt hat.«

»Ja, ja, was du da nicht sagst!«

»Jawohl, mein Lieber, sein Vater ist ganz kurz nach seiner Ordinierung gestorben, im Handumdrehen war er Anglikaner, hat ein Jahr im Generalseminar absolviert, und jetzt sagen alle, er macht sich recht gut, dabei ist er so natürlich hochkirchlich wie alle Ausgetretenen.«

»Na, du scheinst's hier ja ganz schön zu haben, Eddie. Nette Kirche.«

»Na ja, sie ist nicht gerade groß, aber es sind schrecklich gute Leute. Und alles geht ausgezeichnet. Ich hab die Mitgliederzahl nicht so sehr vergrößert, aber ich geb' mir ordentlich Mühe, die, die ich jetzt hab', im Glauben zu stärken, und dann, wenn ich merk', daß jeder von denen ein Inspirationszentrum ist, dann werd' ich so weit sein, mit einer evangelischen Campaign anfangen zu können, und du wirst sehen, daß sich die alte Kirche schneller rausmacht – jawohl, mein Lieber – ganz einfach über Nacht verdoppelt … Wenn sie sich nur nicht so viel Zeit ließen, das Gehalt und die Steuer zu bezahlen … Gute, anständige Leute, richtig gerettet, aber das Geld halten sie doch bißchen fest.«

»Wenn Sie sehen könnten, wie mein Herd demoliert ist, und wie der Ausguß einen neuen Anstrich braucht«, sagte Mrs. Fislinger – das war ihre Hauptbemerkung an diesem Abend.

Elmer kam sich wie ein Gefangener vor und glaubte ersticken zu müssen. Er floh. An der Tür hielt Eddie ihn an beiden Händen und bat: »Ach, Elm, ich werd' dich nie aufgeben, bis ich dich zurückgebracht hab'! Ich werd' beten. Ich hab' dich bei der Bekehrung gesehen. Ich weiß, was du kannst!«

Frische Luft, ein trotziger Trunk Korn, lautes Lachen, ein Eisenbahnzug – an alle dem hatte Elmer nach dieser Dumpfheit Freude. Schon besaß Eddie nicht mehr das fromme Feuer, das er einst in der Y.M.C.A. gezeigt hatte, schon war er alt, behäbig geworden, hatte kein Abenteuer vor sich, wartete auf den Tod.

Doch Eddie hatte gesagt –

Zusammenzuckend besann er sich darauf, daß er noch immer Baptistengeistlicher war! Aller Opposition Trospers zum Trotz konnte er predigen. Mit abergläubischem Unbehagen hörte er noch einmal Eddies Beschwörung: »Ich werd' dich nie aufgeben, bis ich dich zurückgebracht hab'.«

Und – ganz einfach Eddies Kirche zu nehmen und zu zeigen, was er damit anfangen könnte 1 Bei Gott, er würde diese Bauernschädel schon rumkriegen und zum Zahlen bringen!

Er jagte quer durch den Staat, seine Mutter aufzusuchen.

Seine Schmach in Mizpah hatte sie, wie sie sagte, fast getötet. Voll banger Hoffnung hörte sie nun sein Versprechen, daß er vielleicht, wenn er die Welt gesehen und sich die Hörner abgelaufen hätte, wieder in den Dienst zurückkehren würde. In frommer Stimmung (die ihn glücklicherweise nicht daran hinderte, sich wichtige Kreditinformationen zu verschaffen, indem er einen Buchhalter betrunken machte) kam er nach Sautersville, Nebraska, einer häßlichen, unternehmenden Industriestadt mit zwanzigtausend Einwohnern. Und in dieser frommen Laune sah er die Plakate einer Evangelistin, einer gewissen Sharon Falconer, einer Prophetin, von der er bereits gehört hatte.

Vom Hotelsekretär und den Farmern im Gerätemagazin erfuhr er, daß Miss Falconer mit Unterstützung der meisten protestantischen Kirchen in der Stadt in einem Zelt Union-Meetings abhielt; sie versicherten ihm, daß sie schön und beredt sei, daß sie eine stattliche Anzahl von Hilfskräften mit sich führe, daß sie das »Großartigste, was jemals in diesen Flecken gekommen ist«, sei, daß man sie mit Moody, mit Gipsy Smith, mit Sam Jones, J. Wilbur Chapman vergleichen könne, und mit diesem neuen Baseball-Evangelisten, dem Billy Sunday.

»Das ist Unsinn. Keine Frau kann das Evangelium predigen«, erklärte Elmer als Fachmann.

Doch er besuchte noch an diesem Abend Miss Falconers Meeting.

Das Zelt war ungeheuer groß; es mußte dreitausend Leute auf Sitzplätzen fassen, und weitere tausend konnten stehend untergebracht werden. Es war nahezu voll, als Elmer kam und sich majestätisch mit den Ellbogen seinen Weg nach vorn bahnte. An der Frontseite des Zeltes stand ein merkwürdiger Aufbau, ganz anders als die Tribünenkanzel mit der amerikanischen Flagge der Durchschnittsevangelisten. Es war eine pyramidenähnliche Konstruktion aus weißem Holz mit vergoldeten Kanten, die drei Tribünen hatte; eine für den Chor, weiter oben eine mit einer Sitzreihe für die Ortsgeistlichkeit; und an der Spitze eine kleine Tribüne mit einer Kanzel, die Muschelform hatte und in den Regenbogenfarben bemalt war. Rosen und Wein bedeckten sie über und über.

»Heiliger Strohsack! Richtige Zirkusausstattung! Genau, was von einer verrückten Evangelistin zu erwarten ist!« war Elmers Urteil.

Die oberste Tribüne war noch leer; wahrscheinlich hatte sie die Bestimmung, die Reize der Miss Sharon Falconer zur Geltung zu bringen.

Der gemischte Chor, in Talaren und viereckigen Baretten, sang: »Werden wir am Fluß vereint?« Ein junger Mann, schlank, zu hübsch, mit zu geschweiftem Mund, mit Priesterweste und umgekehrtem Kragen, las an einem Pult auf der zweiten Plattform aus der Bibel vor. Er war Oxforder, und Elmer hatte fast noch nie einen Engländer vorlesen hören.

»Hu! 'N Zierbengel ist er, und weiter nichts! Die Gesellschaft wird nicht weit kommen. Zu viel Röcke. Kein Mumm. Kein gutes altes Evangelium, mit dem man die Kunden anlocken kann«, spottete Elmer.

Eine Pause. Alles wartete ein wenig unbehaglich. Die Augen wanderten hinauf zur obersten Tribüne. Elmer riß den Mund auf. Aus einem Raum hinter der Tribüne kommend, ganz langsam herauskommend, erschien, die schönen Arme ihnen entgegengestreckt, eine Heilige. Sharon Falconer war jung, bestimmt noch unter dreißig, majestätisch, schlank und hoch; in dem langen schmalen Gesicht, den schwarzen Augen, dem Glanz des schwarzen Haares barg sich Verzückung oder heiße Leidenschaft. Die Ärmel ihres schlichten weißen Gewandes, das ein rubinroter Samtgürtel zusammenfaßte, waren geschlitzt und fielen von ihren Armen zurück, als sie alle an sich zog.

»Gott!« betete Elmer Gantry, und in diesem Augenblick bekam sein planloses Leben einen Plan und ein festes Ziel. Er mußte Sharon Falconer haben.

Ihre Stimme war warm, etwas belegt, unglaublich lebendig.

»Oh meine Lieben, meine Lieben, ich will heute abend nicht predigen – wir alle sind es so müde, unaufhörlich zu predigen, daß wir brav und gut sein sollen! Ich will euch nicht erzählen, daß ihr Sünder seid, denn wer unter uns ist es nicht? Ich will euch nicht die Schrift erklären. Wir alle haben es satt, die Bibel von müden alten Männern in nasalem Ton erklärt zu hören! Nein! Wir wollen die goldenen Schriftzüge suchen, die in unsere Herzen geschrieben sind, wir wollen miteinander singen, miteinander lachen, miteinander fröhlich sein wie muntere Bächlein im April, fröhlich sein und frohlocken, daß in uns der wahrhaftige Geist des ewig währenden, erlösenden Christus Jesus lebt!«

Elmer hatte keine Ahnung, was das für Worte waren, oder was sie bedeuten sollten – wenn überhaupt jemand eine Ahnung davon hatte. Das alles war kosende Musik für ihn, und am Ende, als sie über die geschweiften, mit Blumengewinden geschmückten Stufen zur untersten Plattform hinunterlief, ihre Arme ausstreckte und alle beschwor, den Frieden des Heils zu suchen, mußte er mit den Bekehrten nach vorn und in der zuckenden Reihe unter dem Segen ihrer ausgestreckten Hände niederknien.

Aber er war nicht in mystische Ekstase versenkt, er war der Kritiker, der wohl von der Aufführung bewegt war, aber ganz genau wußte, daß er seine Besprechung in die Zeitung bringen müßte.

»Das ist die Gesellschaft, die ich gesucht habe! Hier könnt' ich's zu was bringen! Was der englische Prediger kann, kann ich schon lange. Und Sharon – ach, ist die süß!«

Sie ging die Reihe der Bekehrten und fast Bekehrten entlang, legte ihnen ihre leuchtenden Hände auf den Kopf. Seine Schultern bebten im Bewußtsein ihrer Nähe. Als sie zu ihm kam und ihn aufforderte, mit ihrer erregenden Stimme: »Bruder, wollen Sie nicht die Seligkeit in Jesus finden?« beugte er sich nicht tiefer, wie die anderen, schluchzte nicht, sondern sah voll Munterkeit direkt zu ihr auf und suchte ihren Blick zu fangen, während er flötete: »Es ist schon Seligkeit, nur Ihre wunderbare Botschaft empfangen zu haben, Schwester Falconer!«

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, sie erblaßte und ging sofort weiter.

Er kam sich geohrfeigt vor. »Ich werd' ihr noch zeigen!«

Er trat zur Seite, als die Menschenmenge hinausschwankte. Er fing ein Gespräch mit dem feinen jungen Engländer an, der den Schrifttext verlesen hatte – es war Cecil Aylston, Sharons erster Assistent.

»Eine kolossale Freude für mich, daß ich heute abend hier bin, Bruder«, plapperte Elmer. »Ich bin zufällig selber Baptistenprediger. Ein herrliches Meeting! Und Sie haben den Text einfach begeisternd gelesen.«

Cecil Aylston musterte mit einem raschen Blick Elmers gewürfelten Anzug und die Phantasieweste, dann sagte er: »Oh. Wirklich? Ausgezeichnet. Sehr lieb von Ihnen, tatsächlich. Wenn Sie mich freundlichst entschuldigen wollen?« Es vermehrte auch keineswegs Elmers Sympathien, daß Aylston ihn wegen einer der Allermindesten von den Wartenden stehen ließ, wegen eines alten Weibes mit einem zerbrochenen, herunterhängenden Strohhut.

Elmer tat Cecil Aylston ab: »Zum Teufel mit ihm! Den werden wir bald los sein! Einen Mann wie ich, mich läßt er abfahren, und dann übertreibt er noch so, daß er sich ganz überflüssigerweise mit einer Alten abgibt, die wahrscheinlich schon gerettet ist und, weiß der liebe Himmel, nicht einmal mit einer ganzen Waggonladung Gin abtrünnig gemacht werden könnte! Damit bist du erledigt, mein junger Freund! Und mein gewürfelter Anzug gefällt dir auch nicht. Freilich, ich kauf mir ganz bestimmt meine Kleider nur, um's dir rechtzumachen, selbstverständlich!«

Er wartete und hoffte noch eine Gelegenheit zu finden, mit Sharon Falconer zu sprechen. Auch andere warteten. Sie winkte ihnen allen mit der Hand, schenkte ihnen ihr großartiges Lächeln, rieb sich die Augen und bat: »Wollt ihr mir verzeihen? Ich seh' schon gar nichts mehr, so müd bin ich. Ich muß mich ausruhen.« Sie verschwand in die Mysterien hinter der prunkvollen goldweißen Pyramide.

Selbst jetzt, da sie vor Müdigkeit wankte, war ihr Ton nicht nachlässig; er war erfüllt von jener dämmernden Leidenschaft, die Elmer noch mehr gefangen hatte als ihre Schönheit … »Ich hab' noch nie eine Dame wie die gesehen,« überlegte er, als er langsam in sein Hotel zurückging. »Das Gesicht ist bißchen mager. Sonst ist mir's ja rundlich lieber. – Und doch – Herr Gott! ich könnt' mich in sie verlieben, wie ich mich noch nie in meinem Leben in wen verliebt hab' … So dem dreckigen Engländer gefallen meine Kleider nicht! Sind ihm wohl zu auffallend. Na, von mir aus kann er sie sich auf den Hut stecken! Hat sonst noch wer was gegen meine Kleider?«

Das schlummernde Universum antwortete nicht, er war fast zufrieden. Und am nächsten Morgen um acht Uhr – Sautersville besaß einen ausgezeichneten, von den Messrs. Erbsen und Goldfarb geführten Kleiderladen – um acht Uhr war Elmer dort und erstand einen bescheidenen zweireihigen braunen Anzug und drei prächtige, aber einfache Krawatten. Er hetzte Mr. Goldfarb und erreichte, daß die Änderungen um halb zehn fertig waren, um zehn Uhr schlich er großartig vor dem Erweckungszelt herum … An diesem Tag hätte er in die nächste Stadt weiterfahren sollen.

Sharon erschien erst um elf Uhr, um ihren Mitarbeiterinnen einen Vortrag zu halten; mittlerweile jedoch stürzte Elmer sich in eine Bekanntschaft mit Art Nichols, einem hageren Yankee, der früher Barbier gewesen war und jetzt in dem drei Mann starken Orchester, das Sharon mit sich führte, Piston und Waldhorn blies.

»Ja, es ist ja ein ganz gutes Geschäft«, sagte Nichols langsam. »Besser als Barbieren und besser als die Jahrmarktsgeschichten – oh, ich bin ein richtiger Komödiant; hab' in Buden gespielt – das hier ist leichter. Keine Straßenumzüge, und außerdem tun wir wohl ziemlich viel Gutes, Seelen retten und so weiter. Nur scheinen diese frommen Leute noch mehr miteinander zu streiten als Künstler.«

»Wohin geht Ihr von hier?«

»In fünf Tagen machen wir Schluß, dann sammeln wir ein, hauen ab von da und springen rüber nach Lincoln, Nebraska; dort fangen wir dann drei Tage später an. Richtiger Katzensprung – wir kriegen nicht mal 'nen Pullman – fahren von hier im gewöhnlichen Personenwagen um elf Uhr abends weg und kommen um eins in Lincoln an.«

»Sonntag abend fahrt Ihr weg, so? Komisch. Ich werd' im gleichen Zug sein. Muß selber auch nach Lincoln.«

»Na also, dann können Sie dort ja auch zu uns kommen. Beim ersten Meeting spiel' ich immer ›Jerusalem, du Goldene‹ auf dem Piston. Das schmeißt sie alle um. Da sagen sie immer, daß nur das Salbadern die Sünder in Schuß bringt und hereinlockt, aber glauben Sie das nicht – die Musik macht's. Wissen Sie, ich kann mit meinem E-moll-Piston mehr dreckige Sünder zum Heulen bringen, als neun Evangeliumskünstler, die sich gleichzeitig die Lunge herausreden!«

»Ich glaub's gern, daß Sie das können, Art. Hören Sie, Art – ich bin ja selber auch Prediger, nur vorübergehend geschäftlich tätig, während ich alles für eine neue Stellung vorbereite.« Art machte eine Miene, als dächte er nicht daran, Geld herzuleihen. »Aber ich glaub' den ganzen Unsinn nicht, daß man sich nie amüsieren darf; Paulus hat ja auch gesagt, man soll ein bißchen Wein für seinen Magen nehmen; die Stadt hier ist trocken, aber ich komm' noch vor Sonnabend in eine nasse, und wenn ich 'ne Flasche Korn in der Tasche hätt' – wie wär' das?«

»Na, ich hab' meinen Magen schrecklich gern – und tu' auch gern was für ihn!«

»Was für'n Mensch ist denn der Engländer? Wohl die rechte Hand von Miß Falconer.«

»Ach, der ist ein ganz feiner Kerl, aber mit uns Jungens scheint er nicht auszukommen.«

»Hat sie ihn gern? Wie heißt er?«

»Cecil Aylston heißt er. Ach, Sharon hat ihn zuerst ja 'ne Weile gemocht, aber 's soll mich nicht wundern, wenn sie jetzt seine Superklugheit satt hat, und seine Art, nie gemütlich zu werden.«

»Na, ich muß Miß Falconer eine Sekunde sprechen. Freut mich, Sie kennen gelernt zu haben, Art. Auf Wiedersehen Sonntag abend im Zug.«

Sie hatten vor einem der zwölf Zelteingänge gesprochen. Elmer beobachtete Sharon Falconer, als sie rasch ins Zelt trat. Jetzt war sie keine Hohepriesterin im griechischen Gewand, sondern eine Geschäftsfrau mit Strohhut, grauem Kostüm, weißer Hemdbluse, Leinenmanschetten und Kragen. Nur eine blaue Schleife und das edelsteinbesetzte Kreuz an ihrer Uhrkette unterschieden sie von den Frauen in Bureaux. Doch Elmer, der jede Einzelheit an ihr sammelte wie ein Nuggets zusammenkratzender Goldgräber, wußte jetzt, daß sie nicht flachbrüstig war, wie es in dem weiten Gewand ausgesehen hatte.

Sie sprach zu den »persönlichen Arbeiterinnen«, den jungen Frauen, die freiwillig in den Hütten Gebetsandachten abhielten und von Haus zu Haus gingen, um eventuelle geistliche Kundschaft zu interessieren.

»Meine lieben Freundinnen, ich bin ja sehr froh, daß Ihr alle betet, aber es kommt eine Zeit, in der man auch noch ein bißchen Sohlenleder dran setzen muß. Während Ihr Euch nach dem Reich sehnt – hat der Teufel seine sehnsuchtsvollen Nächte, und bei Tag schießt er herum, um die Leute aufzusuchen und mit ihnen zu reden! Schämt Ihr Euch, hineinzugehen und die Leute aufzufordern, sie mögen zu Christus kommen – oder wenigstens zu unseren Meetings kommen? Ich bin durchaus nicht zufrieden. Durchaus nicht, meine lieben jungen Freundinnen. Meine Tabellen zeigen, daß im südöstlichen Bezirk von drei Häusern immer nur eines besucht worden ist. Das wird nicht genügen! Ihr müßt den Gedanken loswerden, daß der Dienst des Herrn ein nettes Spiel ist, wie Osterlilien auf den Altar zu stellen. Hier bleiben nur noch fünf Tage, und Ihr seid noch nicht aufgewacht und an die Arbeit gegangen. Ich will auch keine Dummheiten hören, wie daß Ihr zaudert, die Leute um Geld anzugehen, und sie ordentlich anzugehen! Wir können nicht die Miete für dieses Grundstück, die Beleuchtung, den Transport und die Gehälter von diesen vielen Leuten, die ich mit mir führe, nur so aus der Luft bezahlen! Also Sie – Sie hübsches Mädel dort mit dem roten Haar – mein Gott! Ich wollte, ich hätt' solches Haar! – was haben Sie getan, wirklich und ernsthaft getan, in der letzten Woche?«

Nach zehn Minuten hatte sie alle so weit, daß sie weinten und darauf brannten, hinauszulaufen und Seelen und Dollars hereinzubringen.

Sie wollte aus dem Zelt gehen, da stolzierte Elmer heran und stürzte mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

»Schwester Falconer, ich möchte Ihnen zu Ihren wunderbaren Meetings gratulieren. Ich bin Baptistengeistlicher – der Reverend Gantry.«

»Ja?« sehr scharf. »Wo ist Ihre Kirche?«

»Also, äh, im Augenblick hab' ich gar keine Kirche.«

Sie betrachtete sein gesundes, geschniegeltes Aussehen, den Tabaksgeruch; ihre strahlenden Augen hatten ihn zu Ende gemustert, sie fragte:

»Was ist diesmal los? Alkohol oder Weiber?«

»Aber, das ist ein glatter Irrtum! Ich bin ganz überrascht, daß Sie so sprechen, Schwester Falconer! Ich bin durchaus in Ordnung! Es ist nur – ich widme mich eine Zeitlang dem Geschäft, um verstehen zu lernen, wie der Geist des Laien arbeitet, bevor ich in meinem Dienst fortfahre.«

»Hm. Das ist ja großartig. Na, meinen Segen haben Sie, Bruder! Wollen Sie mich jetzt entschuldigen? Ich habe eine Zusammenkunft mit dem Ausschuß.«

Sie warf ihm ein unfreundliches Lächeln zu und lief davon. Er kam sich begossen, tölpelhaft, unsagbar albern vor, aber er fluchte: »Der Teufel soll dich holen, ich krieg' dich, und wenn du ganz in deine Geschäfte und deine verdammte Wichtigtuerei eingewickelt bist, und dann werd' ich schon Leben in dich bringen, mein Mädel!«

2

Er mußte in fünf Tagen die Arbeit von neun Tagen tun, neun Städte besuchen, aber er war am Sonntag abend wieder in Sautersville, er war im Elfuhrzug nach Lincoln – in seinem neuen braunen Anzug.

Sein Interesse für Sharon Falconer war zu zitternder Leidenschaft geworden, der ersten wirklichen Leidenschaft in seinem Leben.

Es war zu spät am Abend für einen großen Abschied, aber mindestens hundert Brüder und Schwestern waren auf dem Bahnhof, sangen »Gott leite dich, bis wir einander wiedersehen« und drückten Sharon Falconer die Hand. Elmer sah seinen pistongewaltigen Yankeefreund, Art Nichols, bei den übrigen von der Evangelistenmannschaft stehen – da war der Assistent Cecil Aylston, der fette, sentimentale Tenorsolist, die Pianistin, der Geiger, der Kinderevangelist und die Direktrice für persönliche Arbeit. (Der Pressechef, dieser wichtige Mitarbeiter, war in Lincoln und bereitete alles für die Ankunft des Herrn vor.)

Sie boten das Bild einer verschlafenen Theatertruppe, wie sie da auf ihren Koffern herumsaßen und die Einfahrt des Zuges erwarteten, und ganz wie Komödianten sahen sie erschreckend anders aus als in ihren Bühnenrollen. Die blutarme hübsche Pianistin, die für die Öffentlichkeit seraphische Silbergewänder trug, war jetzt ganz einfach ein Kleinstadtmädchen in zerdrücktem blauen Serge; die Direktrice für persönliche Arbeit, die in ihrer Leinenkutte wie eine Nonne ausgesehen hatte, war in keckes, schwarz gerändertes Rot gekleidet und schenkte den verliebten Blicken des deutschen Geigers mehr Aufmerksamkeit als den Abschiedshymnen. Der Reverend Cecil Aylston gab einem Hoteldiener Aufträge wegen des Gepäcks, mehr in der Art eines Unterquartiermeisters als eines Oxforder Mystikers.

Sharon selbst war in strahlendem Weiß der Magnet für sie alle. Ein dicker, bärtiger Presbyterianer-Geistlicher summte um sie herum und hielt ihren Arm in mehr als frommem Eifer fest. Sie lächelte ihn an (zu Elmers Wut), sie lächelte ebenso den Prediger der »Jünger« an, sie drückte mit Wärme alle Hände und lauschte zärtlich jedem Ruf »Gelobt sei Gott, Schwester!« Aber ihre Augen sahen müde aus, und Elmer bemerkte, daß sie die Lippen hängen ließ, als sie sich von ihren Verehrern abwandte. Ganz jung sah sie da aus, abgespannt und schutzlos.

»Armes Ding!« dachte Elmer.

Kreischend, mit flimmernden Lichtern, kam der Zug herein, die Truppe tummelte sich mit ihren Koffern. »Adieu – Gott segne Sie – Gott helfe bei Ihrer Arbeit!« schrien alle … alle außer dem Kongregationalistengeistlichen, der verdrossen am Rande der Menge stand und einem Pfarrkind erklärte: »So, jetzt macht sie sich davon, nach sechs Wochen Arbeit, für sich allein mit so viel Geld, daß unsre ganze Kirche zwei Jahre damit auskommen könnte!«

Elmer stellte sich neben seinen musikalischen Freund Art Nichols, und als sie in den Wagen hinaufsprangen, murmelte er: »Art! Art! Ich hab' Ihre Magenmedizin da!«

»Fein!«

»Hören Sie. Passen Sie mal auf. Richten Sie's so ein, daß Sie neben Sharon sitzen. Dann gehen Sie ziemlich bald raus, um zu rauchen –«

»Sie hat's nicht gern, wenn man raucht.«

»Sie brauchen's ihr ja nicht zu sagen! Gehen Sie raus, damit ich mich hinsetzen und bißchen mit ihr reden kann. Eine wichtige geschäftliche Sache! Wegen – eine feine neue Stadt für ihre evangelistische Arbeit. Da: stecken Sie das in die Tasche. Und in Lincoln werd' ich noch mehr für Sie auftreiben. Jetzt los, und gehen Sie mit ihr hinein.«

»Schön, ich werd's versuchen.«

In dem finsteren, übel riechenden Wagen, der heiß und überfüllt war – Frauen, deren Mieder unter dem angestrengten Atmen knarrten, Bauern, die in Hemdsärmeln schnarchten – stand Elmer hinter der Bank, auf der die Schultern Art Nichols sich wie ein dunkler Fleck abhoben und ein weißes Leuchten zeigte, wo Sharon Falconer saß. Für Elmer schien sie das Universum in Flammen zu setzen. Sie war so köstlich, Zoll für Zoll; er hatte nicht geahnt, daß ein menschliches Wesen so köstlich und zauberhaft sein könnte. In ihrer Nähe zu sein, war begeisternd genug … fast begeisternd genug.

Sie redete nicht. Er hörte nur Art Nichols näseln: »Was meinen Sie dazu, wenn wir paar von diesen Niggersongs verwenden würden?« und ihre schläfrige Antwort: »Ach, heute wollen wir nicht mehr drüber reden.« Dann sagte Art bald: »Ich will mal raus auf die Plattform und bißchen Luft schnappen«, und der heilige Platz neben ihr war frei für den aufgeregten Elmer.

Sehr nervös schlüpfte er hin.

Sie war ganz in sich zusammengesunken, setzte sich aber auf, starrte ihn im trüben Licht an und sagte mit einer ernsten Höflichkeit, die ihn mehr wegwies als jede Grobheit: »Es tut mir sehr leid, aber dieser Platz ist besetzt.«

»Ja, ich weiß, Schwester Falconer. Aber der Wagen ist überfüllt, ich will mich nur niedersetzen und ausruhen, solang Bruder Nichols wegbleibt – das heißt, wenn Sie mir's erlauben. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Ich bin – ich hab' Sie vor dem Zelt in Sautersville kennengelernt. Reverend Gantry.«

»Ach«, ganz gleichgültig. Dann rasch: »Ach ja, Sie sind der Presbyterianergeistliche, der wegen Trinken geflogen ist.«

»Das ist ganz und gar –!« Er sah, daß sie ihn beobachtete, und merkte, daß sie weder ihr heiliges, noch ihr tüchtiges Wesen hatte, sondern ein ganz neues, privates, spottlustiges Wesen. Entzückt fuhr er fort: »– ganz und gar nicht richtig. Ich bin der Mann von der Christian Science-Kirche, der geflogen ist, weil er am Sabbat die Chordirigentin geküßt hat.«

»Ach, das war aber leichtsinnig von Ihnen!«

»Sie sind also wirklich ein Mensch?«

»Ich? Du lieber Himmel, ja! Nur zu sehr Mensch.«

»Und Sie sind's müde?«

»Was?«

»Die große Miss Falconer zu sein, die, wenn sie sich eine Zahnbürste kaufen will, in keine Drogerie gehen kann, ohne daß der Kommis brüllt: ›Gelobt sei Gott, wir haben ein paar ausgezeichnete Patent-Zahnbürsten, hallelujah!‹«

Sharon kicherte.

»Und sind es müde«, seine Stimme war jetzt einlullend, »daß Sie's nie wagen dürfen, müde zu sein, wie heute abend, und daß Sie niemand haben, an den Sie sich lehnen können!«

»Ich vermute, mein lieber ehrwürdiger Bruder, daß das ein freundliches Anerbieten ist, ich möchte mich an Sie lehnen!«

»Nein. So unverschämt könnt' ich nicht sein! Ich hab' eine Todesangst vor Ihnen. Sie haben nicht nur Ihre Schönheit – nein! bitte lassen Sie sich von mir sagen, wie ein geistlicher Kollege Sie sieht – und Ihre wunderbare Tribünenerscheinung, ich glaube, Sie haben auch Verstand.«

»Nein, den hab' ich nicht. Gar kein Verstand. Alles Gefühl. Das ist das Malheur mit mir.« Das klang jetzt ganz wach, und auch freundlich.

»Aber denken Sie doch an alle Seelen, die Sie zur Reue geführt haben. Das macht doch was aus, nicht?«

»O ja, ich glaub' schon, daß – ach, natürlich macht's etwas aus. Es ist das einzige, was zählt. Nur – sagen Sie mir: Was ist wirklich mit Ihnen los? Warum sind Sie nicht in der Kirche?«

Sehr ernst: »Ich war Senior im Mizpah-Seminar für Theologie, hatte aber schon meine eigene Kirche. Da hab' ich mich in ein Mädel verliebt. Ich will nicht sagen, daß sie mich geködert hat. Trotz allem, die Folgen seiner eigenen Dummheit muß man auf sich nehmen. Freilich hat sie – oh, es hat ihr Spaß gemacht, zu sehen, daß ein junger Geistlicher ihretwegen ganz verrückt wird. Sie war so hübsch! Fast so wie Sie, nur nicht so schön, nicht annähernd so schön, und sie hat immer so getan, als ob sie ganz verrückt nach geistlicher Arbeit wäre – das war's, was mich eingewickelt hat. Also. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Wir waren verlobt, ich dachte an nichts anderes als an sie und unser gemeinsames, der Arbeit des Herrn geweihtes Leben, als ich eines Abends hinkam, und da war sie in den Armen eines anderen! Das hat mich so schwer getroffen, daß ich – Ach, ich hab's versucht, aber ich konnt' ganz einfach nicht weiterpredigen, und so hab' ich's für eine Weile aufgegeben. Und als Geschäftsmann ist mir's gut gegangen. Aber jetzt bin ich bereit, die einzige Arbeit wieder aufzunehmen, die mich immer interessiert hat. Deshalb wollt ich auch im Zelt mit Ihnen reden. Ich hab' ihr weibliches Mitgefühl ebenso sehr gebraucht wie Ihre Erfahrung – und Sie haben mich zurückgewiesen!«

»Oh, das tut mir sehr, sehr leid!« Ihre Hand streichelte seinen Arm.

Cecil Aylston kam und betrachtete sie ohne alle Frömmigkeit.

Als sie Lincoln erreichten, hielt Elmer sie bei der Hand und sagte: »Sie armes, liebes, müdes Kind!« Und: »Wollen Sie mit mir frühstücken? Wo wohnen Sie in Lincoln?«

»Jetzt hören Sie mal, Bruder Gantry –«

»Elmer!«

»Ach, machen Sie sich nicht lächerlich! Weil ich so abgerackert bin, daß es mir hübsch vorkommt, ein menschliches Wesen zu spielen, deshalb dürfen Sie noch nicht versuchen –«

»Sharon Falconer, wollen Sie aufhören, ein Dummkopf zu sein? Ich bewundere Ihr Genie, Ihre wundervolle Arbeit für Gott, aber gerade weil Sie zu groß sind, um eine gewöhnliche Evangeliumstrompete zu sein, bewundere ich Sie von Minute zu Minute mehr. Sie wissen recht gut, daß Sie sehr gern eine Zeitlang einfach, und vielleicht noch mehr als einfach sind. Und jetzt sind Sie viel zu schläfrig, um zu wissen, ob ich Ihnen sympathisch bin oder nicht. Deshalb möcht' ich, daß wir uns zum Frühstück treffen, wenn der Schlaf aus Ihren wunderbaren Augen wieder draußen –«

»Hm. Das klingt ja alles ganz ehrlich außer der letzten Phrase, die haben Sie sicher schon früher mal verwendet. Sie können's ruhig wissen, Sie sind mir sympathisch! Sie sind so restlos unverschämt, so restlos skrupellos und so wohltuend ungebildet! Ich war in der letzten Zeit zu viel mit frömmelnden Leuten zusammen. Und es ist auch interessant zu sehen, daß Sie wirklich glauben, Sie können mich einfangen. Sie sind ein komischer Kerl! Ich wohne im Antler-Hotel in Lincoln – übrigens, es hat gar keinen Sinn, daß Sie versuchen, ein Zimmer neben meinen Räumen zu bekommen, weil ich tatsächlich das ganze Stockwerk genommen hab' – ich erwarte Sie dort morgen um halb zehn zum Frühstück.«

3

Obgleich er nicht gut geschlafen hatte, war er früh auf und bei seiner Toilette; er rasierte sich, polierte seine derbe Hübschheit mit Fliederwasser und Talkumpuder auf; er machte sich die Nägel, in kurzem Unterzeug dasitzend, während er auf seinen neuen Anzug wartete, den er zum Bügeln hinuntergeschickt hatte. Der neue Zweck in seinem Leben, das bis vor kurzem so sinnlos gewesen war, machte seinen kecken Blick lebendig und seine starken Muskeln elastisch, während er durch die Gold- und Marmorhalle des Antler-Hotels schritt und Sharon an der Restaurationstür erwartete. Frisch, in einem blaugeränderten weißen Leinenkleid kam sie herunter. Als sie sich trafen, lachte sie und hieß so die Kameradschaft in der Torheit gut. Munter nahm er ihren Arm, führte sie an den erzitternden Kellnerinnen vorbei, die über die Ankunft der berühmten Gottesfrau ganz aus dem Häuschen waren, und bestellte sachverständig.

»Ich hab' eine großartige Idee«, sagte er. »Ich muß heute nachmittag schon fort, aber Freitag bin ich wieder in Lincoln; wie wär' es, wenn Sie bekannt geben würden, daß ich bei Ihrem Meeting als geretteter Geschäftsmann eine Ansprache halten werd', und wenn ich dann am Freitag abend eine halbe Stunde oder so über Christi guten, nüchternen, praktischen Wert, in Dollars und Cents, im Handelsleben sprechen würde?«

»Sind Sie ein guter Redner?«

»Eine große Nummer.«

»Ja, das scheint eine ganz gute Idee zu sein. Schön, machen wir's. Übrigens, was ist denn Ihr Geschäft eigentlich? Eisenbahnräuberei?«

»Ich bin der erste Verkäufer der Pequot-Farmgeräte Company, Sharon, und wenn Sie mir's nicht glauben –«

»Ach, ich glaub's schon. [Sie hätte es nicht glauben sollen.] Ich bin überzeugt, daß Sie die Wahrheit sprechen – öfters. Natürlich werden wir nichts davon sagen, daß Sie Geistlicher sind, wenn nicht jemand drauf besteht zu fragen. Wie wär denn folgendes als Thema: ›Geschäftserfolg durch eine Gideon-Bibel?‹

»Ja, das kann fein werden! Wie ich in irgendeinem Bauernnest war, fürchterliches Wetter, Schnee und Regen und alles – finsterer Himmel, es hat ausgesehen, als würde die Sonne nie wieder scheinen – die Füße ganz naß vom Straßenwandern – nichts verkauft, völlig mutlos – ich bin in meinem Zimmer gesessen, hab' vergessen, mir eins von den weltlichen Magazinen zu kaufen, die ich zu lesen gewohnt war – müßig eine Gideon-Bibel in die Hand genommen und das Gleichnis von den Talenten gelesen – am selben Tage erfahren, daß Sie in der Stadt waren – bin hingegangen und bekehrt worden – hab' da eingesehen, daß ich nicht nur des Geldes wegen, sondern auch für das Reich Christi meinen Einfluß als christlicher Kaufmann vergrößern und mehr verkaufen muß. Das hat mein Selbstvertrauen so gestärkt, daß ich's allen andern bei meinen Verkäufen zuvor getan hab'! Und wie ich alles Ihrer inspirierten Kraft verdanke, so daß es mich freut, Zeugnis für Sie ablegen zu können. Und dann auch noch darüber, daß es nicht der armselige Schwache ist, der gerettet werden soll, sondern daß man ein richtiger starker Mann sein muß, um sich nicht darüber zu schämen, daß man alles für Jesus hingibt.«

»Na, ich glaube, das wird großartig werden, Bruder Elmer, wirklich. Und bleiben Sie ziemlich lange bei Ihrem Aufenthalt im Hotelzimmer dort – Sie haben die Schuhe ausgezogen und sich aufs Bett geschmissen, aber Sie waren so unruhig, daß Sie aufgestanden sind und im Zimmer herumgestöbert haben, und da ist Ihnen die Gideon-Bibel in die Hand gekommen. Ich stell mir's großartig vor. Und Sie werden's auch richtig machen, Elmer? Sie werden mich nicht sitzen lassen? Weil ich es ganz groß auf meinen Plakaten ankündigen will. Ich hab' Sie überredet, dafür eigens von Omaha herüberzukommen – nein, das ist nicht weit genug – eigens von Denver. Und wenn Sie sich richtig reinknien und loslegen, wird es sehr zur Herrlichkeit Gottes beitragen und den Erfolg des Meetings beim Seelengewinnen vergrößern. Wollen Sie?«

»Meine Liebe, ich werd' meine Sache so machen, daß Sie mich in jeder Stadt werden haben wollen, in die Sie gehen. Sie können sich drauf verlassen.«

»Hm, das werden wir ja sehen, Elmer. Hier kommt Cecil Aylston – kennen Sie meinen Assistenten? Er sieht fürchterlich bös aus. Er ist ein lieber Kerl, aber so schrecklich klug und gebildet und alles mögliche, und immer will er mich bekritteln, damit ich auch so fein werd'. Aber Sie werden ihn gern haben.«

»Das werd' ich nicht! Wenigstens werd' ich dagegen ankämpfen!«

Sie lachten.

Der Reverend Cecil Aylston mit dem Flachshaar und dem vortrefflichen britischen Teint glitt zu ihrem Tisch heran, blickte Elmer mit einer Ausdruckslosigkeit an, die aufreizender war als Schimpfworte, setzte sich nieder und sagte:

»Ich möchte nicht stören, Miß Falconer, aber Sie wissen, der Ausschuß der Geistlichen erwartet Sie im Sprechzimmer.«

»Ach du meine Güte«, seufzte Sharon. »Sind Sie hier auch so schrecklich wie sonst? Können Sie nicht hinaufgehen und die Knierei und Beterei erledigen, bis ich mit meinen Rühreiern fertig bin? Haben Sie ihnen gesagt, daß sie die Opfergaben verdoppeln müssen, bevor diese Woche um ist, oder die Seelen in Lincoln können ruhig weiter verdammt bleiben?« Cecil deutete mit einer erschrockenen Kopfbewegung auf Elmer. »Ach, machen Sie sich keine Sorgen wegen Elmer; er gehört zu uns, wird am Freitag für uns sprechen – früher war er ein schrecklich berühmter Prediger, er hat aber jetzt ein größeres Betätigungsfeld im Geschäft gefunden – Reverend Aylston, Reverend Gantry. Jetzt gehen Sie ab, Cecil, und halten Sie die Leute in Frömmigkeit und Eifer. Sind paar hübsche junge Prediger beim Ausschuß, oder sind sie alle alte Besen?«

Aylston antwortete mit einem stummen Blick und schwebte davon.

»Der gute Cecil, er ist so nützlich für mich – er hat mich wirklich dazu gebracht, Gedichte und alles mögliche zu lesen. Wenn er nur nicht schon beim Frühstück so höflich wär! Ich würd' mir nichts draus machen, den wilden Tieren von Ephesus ins Auge zu schauen, aber Förmlichkeit schon bei den Eiern kann ich nicht vertragen. Jetzt muß ich hinaufgehen und mit den Leuten reden.«

»Werden Sie mit mir lunchen?«

»Das werd' ich nicht! Mein lieber junger Mann, jetzt hören meine Albernheiten für diese Woche auf. Von diesem Augenblick an bin ich eine Gesalbte, und wenn Ihnen was dran liegt, sich meine Sympathie zu erhalten – Gott steh' Ihnen bei, wenn Sie kommen und Dummheiten machen wollen, während ich diese steifnackigen Brüder in Christo anpacke! Ich seh' Sie am Freitag – ich werde hier mit Ihnen essen, vor dem Meeting. Und kann ich mich auf Sie verlassen? Gut!«

4

Cecil Aylston war zum guten Teil Mystiker, zum guten Teil Ritualist, ein bißchen Vagabund, ein wenig Gelehrter, häufig Säufer, häufiger Asket, immer Gentleman und immer Abenteurer. Er war jetzt zweiunddreißig Jahre alt. In Winchester und in New College war er als Sprinter, Snob und griechischer Versedrechsler bekannt gewesen. Er hatte die Weihen empfangen, als Kurat in einer besonders schmierigen, alten und finsteren Kirche im Eastend gedient und war fanatischer Anglo-Katholik geworden. Während er mit dem Gedanken spielte, die drei Gelübde abzulegen und in ein Kloster der Church of England einzutreten, warf sein Vikar ihn hinaus; und es wurde nie ganz klar, ob das wegen seiner »römischen Neigungen« geschah, oder wegen der Tochter des Eisenbahnarbeiters, die er geschwängert hatte.

Er wurde in eine düstere, plumpe Steinkirche in Cornwall beordert, trat aber zurück und ging zu den Darbysten, unter denen er, in widerhallenden Eisenkapellen im »Schwarzen Land«, den Ruf genoß, alle vergnüglichen Sünden zu brandmarken. Er kam zu einer Meetingsserie nach Liverpool; er ging in die Huskinson-Docks, sah ein abfahrtbereites Schiff, kaufte sich ein Zwischendeckbillett, nahm den Paß, den er für die geplante Flucht nach Rio mit der Frau eines evangelischen Kohlenhändlers bereit hatte, und segelte, ohne den Darbystenbrüdern oder der eifrigen Kohlendame etwas zu sagen, übel gelaunt nach Amerika.

In New York verkaufte er Krawatten in einem Warenhaus, predigte in einer Mission, erzog die Tochter eines reichen Fischgroßhändlers und schrieb nachlässige und aufreizende Buchbesprechungen. Er verließ die Stadt zwei Stunden vor dem ältesten Sohn des Fischhändlers und tauchte in Waco, Texas, auf, als Lehrer an einer Handelsschule, in Winona, Minnesota, als Prediger in einer Nazarenerkapelle, in Carmel, Kalifornia, als Verfasser von Gedichten und Heimstättenbroschüren, und in Miles City, Montana, als Sommervertreter auf einer Kongregationalistenkanzel. Dort war er so still und emsig, daß die Witwe eines Ranchers ihn nahm und heiratete. Sie starb. Er verlor das ganze Vermögen in zwei Tagen in den Spielsälen Tia Juanas im mexikanischen Kalifornien. Darauf wurde er besonders fromm und in Abständen von Billy Sunday, Gipsy Smith, Biederwolf und einigen anderen in Verlegenheit gebrachten Evangelisten bekehrt, die so früh in ihrer Campaign auf einen Bekehrten nicht gefaßt waren und nicht wußten, was sie mit ihm anfangen sollten.

In Ishpeming, Michigan, wo er einer Schießbude vorstand, während er sich um einen Lehrerposten in der Groton School bewarb, hörte er Sharon Falconer, und von ihr wurde er mehr als sonst bekehrt. Er verliebte sich in sie und sagte es ihr in unverschämter Festigkeit.

Im Augenblick hatte sie keinen ständigen ersten Assistenten. Sie war eben gezwungen gewesen, einen sehr nützlichen, stimmgewaltigen D. D. von den Böhmischen Brüdern zu entlassen, weil er entzückten Söhnen Belials angedeutet hatte, daß seine Beziehungen zu ihr zum geringsten Teil brüderlich wären. Sie stellte den Reverend Cecil Aylston an.

Er liebte sie schrecklich. Er war ihr so ergeben, daß er sein Trinken aufgab, sein Rauchen und die Neigung für Fälschungen, die ihn in der letzten Zeit überkommen hatte. Und er tat Wunder für sie. Sie hatte sich zu sehr vom Gefühl regieren lassen. Er lehrte sie, es aufzustapeln und alles auf einmal an einem überwältigenden Abend aus sich herauszuschleudern. Sie hatte sich nicht sehr um die Grammatik gekümmert und Freude an schlechten Illustrationen gehabt. Er lehrte sie, still zu sitzen und zu lesen – Swinburne und Jowett, Pater und Jonathan Edwards, Newman und Sir Thomas Brown. Er lehrte sie, von ihrer Stimme Gebrauch zu machen, von ihren Augen Gebrauch zu machen, und, in persönlicheren Beziehungen, von ihrer Seele Gebrauch zu machen.

Sie hatte sich von ihm verwirren, langweilen und demütig führen lassen, und jetzt war sie seiner hochmütigen Ergebenheit überdrüssig. Er hing mehr an ihr als am Leben, und ihretwegen schlug er eine wirklich begehrenswerte Witwe aus, die imstande gewesen wäre, ihn in die Episkopalkirche zurückzubringen und ihm die schöne reiche Kirche zu verschaffen, nach der er sich nach diesen Monaten voll Sägemehl und schwitzenden Bekehrten sehnte.

5

Als Elmer am Freitag nachmittag in Lincoln aus dem Zug stieg, blieb er vor einem schwarz-rotem Anschlag stehen, der verkündete, Elmer Gantry sei eine Autorität in der Maschinenwelt, ein beredter und unterhaltender Sprecher, und seine Ansprache »Bessere Geschäfte durch Gott und Gideon« würde »die Entdeckung einer neuen Welt besserer Geschäfte« sein.

»Herrjeh!« sagte die Autorität in der Maschinenwelt. »Lieber wollt' ich eine Predigt von mir so angekündigt sehen, als sieben Millionen Pflüge verkaufen!«

Er hatte eine Vision von Sharon Falconer, einsam und sehnsuchtsvoll im schwachen, goldenen Licht des Spätnachmittags in ihrem Zimmer, voll Sehnsucht nach ihm. Aber als er sie telephonisch erreichte, war sie kurz angebunden. »Nein, nein, tut mir leid, ich kann Sie am Nachmittag nicht sehen – beim Dinner um dreiviertelsechs.«

Er war so gedemütigt, daß er sich zurückhielt und keine Bemerkung machte, als sie, eine stirnrunzelnde, tüchtige, eifrige Sharon, in den Speisesaal fegte und er sehen mußte, daß sie Cecil Aylston mitgebracht hatte.

»Guten Abend, Schwester – Bruder Aylston«, rief er ruhig.

»Abend. Bereit zu sprechen?«

»Selbstverständlich.«

Ihre Miene klärte sich ein wenig auf. »Das ist recht. Alles andere ist schief gegangen, und diese Prediger hier glauben, daß ich mit meiner Evangelistenmannschaft von der Luft leben kann. Geben Sie ihnen ordentlich was zu hören über knauserige, christliche Geschäftsleute, ja, Elmer? Wie sie Angst davor haben, was rauszurücken! Cecil! Sehen Sie gefälligst nicht so drein, als ob ich jemand gebissen hätte. Ich hab' keinen gebissen … noch nicht.«

Aylston ignorierte sie, und die beiden Männer maßen einander wie ein Panther und ein Büffel (aber ein glattrasierter Büffel mit unendlich viel duftendem Haarwasser auf dem Kopf).

»Bruder Aylston«, sagte Elmer, »im Bericht über das gestrige Abendmeeting hab' ich gelesen, daß Sie von Maria und der Salbung mit Narden gesprochen und diese ›Idyllen des Königs‹ von Tennyson zitiert haben. Oder wenigstens hat die Zeitung das behauptet.«

»Das ist richtig.«

»Ja, aber meinen Sie, daß das richtig ist für Evangelisten? Ist ja ganz gut für eine normale Kirche, besonders mit einer vornehmen, reichen Gemeinde, aber bei einer Seelenrettungscampaign –«

»Mein lieber Mr. Gantry, Miß Falconer und ich sind der Ansicht, daß es auch bei der agressivsten Campaign nicht notwendig ist, unsere Anhänger allzu vulgär zu behandeln.«

»Also, ich würd' ihnen das nicht geben!«

»Und was, bitte, würden Sie ihnen geben?«

»Die gute alte Hölle, das und nichts anderes!« Elmer schielte zu Sharon hinüber und merkte, daß sie ermutigend lächelte. »Jawohl, Verehrtester, wie es in der Hymne heißt, die Hölle unserer Väter ist gut genug für mich.«

»Sehr wohl! Ich fürchte nur, daß sie nicht gut genug für mich ist, und ich weiß nichts davon, daß Jesus besonderen Geschmack an ihr gefunden hätte!«

»Na, auf eins können Sie sich verlassen: Wie er bei Maria, Martha und Lazarus war, hat er nicht die Zeit mit Teetrinken totgeschlagen!«

»Warum denn nicht, mein Bester! Wissen Sie nicht, daß der Tee schon im Jahre 627 v. Chr. mit einer Karawane von Ceylon nach Syrien importiert wurde?«

»Nei-ein, ich wußte nicht genau, wann –«

»Aber natürlich. Sie haben's nur vergessen – Sie müssen in Ihrer Universitätszeit von der großen epikuräischen Expedition Psaltasars gelesen haben – mit den elfhundert Kamelen? Psaltasar? Sie erinnern sich doch?«

»O ja, ich erinner' mich an die Expedition, aber ich hab' nicht gewußt, daß er Tee eingeführt hat.«

»Aber natürlich doch! Selbstverständlich! Ach, Miss Falconer, dieser Mr. Shoop will heute abend als Solo ›So wie ich bin‹ singen. Kann das nicht irgendwie verhindert werden? Adelbert ist eine gute gerettete Seele, aber so wie er ist, ist er zu sehr Mastochse. Wollen Sie nicht mit ihm sprechen?«

»Ach, ich weiß nicht. Lassen Sie's ihn singen. Er hat eine Menge Seelen damit geschafft«, gähnte Sharon.

»Schäbige kleine Seelen.«

»Ach, hören Sie auf mit Ihrer Hochnasigkeit. Wenn Sie in den Himmel kommen, Cecil, werden Sie sich darüber beklagen, was die Seraphims – ach, seien Sie still; ich weiß, es heißt Seraphim, es ist mir nur so ausgerutscht – werden Sie sich darüber beklagen, was für Mieder sie anhaben.«

»Ich bin gar nicht so sicher, daß Sie sich wirklich einen solchen Himmel vorstellen: die Engel in Miedern, und Sie selbst in einem goldenen Palast in der himmlischen Parkallee!«

»Cecil Aylston, streiten Sie heute abend nicht mit mir! Ich bin – vulgär aufgelegt! Das ist Ihr Lieblingswort! Ich wünsche von ganzem Herzen, ich könnte paar von den Mitgliedern meiner eigenen Mannschaft retten! … Elmer, glauben Sie, daß Gott in Oxford war?«

»Freilich!«

»Und Sie waren natürlich auch dort!«

»Ich nicht, weiß Gott! Ich war in einem Bauerncollege in Kansas! Und geboren bin ich in einer Bauernstadt in Kansas!«

»Ich auch, eigentlich! Ach, ich bin aus einer schrecklich alten Virginiafamilie, und in einem Haus geboren, das das Herrenhaus hieß, aber trotzdem, wir waren so arm, daß unser Stolz lächerlich wirkte. Sagen Sie, haben Sie Holz gespalten und Rettig vom Feld gestohlen, wie Sie ein Junge waren?«

»Ob ich? Klar! Selbstverständlich!«

Sie saßen mit den Ellenbogen auf dem Tisch, tauschten Prahlereien über ihre provinzielle Armut aus und proklamierten ihre Verwandtschaft, während Cecil böse zusah.

6

Elmers Ansprache bei dem Evangelisten-Meeting war ein Wolkenbruch.

Sie war gegliedert und melodiös, voll gewählter Worte, bezaubernder Anekdoten, erlesenen Gefühls, Bescheidenheit und resoluter Frömmigkeit.

Elmer hatte später Gelegenheit, Bewunderern seiner öffentlichen Ansprachen zu erklären, daß nichts wichtiger sei als Gliederung. Was, so sagte er ihnen, würden sie von einem Architekten halten, der an die Bemalung und die Dachschindeln dächte, das Haus aber nicht entwürfe? Und sein überladenes Gerede an diesem Abend war gegliedert genug.

In Teil eins gestand er, daß er trotz seinen geschäftlichen Erfolgen in Sünden gefallen sei, bevor er, voll Unruhe in seinem Hotelzimmer, müßig in einer Gideon-Bibel geblättert und einen tiefen Eindruck vom Gleichnis von den Talenten empfangen hätte.

In Teil zwei verkündete er in anfeuernden Beispielen aus seiner eigenen Erfahrung den Bargeldwert des Christentums. Er wies darauf hin, daß der Kaufmann meistens einen verläßlichen Mann einem anerkannten Gauner vorziehe.

Bis hierher war er vielleicht eine Kleinigkeit zu realistisch gewesen. Er fühlte, daß Sharon ihn nie an Cecil Aylstons Stelle nehmen würde, wenn sie nicht die Poesie gewahrte, von der seine Seele übersprudelte. Daher erläuterte er in Teil drei, was das Christentum zu mehr als einen bloßen Traum und Ideal, zu einer praktischen menschlichen Angelegenheit mache, sei die Liebe. Er sprach sehr hübsch über die Liebe. Er sagte, die Liebe sei der Morgenstern, der Abendstern, der letzte Glanz auf dem stillen Grab, sie inspiriere gleicherweise Patrioten und Bankdirektoren, und die Musik, was sei sie anderes als die Stimme der Liebe selbst? Er hatte seine Zuhörer (es waren dreizehnhundert, und alle voller Andacht) zu einer idealistischen Höhe erhoben, von der er sie jetzt wie Adler zu einem Tränenpfuhl hinunterschießen ließ:

»Denn, o meine Brüder und Schwestern, so wichtig es auch ist, in weltlichen Angelegenheiten klug zu sein, wahrhaft wesentlich ist nur die künftige Welt, und das erinnert mich, zum Beschluß, an einen sehr traurigen Vorfall, bei dem ich jüngst Zeuge war. In geschäftlichen Angelegenheiten hatte ich sehr oft mit einem sehr hervorragenden Mann namens Jim Leff … Leffingwell zu verhandeln. Ich kann seinen Namen jetzt nennen, weil er bereits in das Reich der Ewigkeit hinübergegangen ist. Der alte Jim war der beste von allen guten Kerlen, aber er hatte böse Fehler. Er trank Schnaps, er rauchte Tabak, er spielte und, es fällt mir schwer, es zu sagen, er hielt seine Zunge nicht immer rein – er nannte den Namen Gottes eitel. Aber Jim hatte seine Familie sehr lieb, vor allem seine kleine Tochter. Nun, sie wurde krank. Oh, welch eine schlimme Zeit war das für dieses Haus! Wie schlich die bekümmerte Mutter auf den Zehenspitzen in das Krankenzimmer und wieder hinaus, wie kamen und gingen die besorgten Ärzte, eilig, ihr zu helfen! Und der Vater, der arme alte Jim, er war niedergebeugt vom Leid, wenn er sich über das kleine Schmerzensbett lehnte, und sein Haar wurde in einer einzigen Nacht grau. Dann kam die große Krise, und vor den eigenen Augen des weinenden Vaters fand das kleine Geschöpf seine Ruhe, und diese süße, reine, junge Seele kehrte zu ihrem Schöpfer zurück.

»Schluchzend kam er zu mir, und ich legte meine Arme um ihn wie um ein kleines Kind. ›O Gott‹, schluchzte er, ›daß ich mein Leben in ruchlosen Lastern verbracht habe, und daß diese Kleine im Bewußtsein dahingegangen ist, ihr Vater sei ein Sünder!‹ Ich dachte ihn zu trösten und sagte: ›Alter Junge, es war Gottes Wille, daß er sie zu sich genommen hat. Sie haben alles getan, was ein Sterblicher tun konnte. Die besten Ärzte, die beste Pflege.‹

»Nie werde ich vergessen, wie verachtungsvoll er auf mich losfuhr. ›Und Sie nennen sich einen Christen‹, rief er. ›Ja, sie hatte ärztliche Pflege, aber eines fehlte – das Eine, das sie gerettet hätte – ich konnte nicht beten!‹

»Und dieser starke Mann kniete gemartert nieder, und trotz all meiner Übung im … trotz meiner vielen Versuche, meinen Mitmenschen die Wege Gottes zu erklären, hier war nichts zu sagen. Es war zu spät!

»O meine Brüder, meine Geschäftskollegen, wollt auch ihr die Reue verschieben, bis es zu spät ist? Das ist eure Sache, sagt ihr. Ist sie das? Ist sie das? Habt ihr ein Recht, allen, die euch die Nächsten und Liebsten sind, die bittere Bürde eurer Sünden aufzuerlegen? Seid ihr euren Sünden mehr zugetan als eurem lieben kleinen Sohn, eurem hübschen Töchterchen, eurem liebevollen Bruder, eurem prächtigen alten Vater? Wollt ihr diese strafen? Wollt ihr? Liebt ihr wirklich keinen Menschen mehr als eure Sünden? Tut ihr das aber, so steht auf. Ist keiner da, der aufstehen und einem Geschäftskollegen helfen will, diese Botschaft großer Freude in die Welt zu tragen? Wollt ihr nicht kommen? Wollt ihr mir nicht helfen? Oh, kommt! Kommt vor und laßt euch die Hand von mir drücken!«

Und sie kamen, zu Dutzenden, weinend, während er über seine eigene Güte weinte.

Später standen Sharon und Elmer in dem abgeschlossenen Raum hinter den weißgoldenen Tribünen und sie rief: »Ach, es war schön! Wirklich, fast hätt' ich selber geweint! Elmer, es war einfach herrlich!«

»Hab' ich sie gekriegt? Hab' ich sie gekriegt? Hab' ich? Hören Sie, Sharon, ich freu' mich riesig, daß es gut gegangen ist, weil es Ihr Abend war, und ich hab' mir Mühe gegeben, alles zu machen, was ich konnte!«

Mit ausgestreckten Armen ging er auf sie zu, und diesmal arbeitete er nicht mit der falschen Glut der Liebesdiplomatie. Er war der kleine Junge, den es nach dem Lob seiner Mutter verlangt. Aber sie wich vor ihm zurück und bat, ohne alle Ironie:

»Nicht! Bitte!«

»Aber, haben Sie mich nicht gern?«

»Ja, doch.«

»Wie gern?«

»Nicht sehr. Ich kann niemand sehr gern haben. Aber ich hab' Sie gern. Eines Tages werd' ich mich vielleicht in Sie verlieben. Ein ganz klein wenig. Wenn Sie mir nicht zu sehr zusetzen. Aber nur physisch. Niemand«, voll Stolz, »kann meiner Seele nahekommen!«

»Halten Sie das für anständig? Ist das nicht sündhaft?«

Sie flammte auf. »Ich kann nicht sündigen! Ich stehe über der Sünde. Ich bin wirklich und wahrhaft heilig! Was immer ich auch tun mag, und sei es auch in Unheiligen Sünde, bei mir wird Gott es zu seiner Verherrlichung wenden. Ich kann Sie so küssen« – Sie berührte flüchtig seine Wange, »ja, so oder leidenschaftlich, fürchterlich leidenschaftlich, und es würde doch nur ein Symbol meiner völligen Vereinigung mit Jesus sein! Ich habe Ihnen von einem Wunder erzählt. Sie werden das nie verstehen können. Aber Sie können mir dienen. Möchten Sie das?«

»Ja, ich möchte … Und ich hab' noch nie in meinem Leben jemand gedient! Ob ich kann? Ach, schmeißen Sie diesen teesaufenden Schlappschwanz, den Cecil, raus und lassen Sie mich mit Ihnen arbeiten. Brauchen Sie nicht solche Arme um sich, jetzt und später, die Sie schützen können?«

»Vielleicht. Aber ich darf nicht gedrängt werden. Ich bin ich! Ich bin es, die wählt!«

»Ja. Es wird wohl so sein, Sharon. Ich glaube, Sie haben mich ganz hypnotisiert, oder so was.«

»Nein, aber vielleicht werd' ich's tun, wenn mir mal was dran liegt … Ich kann alles tun, was ich will! Gott hat mich für sein Werk erwählt. Ich bin die Reincarnation der Jungfrau von Orleans, der Katharina von Siena! Ich habe Visionen! Gott spricht zu mir! Ich hab' Ihnen einmal gesagt, daß ich nicht Verstand genug hab', um mit den männlichen Evangelisten zu rivalisieren. Lüge! Falsche Bescheidenheit! Die sind Gottes Boten, ich aber bin Gottes rechte Hand!«

Sie sang es mit zurückgeworfenem Kopf, mit geschlossenen Augen, und sogar während er zitterte: »Mein Gott, sie ist wahnsinnig!« machte er sich nichts daraus. Er würde alles aufgeben, um ihr zu folgen. Stammelnd sagte er ihr das, doch sie schickte ihn weg, und er schlich in einer Demut fort, die er nie gekannt hatte.


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