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Neunzehntes Kapitel

1

Ein Donnerstag im Juni 1913.

Der Zug bummelte durch Obstgärten und Maisfelder – zwei abgenützte Personenwagen und ein Gepäckwagen. Hast und Betriebsamkeit waren auf dieser Zweiglinie noch nicht entdeckt, und es dauerte fünf Stunden, bis die hundertzwanzig Meilen von Zenith nach Banjo Crossing zurückgelegt waren.

Der Reverend Elmer Gantry war im Stande der Gnade. Da er beschlossen hatte, hinfort rein, demütig und menschenfreundlich zu sein, war er wohlwollend gegen alle seine Reisegenossen. Er bemutterte die Welt, ob die Welt es mochte oder nicht.

Aber er bestand auf nichts, was ihn äußerlich als Pfarrer, als professionellen Guten Mann gekennzeichnet hätte. Er trug einen ruhig bescheidenen grauen Sakkoanzug, eine bescheiden prächtige rotbraune Kravatte. Nicht nur als Geistlicher, schon als Bürger, sagte er sich, hatte er die Pflicht, seinen Weggenossen das Leben angenehmer und leichter zu machen.

Der alte Schaffner kannte die meisten seiner Passagiere bei den Vornamen, sie begrüßten ihn als »Onkel Ben«, aber er verabscheute Fremde in diesem Zug. Als Elmer brüllte: »Reizender Tag, Bruder!« sah Onkel Ben ihn an, als wollte er sagen: »Na, meine Schuld ist es nicht!« Doch Elmer fuhr in seinen brüderlichen Gewalttätigkeiten fort, bis der alte Mann zur Einsammlung der Fahrkarten für den Rest des Weges den Bremser hineinschickte.

Einem Reisenden, der ein Streichholz borgen wollte, brüllte Elmer zu: »Ich rauche nicht, Bruder, und ich glaub' auch nicht, daß George Washington geraucht hat!« Seine Gefälligkeiten wurden mit so wenig Dank empfangen, daß er der guten Werke fast müde geworden wäre; doch als er einer alten Frau den Koffer aus dem Zug hinaustrug, schmeichelte sie ihm mit der Bewunderung, die er verdiente; er fühlte sich bewegt, Kindern – zu deren Entsetzen – den Kopf zu tätscheln und einem Alten, der seit siebenundvierzig Jahren Landwirt war, die Wechselwirtschaft zu erklären.

Auf jeden Fall befriedigte er seinen Tagesbedarf an Menschenfreundlichkeit, er drehte den Sitz vor dem seinen um, streckte die Beine aus, machte eine schläfrige Miene, um zu verhindern, daß sich jemand neben ihn setzte, und erfreute sich daran, daß er das Leben der Heiligkeit und Autorität wieder aufgenommen hatte.

Voll Zufriedenheit blickte er auf das bunte Land hinaus.

Ländlich, ja, aber einfach, und die einfachen ehrlichen Herzen seiner Gemeinde würden zu ihm drängen, was von den Buchhaltern in seinen Erfolgkursen nicht mit Sicherheit zu erwarten war. Er malte sich seinen herzlichen Empfang in Banjo Crossing aus. Er wußte, daß sein Bezirkssuperintendent (ein Bezirks Superintendent ist in der Methodistenkirche Bischofsstellvertreter – früher Vorsteher-Presbyter genannt) die Stunde seiner Ankunft Nathaniel Benham in Banjo Crossing mitgeteilt hatte, und er wußte, daß Benham, der erste Kurator der Ortskirche, der führende Kaufmann im Banjotal war. Ja, er würde auf dem Bahnhof allen aus seiner Herde die Hand drücken, auch den Niedrigsten; er würde ihnen in die offenen und vertrauensvollen Augen blicken und sich darüber freuen, ihr Hirte zu sein, sie vorwärts und aufwärts zu führen, mindestens ein Jahr lang.

Banjo Crossing sah sehr klein aus, als der Zug hineinstolperte. Da waren Hinterveranden mit Badewannen und zerbrochenen Stühlen, da waren hölzerne Bürgersteige.

Als Elmer bei dem roten Fachwerksstationsgebäude voll priesterlicher Würde ausstieg, als er Ausschau hielt nach dem Empfang und der heiligen Freude, da ließ sich überhaupt kein Empfang blicken, und Freude zeigte nur das aufgeblasene Gesicht des Stationsbeamten, als dieser einen Stadtmenschen bemerkte, der Eindruck zu machen versuchte. »Hi, hi, hier gibt's keinen Bus!« kicherte der Beamte. »Sie werden Ihr Gepäck schon selber zum Hotel hinübertragen müssen!«

»Wo«, erkundigte sich Elmer, »ist Mr. Benham, Mr. Nathaniel Benham?«

»Der alte Nat? Den hab' ich heute noch nicht gesehen. Sie werden ihn wohl im Laden finden, wie gewöhnlich, wie er sich überlegt, ob er einem Farmer zwei Cents an paar Eiern abzwicken kann. Reisender?«

»Ich bin der neue Methodistenprediger!«

»So, na, ja! Was Sie nicht sagen! Freut mich, Sie kennen zu lernen! Hätt' nicht gedacht, daß Sie Prediger sind. Sie sehen zu gut genährt aus! Sie werden bei Mrs. Pete Clark wohnen – bei der Witwe Clark. Lassen Sie Ihr Gepäck da, mein Junge wird's Ihnen später hinbringen. Na, viel Glück, Bruder. Hoffentlich werden Sie nicht viel Ärger mit Ihrer Kirche haben. Der vor Ihnen hat sich sehr ärgern müssen, aber der hat auch bißchen zu viel verlangt – war kein einfacher Mensch.«

»Ach, ich bin 'n ganz einfacher Mensch und freu' mich sehr, nach den großen Städten unter einfachen Menschen zu sein!« grüßte Elmer freundlich; als er aber weiter ging, bemerkte er: »Einen Dreck bin ich das!«

Jetzt war er ziemlich deprimiert und erwartete in dem Etablissement Bruder Benhams einen unordentlichen schmutzigen Straßenladen zu finden, aber er kam zu einem zweistöckigen Ziegelbau mit Spiegelglasfenstern, an dessen Seitenfront das halbe Dutzend Rollwagen stand, mit denen Mr. Benham die Farmer zwanzig Meilen flußauf und flußabwärts im Banjotal belieferte. Voller Respekt schritt Elmer durch breite Gänge, an Ladentischen vorbei, die so nett und sauber waren wie in einem kleinen Warenhaus, und fand Mr. Benham beim Diktieren von Briefen.

Wenn Nathaniel Benham in bescheidenem Maße kaufmännische Begabung hatte, so zeigte sich das in seinem Äußeren nicht. Er trug einen Bart, der wie ein Badeschwamm aussah, und in seiner Stimme war ein rechtschaffenes Näseln.

»Ja?« quäkte er.

»Ich bin der Reverend Gantry, der neue Pastor.«

Benham stand auf, nicht allzu flink, und drückte ihm kühl die Hand. »O ja. Der Presbyter hat mir mitgeteilt, daß Sie heute kommen. Freut mich, daß Sie gekommen sind, Bruder, und hoffentlich ist der Segen des Herrn bei Ihrer Arbeit. Sie werden bei der Witwe Clark wohnen – jedes Kind kann Ihnen zeigen, wo das ist.«

Anscheinend hatte er nichts weiter zu sagen.

Ein wenig bitter sagte Elmer: »Ich würde mir gern die Kirche ansehen. Haben Sie einen Schlüssel?«

»Na, wollen mal sehen. Bruder Jones könnte einen haben – er hat die Maler- und Tapeziererwerkstatt gleich hier oben in der Front Street. Nein, ich glaub', der hat auch keinen. Wir haben einen jungen Burschen – noch ein richtiger Bub, könnt' man sagen – der jetzt die Pförtnerstelle versieht, und ich glaub', der hat einen Schlüssel, aber wir haben jetzt Ferien, und da wird er wohl aller Wahrscheinlichkeit nach draußen sein und fischen. Ich will Ihnen was sagen: Sie könnten's bei Bruder Fritscher, dem Schuster, probieren – der wird vielleicht einen Schlüssel haben. Sind Sie verheiratet?«

»Nein. Ich bin, äh, ich war so mit evangelistischer Arbeit beschäftigt, daß mir die Freuden und Tröstungen des häuslichen Lebens versagt geblieben sind.«

»Wo sind Sie geboren?«

»Kansas.«

»Leute Christen?«

»Und ob sie das waren! Meine Mutter war – das heißt, sie ist – 'ne richtige geweihte Seele.«

»Rauchen oder Trinken?«

»Ganz bestimmt nicht!«

»Irgend was mit der höheren Kritik zu tun?«

»Gar keine Rede.«

»Gehen Sie mal auf die Jagd?«

»Ich, äh – also, ja!«

»Das ist fein! Na, freut mich, daß Sie bei uns sind, Bruder. Tut mir leid, daß ich zu tun hab'. Hören Sie, Mutter und ich erwarten Sie heute zum Abendessen, sechs Uhr dreißig. Viel Glück!«

Benhams Lächeln und sein Händedruck waren herzlich genug, aber der Abschied war endgültig, und Elmer ging in einer Stimmung hinaus, die zwischen Wut und Verzweiflung hin- und herschwankte … Das, die Herablassung eines bäurischen Ladenbesitzers nach dem gipfelstürmenden Ruhm mit Sharon!

Während er zum Haus der Witwe Clark ging, zu dem ihn ein Müßiggänger führte, haßte er das schäbige Dorf, haßte er die Hühnerställe in den Höfen, die verwahrlosten Rasenflächen, die alten Einspänner, die vorüber wackelten, die Weiber mit den derben Schürzen und den nassen roten Armen – Weiber, die seine köstlichen Liebesabenteuer zu etwas Abstoßendem zu machen schienen – und alle diese schwerfälligen Bauernlümmel mit den stumpfen Augen, den offenen Mäulern und dem plötzlichen wiehernden Lachen.

So tief gesunken. Mit zweiunddreißig Jahren. Ein Versager!

Als er vor der Tür des viereckigen, weißen, charakterlosen Hauses der Witwe Clark wartete, wäre er am liebsten zum Bahnhof zurückgerast, um in den ersten Zug zu steigen – irgendwohin. Dann wurde die Tür von einem netten vierzehn oder fünfzehn Jahre alten, lockenköpfigen Mädchen geöffnet, das aufjubelte: »Oh, Sie sind der Reverend Gantry! Je, und ich hab' Sie warten lassen! Das tut mir schrecklich leid! Ma ärgert sich krank, daß sie nicht hier sein kann, um Sie zu begrüßen, aber sie hat hinüber müssen zur Cousine Etta – Cousine Etta hat sich den Fuß gebrochen. Ach, bitte, kommen Sie rein. Herrje, ich hätt' nicht gedacht, daß wir diesmal 'nen jungen Prediger kriegen würden!«

Sie war entzückend in ihrer aufgeregten Unschuld.

Einer Provinzmode zufolge war die viereckige Diele etwas pompös mit ihren Farbdrucken aus dem Bürgerkrieg.

Elmer folgte dem Kind – Jane Clark – in sein Zimmer hinauf. Als sie ihm voraus hüpfte, zeigte sie sechs Zoll Bein über ihren plumpen Schuhen, und Elmer wurde von jenem vertrauten Gefühl gepackt, schneller als ein Gedanke, exakter als die Strategie eines ganzen Krieges, welches bedeutete, daß hier ein Mädchen war, auf das er Jagd machen würde. Aber ebenso plötzlich – fast sehnsüchtig in seinem müden Wunsch nach Friede und Reinheit – bat er sich: »Nein! Nicht! Nie mehr! Laß das Kind in Frieden! Bitte, sei anständig! Herr, laß mich anständig und gut sein!«

Der Kampf war in der halben Minute, die das Hinaufgehen dauerte, beendet, er konnte ihr ganz nebenbei die Hand drücken, sorglos sagen: »Nun, ich freu' mich riesig, Schwester, daß Sie hier waren, um mich zu begrüßen, und ich hoffe, daß ich Segen ins Haus bringen werd'!«

Er fühlte sich jetzt daheim, erwärmt, gut aufgehoben. Sein Zimmer war angenehm – ein roter Teppich, der Ofen ein richtiger Altar mit seinen polierten Nickelbeschlägen, und im Erker ein tiefer Lehnstuhl. Auf dem Himmelbett lagen eine Flickendecke und Kissenüberzüge mit Stickereien: Lämmer, Kaninchen und die Devise: »Gott segne unseren Schlaf!«

»Das wird alles gut sein. Bißchen wie zu Hause nach den verdammten Hotels«, überlegte er.

Er war wieder bereit, Banjo Crossing zu erobern, den Methodismus zu erobern; und als sein Gepäck gekommen war, ging er noch vor dem Auspacken aus, um sein Königreich zu besichtigen.

2

Banjo Crossing war nicht ausgedehnt, aber den Schlüssel zur Ersten Methodistenkirche zu finden, war eine Scotland-Yard-Tragödie.

Bruder Fritscher, der Schuster, hatte ihn Schwester Andersen von der Frauenhilfe geliehen, diese hatte ihn Mrs. Pryshetski, der Scheuerfrau, gegeben, von der ihn Pussy Byrnes, die Vorsitzende der Epworth-Liga, hatte, diese hatte ihn Schwester Fritscher, dem Ehegemahl des Bruders Fritscher, geliehen, so daß Elmer seiner neben der Schuhmacherwerkstatt habhaft wurde, von der er ausgegangen war.

Alle, Bruder Fritscher und Schwester Fritscher, Schwester Pryshetski und Schwester Byrnes, Schwester Anderson und fast alle Leute, bei denen er sich nach dem Weg erkundigte, stellten ihm dieselben Fragen:

»Sie sind der neue Methodistenprediger?« »Nicht verheiratet, was?« »Grade angekommen?« und »Sie kommen aus der Stadt, hör' ich – da sind Sie wohl ziemlich froh, rauszukommen, nicht?«

Er machte sich nicht viel Hoffnungen auf seine Kirche. Er hatte sie noch nicht gesehen – sie war hinter dem Schulhaus verborgen-aber er war auf einen scheußlichen braunen Kasten gefaßt. Dann war er entzückt, stolz wie ein zum Bürgermeister erwählter würdiger Bürger, als er zu einer netten kleinen Kirche kam, die mit grauen Schindeln gedeckt war, ein bescheidenes Türmchen hatte und von geschorenem Rasen und Blumenbeeten eingesäumt war. Freudig erregt ging er hinein, begrüßt von dem abgestandenen Grabesgeruch aller leeren Kirchen.

Das Innere war hübsch. Die Kirche konnte vielleicht zweihundertneunzig Leute fassen. Die Kirchenstühle waren hellgelb, zu grell, aber die Wände hatten eine zarte Crêmefarbe, und im Hochchor, über dem sich ein weißer Bogen anmutig wölbte, war eine nette weiße Kanzel und ein bescheidener, mit einem Vorhang versehener Chor. Er erforschte alles. Es war ein ganz guter Sonntagsschulraum da und ein Souterrain mit Tischen und einer kleinen Küche. Alles war ermutigend, lebendig; es ließ an Vergrößerungsmöglichkeiten denken.

Als er in den Zuhörerraum zurückkehrte, bemerkte er ein hübsches farbiges Gedenkfenster, und durch das helle Glas der anderen Fenster blickten die freundlichen Ahornbäume zu ihm herein.

Er ging um das Gebäude herum. Mit einemmal überwältigte und begeisterte ihn mystischer Besitzerstolz. Das alles war sein; sein eigen; und als solches war alles schön. Was für schöne, zarte, graue Schindeln! Was für ein entzückender Turm! Was für ein herrlicher Ahornbaum! Ja, was für ein schöner zementierter Weg, was für ein schöner neuer Mülleimer, was für ein hübsches Anschlagbrett, auf dem bald sein eigener Name prangen sollte! Und, oh, er würde Schönes, Erhebendes, Bedeutsames tun! Nie wieder, mit diesem neuen Grund zum Weiterleben, würde er sich um niedrigere Lüste kümmern – um Stolz, um Weiberabenteuer … Sein!

Er trat wieder in die Kirche; er setzte sich stolz in jeden der drei Stühle auf der Empore, von denen er als Junge geglaubt hatte, daß sie für die drei Personen der Dreifaltigkeit reserviert seien. Er stand auf, legte die Arme auf die Kanzel und rief einer andachtsvollen Menge (viele standen) zu: »Meine Brüder!«

Er war in einer Ekstase, wie noch nie seit seinen Stunden mit Sharon. Er würde wieder anfangen – hatte wieder angefangen, gelobte er. Nie lügen oder schwindeln oder aufschneiden. Dieser Ort, er war vielleicht stumpf, aber er würde ihn aufwecken, ihn zu seiner eigenen Schöpfung machen, ihn zu Macht und Ruhm erheben. Das würde er! Das Leben tat sich vor ihm auf, rein, freudenvoll, angefüllt mit den erhabenen Möglichkeiten christlicher Ritterschaft. Eines Tages würde er Bischof sein, ja, aber auch das war nichts im Vergleich dazu, daß er den Sieg über seine niedrigere Natur davongetragen hatte.

Er kniete nieder, und mit flehentlich weitausgebreiteten Armen betete er: »Herr, der Du Dich zu meiner großen Unwürdigkeit herabgebeugt, der Du sogar mich in Dein Reich aufgenommen hast, der Du mir in diesem Augenblick die unvergängliche Freude der Rechtfertigung gezeigt hast, heile mich und erhalte mich rein, und in allen Dingen, Vater Unser, geschehe Dein Wille. Amen.«

Er stand an der Kanzel, Tränen in den Augen, seine fleischigen Hände umklammerten den Einband der großen Lederbibel, bis sie knackte.

Die Tür am anderen Ende des Schiffs ging auf, und er sah auf der Schwelle ein Traumbild in der Junisonne stehen.

Später erinnerte er sich, aus irgendeinem vergessenen literarischen Abenteuer im College, eines Liedchens, das ihm die junge Frau symbolisierte, die von der Tür her zu ihm sah:

Hinter Tor und Säulen steht sie,
Hell, mit heitrem Laub bekränzt.

Sie war jünger als er, doch sie ließ an heitere Reife, an anmutigen Stolz denken. Sie war schlank, aber ihr Busen war voll, und eines Tages würde sie vielleicht stattlich sein. Ihr Gesicht war lieblich, ihre Stirn breit, die braunen Augen vertrauensvoll, das kastanienfarbene Haar glatt. Sie hatte ihren mit Rosen verzierten Strohhut abgenommen und schwang ihn in ihren großen anmutigen Händen hin und her … Jungfräulich, stolz, freundlich, voller Adel.

Ruhig kam sie das Schiff entlang und tief mit ausgestreckter Hand: »Sie sind der Reverend Gantry, nicht wahr? Ich bin so stolz darauf, die erste zu sein, die Sie hier in der Kirche willkommen heißt! Ich bin Cleo Benham – ich leite den Chor. Vielleicht haben Sie Papa schon gesehen – er ist Kurator – er hat den Laden.«

»Allerdings sind Sie die erste, die mich willkommen heißt, Schwester Benham, und es ist ein riesiges Vergnügen für mich, Sie kennen zu lernen! Ja, Ihr Vater war so freundlich, mich für heute abend zum Essen einzuladen.«

Sie schüttelten sich umständlich die Hände und saßen einander anstrahlend in einem der vordersten Kirchenstühle. Er teile ihr mit, daß »es hier eine großartige seelische Erweckung geben würde«, und sie erzählte ihm, was für nette Leute in der Gemeinde, im Dorf, in der ganzen Umgebung wären. Und ihre keuchende Brust erzählte ihm, daß sie, die Tochter des Dorfmagnaten, sich auf der Stelle in ihn verliebt hatte.

3

Cleo Benham war drei Jahre im Frauencollege von Sparta gewesen und hatte sich auf dem Klavier, auf der Orgel, in Französisch, englischer Literatur (streng gereinigt) und Bibelstudium ausgebildet. Nach ihrer Rückkehr nach Banjo Crossing war sie eine eifrige Kirchenarbeiterin. Sie spielte Orgel und leitete die Chorproben; sie war Inspektorin der Jugendabteilung in der Sonntagsschule; sie dekorierte die Kirche für Ostern, für Begräbnisse, für das jährliche Festessen vor Allerheiligen.

Sie war siebenundzwanzig, fünf Jahre jünger als Elmer.

Obgleich sie sich nicht beim Sommerabendtratsch auszeichnete, obgleich sie bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie sich gegen die Disziplin versündigte und tanzte, ein wenig schwer auf ihren Füßen zu sein schien, obgleich sie eine geschnürte Reinheit hatte, welche die irdisch gesinnten jungen Männer Banjo Crossings betrübte, war sie hübsch, war sie freundlich, und ihr Vater stand im Ruf, nicht einen Cent weniger als fünfundsiebzigtausend Dollars wert zu sein. So hatte ihr jedes in Betracht kommende männliche Wesen in der Nachbarschaft angedeutet, daß es um sie anhalten wollte.

Freundlich und mitleidig hatte sie alle, einen nach dem anderen, abgewiesen. Sie war überzeugt, daß die Ehe ein Sakrament sein müßte, daß sie die Gefährtin eines Mannes sein müßte, der »schrecklich viel Gutes in der Welt tut«. Dieses Gute identifizierte sie mit Medizin oder Predigen.

Ihre Freunde versicherten ihr: »Weiß Gott! Mit deiner Bibelübung, mit deiner Musik und so weiter würdest du eine tadellose Pastorenfrau abgeben. Einfach blendend! Du würdest so eine Hilfe für ihn sein.«

Doch kein lediger Prediger oder Arzt war gekommen, und sie war einsam geblieben, ein wenig verwirrt, voll Sehnsucht, wenn sie die Kinder ihrer Freunde sah, mit jedem Jahr leidenschaftlicher dem Hymnensingen und gequältem einsamen Gebet ergeben.

Jetzt erklärte sie Elmer mit der Offenheit der Unschuld: »Wir hatten so Angst, daß uns der Bischof einen alten, verbrauchten Pastor schicken wird. Die Leute hier sind nett, aber sie sind ein bißchen langsam; sie brauchen jemand, der sie aufrüttelt. Ich freu' mich so, daß er jemand geschickt hat, der jung und hübsch ist – ach, das hätt' ich jetzt nicht sagen sollen! Ich hab' nur an die Kirche gedacht, verstehen Sie.«

Ihre Augen sagten, daß sie nicht nur an die Kirche gedacht hätte.

Sie sah auf ihre Armbanduhr (die erste in Banjo Crossing) und sang: »Ach, du Grundgütiger, es ist sechs Uhr! Möchten Sie mit mir nach Hause gehen statt zu Mrs. Clark – sie können sich bei Papa waschen!«

»Mich werden Sie nicht los!« jubelte Elmer, verbesserte sich aber hastig, »– wie die jungen Leute sagen! Ja, tatsächlich, es würde mir ein großes Vergnügen sein, das Vergnügen zu haben, mit Ihnen nach Hause zu gehen.«

Unter den Ulmen, an Rosensträuchern vorbei, durch den Staub, der in der untergehenden Sonne aufleuchtete, ging er mit seiner stolzen Äbtissin.

Er wußte, daß sie die Frau war, die ihm helfen könnte, ein Bistum zu erringen. Er redete sich ein, daß sie trotz all ihrer Tugend vielleicht interessant zu küssen sein würde. Er konstatierte, daß sie »ein schönes Paar« wären. Er sagte sich, daß sie von allen Frauen, die er je gefunden hätte, die erste sei, die seiner würdig wäre … Dann fiel ihm Sharon ein … Aber der Gewissensbiß dauerte nur einen Moment, in dem sicheren Dorffrieden, in dem freundlichen Dahinfließen von Cleos Stimme.

4

War Mr. Nathaniel Benham einmal außerhalb der geheiligten Energiezone seines Ladens, so vergaß er der Zinsen und wurde ein freundlicher Wirt. Er sagte ungezählte Male: »Nanu, nanu, Bruder« und schüttelte Elmer ausgiebig die Hand. Mrs. Benham – sie war eine große Frau, ziemlich hübsch, sie hatte ein gemustertes Foulardkleid an, mit einer Schürze darüber, weil sie in der Küche geholfen hatte – Mrs. Benham war ebenso herzlich. Sie rief: »Ich möcht' wetten, daß Sie hungrig sind, Bruder!«

Das war er, nach einem Lunch in einem Bahnhofsrestaurant auf der Herreise, der aus einem Schinkenbrot und Kaffee bestanden hatte.

Das Benhamhaus war das stolzeste Gebäude in der Stadt. Es hatte gelbe Schindeln mit weißem Verputz, eine riesige gedeckte Veranda und ein kleines Türmchen, ein Treppenhausfenster mit Einfassung aus buntem Glas; und es war auch ein richtiger Kamin da, allerdings wurde er nie benutzt. Vor dem Haus stand, was Elmers Bewunderung erregte, eines der drei Automobile, die 1913 in Banjo Crossing zu finden waren. Es war ein leuchtend roter Buick mit Messingbeschlägen.

Das Abendessen bei Benham strotzte ebenso von Brathuhn und theologischen Fragen, wie Elmers erstes Abendessen bei Diakon Bains in Schoenheim. Aber hier war Reichtum, für den Elmer rührende Ehrfurcht hegte, und hier war Cleo.

Lulu Bains war ein verführerischer Bissen gewesen; Cleo Benham war aus dem Geschlecht der Königinnen. Sie zu besitzen, glühte Elmer, würde an sich ein Reich sein, jedes Kampfes wert … Und doch trieb es ihn nicht, sie in eine Ecke zu drängen und zu liebkosen, wie Lulu; die Linie ihrer stolzen Schultern elektrisierte seine Finger nicht.

Nach dem Abendessen fragte Mr. Benham auf der in der Dämmerung behaglichen Veranda: »Was für Stellungen haben Sie bisher gehabt, Bruder Gantry?«

Elmer ließ ihn in aller Bescheidenheit wissen, wie wichtig er für die Arbeit Schwester Falconers gewesen sei; er gestand seine gelehrten Forschungen im Mizpahseminar ein; er machte durchaus kein Geheimnis aus seinem Erfolg in Schoenheim; er verschwieg nicht, daß er tatsächlich Assistent des Verkaufsdirektors bei der Pequot Ackergerät Company gewesen sei.

Mr. Benham keuchte in überraschter Bewunderung. Mrs. Benham gluckste: »Herrje, ist das ein Glück, daß wir endlich einmal einen wirklich erstklassigen Prediger haben!« Und Cleo – sie neigte sich Elmer zu, in einem tiefen Weidenstuhl, und ihre Nähe war Bezauberung.

Glückselig ging er in der Juninacht nach Hause; er verspürte nachbarliche Gefühle, wenn ein Unbekannter murmelte: »Abend, Reverend!« Und den ganzen Weg über sah er Cleo, stolz wie Athene, doch schmiegsam wie die goldenhäutige Aphrodite.

Er hatte seine Arbeit, seine Gefährtin, seine Zukunft gefunden.

Die Tugend, hielt er sich vor, lohnte sich entschieden.


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