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XXIV.

Kas Onkelaer trat vor seine Türe und streckte die Hand aus:

»Es regnet kleine Tröpfchen«, sagte er.

Und ohne sich im geringsten deshalb aufzuregen, steckte er seine Pfeife in Brand. Ein feiner Sprühregen netzte den Birnbaum, die Buchssträucher, Nelken und holländischen Rosen.

Die anderen Leute im Städtchen, die machten es gerade so wie der alte Magier: sie streckten die Hand ins Freie hinaus und sagten dann: »es regnet«. Aber jedermann war fest überzeugt, daß sich das Wetter in dem Augenblicke, da die Prozession Sankt Walburgis verlassen werde, wieder bessern würde. In den Straßen duftete es lieblich nach frischgebackenen Kuchen. Die Bäcker hatten bis in den hellichten Morgen hinein Pflaumenkuchen gebacken, so groß wie die Wagenräder. Bisweilen versank ein kleines Fliegchen in der Schlagsahne des Zuckerbäckers. Die großen Fliegen aber, die hatten noch nicht die Obstgärten vor der Stadt verlassen: sie wußten, daß der schöne Sonnenschein nicht lange auf sich warten lassen würde und harrten einstweilen, zahllos wie die Sünden des Menschengeschlechtes, bis der richtige Moment käme. Die Wirtshäuser am Platze, denen ging es bereits gut! Ein ganzer Schwarm Fischer mit verrunzelten Gesichtern wie gedörrte Fische und goldenen Ringen im Ohr war von der Düne hereingeströmt. Bei den Jahrmarktsbuden versorgten sie sich mit einem Stückchen Räucherfisch und einem runden Brötchen; dann ließen sie sich scharenweise an den Wirtstischen nieder und tranken bedächtig, Väter und Söhne, aus demselben Glase, Schluck um Schluck, ohne ein Wörtlein zu sprechen. Dann und wann ließ sich auch das Rollen eines Bauernwagens auf der Straße vernehmen. Der Regen fiel bereits viel sachter, ein liebliches, trauliches Rieseln wie raschelndes Moos. Ab und zu schmetterte eine Trompete; der schrille Ton schien sich vom Boden zu erheben und laut anschwellend über die Stadt dahinzufliegen. Bald darauf antwortete ein anderes Blasinstrument aus der Ferne. Auf diese Weise kündeten sich die heranrückenden Soldaten an, die Jesu Hinrichtung beiwohnen sollten. Mitleidig schüttelten die armen Fischer ihr Haupt.

Gegen Mittag schritt Kas Onkelaer durch seinen Garten und ging bis zur Straße vor. Diesmal brauchte er nicht erst die Hand auszustrecken: er sah die letzten Wolken im Himmelsblau dahinschwinden.

»Unser Heiland wird heute schönes Wetter haben«, dachte er sich. Und er lächelte einem vorübereilenden Engel zu. Es war die Kleine der Kräuterfrau, bei der er seinen Bedarf an Gemüsen deckte. Sie war im Unterrock und hatte eine Schürze vorgebunden; ihr Kopf mit Papilloten sah aus wie eine Kastanie in ihrer Stachelschale. Eine mächtige Zuckerkugel, an der sie lutschte, ließ ihre rechte Backe weit dicker als die andere erscheinen. Auf dem Bürgersteig, ein wenig weiter straßenabwärts, kauerten zwei kleine Hirtenknaben und spielten mit Murmeln; der eine schrie wie ein Besessener. Nun kam auch Abraham mit seinem Sohne Isaak daher. Abraham, seines Berufes ein Tapezierer, hatte erst unlängst Kas Onkelaer's zwei Stuben mit einer blauen Tapete frisch austapeziert. Ein Esel begann zu y-aen; und alsogleich wußte Kas, daß dies der Esel der Flucht nach Ägypten sei.

Onkelaer berechnete, daß er noch zwei Stunden vor sich hatte, um sein Kotelett zu braten, einen Schoppen zu leeren, ein letztes Pfeifchen zu rauchen und sodann seinen königlichen Mantel um die Schultern zu werfen. Wohlgefällig sog er die feuchtlaue Luft, die dem Straßenpflaster entströmte, ein: es würde Nachmittag nicht allzu warm werden. Ein dumpfes, verworrenes Getöse, das Brausen der Menge, klang von der Stadt herüber.

Am Prozessionstage verspürte ein jeder das Bedürfnis nach einer besonderen Stärkung. Juden, Pharisäer und Schriftgelehrte schmausten um die Wette. Die guten Christen nicht minder. Namentlich die Engel, die kleinen Chorknaben und Bannerträgerinnen, denen die weißen Höschen bis auf die Schuhe hinabreichten, bildeten eine eifrige Kundschaft des Kuchenbäckers. Alle diese heiligen Kinderscharen stopften sich mit saftigen Pflaumentörtchen voll, die Pausbacken wie kleine Posaunenengelchen aufblasend.

Noch ehe es Mittag schlug, begann bereits das Gedränge. Von Viertelstunde zu Viertelstunde entströmte den Zügen ein blinkendes, wogendes, funkelndes, strotzendes Flandern. Nächst dem Bahnhofe wimmelten die Straßen von Tagedieben und Bettlern, die scheußliche Wunden entblößten und kreischend und heulend das öffentliche Mitleid im Namen der Leiden Christi schröpften. Hier und da sah man irgend einen armen alten Teufel vom Lande beinahe unter die Räder eines eleganten Kutschierwagens geraten. Die wohlbeleibten Pächter von den großen Höfen ließen ihre Peitschenhiebe über die Köpfe der Menge hinweg knallen und gebärdeten sich ganz so, als hätte Jesus von Nazareth zu ihrer Familie gehört.

In den Höfen der Wirtshäuser hatte man Bretter über Böcke und Tonnen gelegt. Ein nicht endenwollender Strom von Menschen schmauste dort unaufhörlich in schweigender Hast. Von Straße zu Straße verbreitete sich die Schlemmerei, pflanzte sich bis zum Herzen des Städtchens fort. Alle Hotels waren überfüllt, in allen Sälen, in den Küchen, selbst in den entferntesten Winkeln neben den Ställen, wo die Stuten wieherten und ihre Nüstern in die vollen Tröge tauchten, wurde gepraßt und geschmaust. Ganze Ortschaften waren herbeigeströmt, um Jesus wiederum sterben zu sehen. Und die Leute bereiteten sich zu diesem Schauspiele vor, indem sie sich vollstopften. Die Reichen, strotzend und feist, in rosigen Farbentönen blühend, schwelgten in schweren Fleischgerichten, indes die halbverhungerten Armen ihre Gier an Würsten, getrockneten Schollen und in Öl gebackenen Mehlkuchen zu stillen trachteten.

In der Menagerie am Marktplatze stieß der alte Löwe ein dumpfes Gebrülle aus, denn er hatte seit dem vorigen Abend kein Futter mehr bekommen.

Und dann begannen sich plötzlich alle Tische wie mit einem Schlage zu leeren, und die Leute strömten dem Marktplatze zu. Nun kam die Reihe an die dicken Fliegen, über Wirtshäuser und Kneipen herzufallen, und mit ihren Rüsseln die fettigen Schüsseln leerzupumpen. An jeder Straßenecke kauerten irgend welche Blinde neben ihrer Mütze und entlockten einer Ziehharmonika klägliche Polkaweisen. Die Kuchenbäcker unter ihren weiß-roten Leinenzelten führten zum Takte ihrer Holzpantoffeln ganze Tänze auf, schreiend und gröhlend, um die Leute anzulocken. Behelmte römische Söldner mit safrangelben Wämsern wandelten mit der Zigarre im Munde unter der Menge und stießen ihre Lanzen kräftig auf den Boden.

Im Vorhof von Sankt Walburgis drängten sich die hohen Karren, auf denen das heilige Grab, Christi Geburt und Himmelfahrt aufgebaut waren. Auch Esel, Pferde und gelockte Widder waren da, zwischen einer Schar weißgekleideter Engelchen mit Papierblumen in den Haaren. Herodes mit seinem Hofstaate befand sich bereits in der Kirche, um sich anzukleiden.

Von Zeit zu Zeit trat der eine oder der andere der Propheten bis auf den großen Platz vor, um nach Christus Ausschau zu halten. Plötzlich erschien dieser in seiner violetten Tunika. Die Schriftgelehrten gingen ihm einige Schritte entgegen und begrüßten ihn mit stummem Kopfnicken; die Locken der Perücken umwallten ihre Schultern, und im Schreiten hoben sie ihre langen Gewänder bis zu den Knien empor. Aus ihren weiten Ärmeln sahen plumpe, schwielige Arbeitshände hervor, denn sie gehörten fast ausnahmslos dem Handwerkerstande an.

Christus hatte in der Früh gebeichtet. Sein abgemagertes, abgezehrtes Gesicht von elfenbeinerner Blässe neigte sich müde auf seine Schulter hinab. Niemand konnte erraten, was seine Blicke in den weiten Fernen, hoch über den Dächern suchten. Er bemerkte gar nicht Cordula, die in schwarzer Seide gekleidet, auf ihren Armen den langen Schleier trug, darein sie später ihr Haupt hüllen sollte. Sie sah heute doppelt stattlich aus in ihrer reifen Frauenschönheit. Als sie sich ihm nähern wollte, erhob er zwei Finger seiner rechten Hand; und sie wich stumm zur Seite, die Blicke wie gebannt auf seine lockigen Haare geheftet, die ihm in reichen Wellen bis auf die Schultern hinabfielen. Barbara hatte sie mit wohlriechender Pomade gesalbt, die ihren Glanz noch erhöhte. Christus hatte alle Mühe, um nicht fortwährend daran zu denken, daß er der schönste der Männer war.

Inzwischen rückte die Zeit vor. Ein dumpfes Summen erfüllte die Kirche. In der Sakristei beendeten die Schriftgelehrten, die Höflinge Herodes' und Bürger Jerusalems ihre Toiletten. Kas Onkelaer, Badilon und der Klempner hingen ihre mit weißem Kaninchenfell verbrämten Königsmäntel um. Esperitz rannte nach allen Ecken und Enden, in beiden Händen eine Menge Perücken und falsche Bärte. Er war, nächst dem von Sorgen halb erdrückten Vikar entschieden die meist beschäftigte Persönlichkeit bei der Prozession. Unaufhörlich entstanden unter seinen fleißigen Händen Patriarchen-, Propheten- und Königshäupter. Er hatte eine eigene Technik, die Perücken durch einen kurzen Klaps mit der flachen Hand auf den Schädeln festzukleben.

Die Weiber hockten auf den Stufen der Beichtstühle mit halb aufgeschürzten Röcken und entledigten sich ihres Schuhwerks. Manche von ihnen lockerte sich die Miederschnur, um den Strapazen der Prozession leichter standzuhalten: das waren die Banner- und Kreuzträgerinnen. Zwischen den Säulen huschten Büßer, Gespenstern gleich, umher, die Augen hinter den Kapuzen fürchterlich verdrehend. Der gute Herrgott von Sankt Walburgis sah voll Staunen von der Höhe seiner Dreifaltigkeitsstatue auf das Gekribbel dieses Menschenvölkleins herab. Dann betrachtete er voll milder Güte die keusche Anmut der drei Marien, die, bleich und bebend, in ihren himmelblauen Gewändern zarten Miniaturen aus alten Meßbüchern glichen. Sie standen und warteten in der Nähe der kleinen Mädchenherde, die von den Klosterfrauen behütet wurde. Keine von ihnen sprach ein Wort, die langen Wimpern blieben über den Augen züchtig gesenkt, gleich mystischen Rosen.

Endlich begannen die sechs spanischen Trompeter, Abraham und sein Sohn, Moses in der Wüste, die acht Propheten und die drei Geißeln sich aufzustellen. Sodann bestiegen Joseph und des Glasermeisters Maria den Stall von Bethlehem, darin das Jesuskindlein bereits lag. Ihnen folgten die vier Hirten und die heiligen drei Könige. Hierauf umfingen zwei kräftige Arme Maria, die Bräuerstochter, und hoben sie auf den Esel, der sie nach Ägypten tragen sollte. Man hörte Ribosia und die anderen Ordner, längs der Reihen laufend, die Namen der einzelnen Gruppen ausrufen:

»Maria Magdalena!«

Auf das hin trat Cordula tief verschleiert hervor, mit beiden Händen das zarte Gewebe der schwarzen Krepphüllen am Gürtel zusammenraffend: ihre schönen Füße waren nackt und schimmerten wie verschüttete Milch auf dem Straßenpflaster. Ihr voran schritt die alte Magd, Cordulas Schmucksachen auf einem Kissen tragend.

Nun kam schon bald die Reihe an den Einzug in Jerusalem: junge Mädchen, kleine Kinder und reife Männer schwenkten Palmen und Reisigzweiglein. Es begann lieblich nach frischem Grün zu duften, wie in Nähe der Repositorien am Fronleichnamstage. Und nun sah man Christus sein silberfarbiges Eselchen besteigen. Mit beiden Händen den Hals des Tieres umfassend, setzte er sich zurecht, ließ die langen Falten seiner Tunika hinab und prüfte mit den Fingerspitzen, ob sich sein Haar auch richtig im Nacken lockte.

Und unablässig ertönten die Rufe:

»Engel vor dem Abendmahle! … Engel vor dem Olivengarten! … Wo ist der Engel mit dem Schwert und Panzerhandschuh? … He, da drunten! Engel mit der heiligen Lampe!«

Es gab da auch noch Engel für Judas' Verrat, für den gefangenen Christus, für die Verleugnung, für den bereuenden heiligen Petrus, für die Geißelung, für die Dornenkrönung, das Ecce homo und die Kreuztragung. Man konnte buchstäblich sagen, daß alle Engel der Stadt aufgeboten waren. Besonders überwachen mußte man die Engelschar der Schulschwestern, die nur allzu gern mit den Soldaten scherzte. Alle, sowohl Knaben wie Mädchen, hatten lange weiße Gewänder an mit schwarzem Saume, und hielten hohe Kupferkreuze in den Händen.

Pilatus stellte sich zwischen seine Ratgeber vor dem Büßer auf, der das Waschbecken und die Wasserkanne zu tragen hatte. Mit dem Barett und dem Richtergewande war er nicht so leicht zu erkennen. Und wie es in der heiligen Schrift geschrieben steht, daß der Statthalter von Judäa seine Hände in Christi Blute wusch, so hatte auch der Schlosser die seinen langmächtig in Laugenwasser gewaschen, ohne jedoch alle Schmutzspuren vollständig entfernen zu können.

Aber plötzlich entstand eine arge Verwirrung: der kreuztragende Christus war nirgends zu finden. Und doch behaupteten alle, ihn mit seiner Dornenkrone auf dem Haupte eben noch gesehen zu haben. Und abermals stoben der Vikar Ribosia, die Ordner und geistlichen Würdenträger in alle Richtungen, um ihn zu suchen.

»He, holla … Heiland! … Wer hat den Heiland gesehen?«

Die Aufregung wuchs; man suchte alle Beichtstühle und die Sakristei ab. Aber plötzlich rief jemand aus der Menge:

»Da ist er!«

Um sich Mut anzutrinken, hatte der gute Landejan in einem nahegelegenen Wirtshause schnell noch ein paar Gläschen geleert. Nun sah man ihn zurückkehren, die Dornenkrone ein wenig verschoben, und das Antlitz rot und schwarz besudelt wie ein Christus vom Kalvarienberge. Das war Esperitz' Werk, der ihn so bemalt hatte. Seine ockerfarbenen, staubigen Füße schienen in dem Staub aller Landstraßen der Erde gewandert zu sein. Halb mitleidig, halb verächtlich sahen die beiden anderen Christusse auf ihn herab.

Nun begannen die Glocken zu läuten: der Zug setzte sich in Bewegung, und Christus erhob die Hand.

Die Trompeten der Soldaten schmetterten; Landejan schleppte sein Kreuz; der Obervikar reckte seine Nase in die Luft. Ein bleigrauer, schwerer Himmel lugte zwischen den Schornsteinen herab, um zu sehen, was sie da wohl mit dem Heiland vorhätten. Aber niemand regte sich deshalb auf: man wußte ganz genau, daß es erst nach Schluß der Prozession regnen würde.

Auf dem Platze, vor der »Edelrose« und den »Heiligen Drei Königen« standen die reichen Gutspächter aus der Umgebung auf Tischen, Stühlen und Bänken. In den Fenstern drängten sich die hübschen flandrischen Mädchen wie goldblonde Birnen am Spalier. Die dicken Weiber aus den Gauklerbuden strömten herzu, mit einem Männerrock über ihren Trikots, und mischten sich unter die Menge der dürftigen Fischer. Der große Löwe brüllte dreimal nacheinander, als witterte er das Fleisch der kleinen Christenkinder, deren Vorfahren seine Ahnen dereinst im Zirkus verschlungen hatten. Und dann vernahm man in dem Schweigen der Stadt nur mehr die Litaneien der Engel, die fettigen, schnarrenden Stimmen der acht Propheten und das Schnauben des Alten, der die Pest darstellte, und dessen Gesicht von Lupus zerfressen, in grauenvollen Wunden klaffte. Und da die Mehrzahl der Büßer barfuß ging, hörte man das leicht klatschende Geräusch des nackten Fleisches auf dem Straßenpflaster. Die armseligen Fischer murmelten mit entblößtem Haupt Gebete, während ihre Finger die Perlen eines Rosenkranzes abhaspelten.

Plötzlich geriet der endlose Zug hinter Ivo Mabbe ins Stocken. Eben hatte Christus auf seinem Esel die »Edelrose« passiert, als ein fremdes Mädchen sich vor ihm in die Knie warf und den Saum seines Gewandes an die Lippen drückte. Es hieß, es wäre die kleine Schollenhausiererin.

Die Bürger von Jerusalem drängten sie zurück, indem sie mit ihren Palmzweigen auf sie einhieben. Ivos Hand bebte leicht. Der Esel war stehen geblieben. Längs des Zuges pusteten die Geistlichen vor Ungeduld.

Plötzlich erklang ein schriller Pfiff aus einem Hause. Christus zuckte zusammen; der Pfiff traf ihn wie ein Messerstich. Doch hielt er noch immer ganz reglos auf seinem Esel stand, die starren und funkelnden Augen wie Emailkugeln unverwandt auf einen Punkt geheftet. Er schien nichts von dem großen Schimpf zu ahnen, der der heiligen Prozession widerfahren war. Dennoch litt er insgeheim einen unsäglichen Schmerz vor Scham und innigem Mitleiden. »Eigentlich hat das Mädel ganz recht, denn es ist doch Christus!« murmelten die Fischer untereinander. »Der Herr hat seine Hand über ihm. Er heilt die Kranken und erweckt die Toten.«

Die Polizei schritt ein und sperrte Ilje aus Furcht vor einer neuerlichen Störung hinter Schloß und Riegel. Nun setzte sich der Zug wieder in Bewegung, und die zwölf Apostel an Seite Jesu regelten ihren Schritt nach der Gangart des Esels.

Dann trat Herodes in den Vordergrund. Mit hängenden Backen, die mächtigen Beine in rosafarbene Trikots und Stulpstiefel gezwängt, in dem schweren Sammetmantel und den Hosen eines spanischen Hauptmannes. Seine Hand ruhte auf dem Griff eines krummen Säbels. So marschierte er, wutschnaubend, wie ein ergrimmter König. Seine purpurrote Mörderseele brüllte aus den heftigen Zornesausbrüchen, mit denen er die kleinen Vögel, die auf den Dachrinnen saßen, aufschreckte.

Unglücklicherweise ließ ihn sein Gedächtnis abermals im Stich. Bisweilen blieben ihm die Worte im Halse stecken, wie ein Knochen, der nicht durchgleiten kann. Aber sein Sohn, der kleine Sander, sagte ihm ein, und so vermochte er schlecht und recht seine Rede bis zu Ende zu sprechen. Wenn er in der Zuschauermenge zufällig einen seiner Kunden erblickte, dann brüllte er aus Sympathie noch lauter als früher. Als er von den Neugeborenen sprach, die er umbringen lassen wollte, da war's, als kenne er keinen Unterschied mehr zwischen den kleinen Menschenkindern und all dem Schlachtvieh, das er bereits geschlagen hatte. Die Höflinge antworteten ihm; und durch die alte Nebenbuhlerschaft mit den Schriftgelehrten aufs neue angespornt, schmetterten sie wie die Jagdhörner. So wurde man auf Christi Tod gebührend vorbereitet. Endlich erschien Landejan, unter dem doppelten Gewichte seines Kreuzes und seines riesigen, mit Dornenkrone und Bart beschwerten Kopfes gebeugt. Die zahlreichen Ingwerschnäpschen hatten ihn in eine rührselige Stimmung versetzt, so daß ihm helle, aufrichtige Zähren über die Wangen strömten. Sie spülten die rote Farbe, mit der er geschminkt war, hinweg, und so schien ihm ein Blutstrom über die Backen zu laufen. Selbst die Ungläubigsten wurden bei seinem Anblick ergriffen und sprachen: »Landejan ist ein guter Christus«, als ob sie etwa von einem Hahne bei einem Hahnenkampfe sagen würden: »Das ist ein guter Kampfhahn!« Die gutmütigen Fischer schluchzten laut. Frauen falteten die Hände und beteten. Ein Sturm von Gebeten, Seufzern und Stöhnen stieg zu dem schweren, gewitterschwangeren Himmel empor, an dem ein Unwetter drohte. Und unaufhörlich wälzte sich der lange Zug mit seinen Propheten und Geißeln, den holdseligen Marien, der schönen, von Liebe und Reue zerknirschten Sünderin, den Heerscharen von Engeln und rosenbekränzten Jungfrauen und den dreierlei Christussen von Straße zu Straße, von dem leis trippelnden Geräusch der Fußsohlen auf dem feuchten Boden, Trompetengeschmetter und dem hämischen Schnarren der Karfreitagsknarren begleitet.

Der Zug kam an dem kleinen Laden der Geschwister Mabbe vorbei. Barbara hatte in den Fenstern ihr ganzes Silberzeug, ihre sämtlichen Heiligenstatuetten, Kruzifixe und Geraniumtöpfe aufgestellt. Und in vier kupfernen Leuchtern brannten Wachskerzen.

Unter dem Lichterglanze fast verschwindend, ein verklärtes Lächeln auf ihrem wie eine alte Bibel abgenützten Gesicht, sank sie vor der Heiligkeit ihres Christus in die Knie. Er aber bewahrte die starre Unbeweglichkeit eines wächsernen Jesus und wandte seine Blicke nicht ab. Die Anstrengung ließ seine Augenhöhlen noch hohler erscheinen: eine dicke Ader schwoll ihm auf der rechten Schläfe an; sein Antlitz deckte Totenblässe. Er hörte noch immer den schrillen Pfiff; sein Herz blieb davon wie durchbohrt. Unablässig betete er im Stillen ein »Ave« und »Paternoster« nach dem andern, aus Furcht, in seinem Stolze und seiner Bußfertigkeit zu ermatten. Ohne daß er die Blicke zu wenden brauchte, sah er unablässig die Hüften Maria Magdalenas unter dem Schleier sich runden. Auch an die seltsame Liebe jener Ilje mußte er denken, die ihm öffentlich wie dem echten Christus gehuldigt hatte. Welch anderem Sterblichen sonst war das wohl je widerfahren? Konnte da noch jemand zweifeln, daß er der rechtmäßige Christus von Furnes war?

»Das ist unser Christus«, riefen plötzlich die Leute aus den Hintergäßchen, indem sie vorwärtsdrängend vor Freude johlten und schrien.

Und sie taten sich keinen Zwang an, ihn ganz familiär anzurufen. Der lange Brad warf mit aller Kraft seine Mütze vor dem Esel auf den Boden. Seit zwei Tagen war er überhaupt nicht mehr nüchtern geworden. Er fluchte in aller Heiligen Namen. Die anderen Zuschauer mußten sich mit aller Gewalt an ihn klammern, um ihn zurückzudrängen,

Ivo verdoppelte seinen Eifer um nichts von alledem zu beachten. Auf seiner Nase perlten ein paar Schweißtröpfchen. Dadurch wurde eine Schmeißfliege angelockt, die ihn erst ein paarmal umsurrte und sich dann auf seine Nasenspitze niederließ. Alle Leute sahen sie, wie sie, erbsengroß da oben thronte. Der Pöbel schrie:

»He, Christus, schlag' sie tot!«

Ein unerträglicher Kitzel peinigte den armen Ivo. Aber er machte nicht die leiseste Bewegung, um das lästige Insekt zu verjagen; er beschränkte sich darauf, seine Gesichtsmuskeln unmerklich noch stärker anzuspannen. »Ach, lieber Gott«, betete er, »gib, daß ich mich nicht rühre. Dein demütiger Knecht fleht zu dir. Ich werde deiner heiligen Mutter, der Jungfrau Maria, eine Kerze spenden.«

Die Fliege flog davon. Der lange Brad brüllte vor Vergnügen. Hätte jetzt Ivo ein Zeichen gegeben, so wäre der ganze Straßenpöbel über die Stadt hergefallen, um alles kurz und klein zu schlagen.

Auf dem Apfelmarkt hatte der Sattler zum zweiten Male unter dem Kreuze zusammenzubrechen. Mit einem dumpfen Krach fiel er in die Knie, die Hände flach auf den Boden gestützt. Sein Antlitz berührte die Erde: sein Bart und Haupthaar klebten am Straßenschmutz: so bot er wirklich den Anblick eines Verurteilten, der bereits wankend vor Todesangst zum Galgen geführt wird. Alsogleich stießen ihm die Söldner die kleeblattförmige Spitze ihrer Hellebarden in die Schultern, daß die Knochen krachten. Wer hätte gedacht, daß Landejan seine Sache so gut machen würde? Er war wirklich graueneinflößend, mit seinem Blute und Schmutz. Düster bliesen alle Trompeten dazu.

Simon von Kyrene half dem Heiland sich mühselig erheben. Gebrochen wankte Landejan unter seiner Kreuzeslast weiter. Nach ihm erschienen die Apostel, die Henker, die Bannerträger, die heilige Veronika mit dem Schweißtüchlein, die sieben Engel vom Kreuze der sieben heiligen Worte, der Wagen mit dem heiligen Grabe und die kleinen trauernden Jüngferlein, die Büßer, die Unsere Liebe Frau von den sieben Schmerzen umringen, der Himmelfahrtwagen, die Damen aus Furnes, barfuß, mächtige Kreuze schleppend, die weltlichen Bruderschaften und geistlichen Orden und das Allerheiligste. Ein ganzes Menschengeschlecht blutete da vor Erbarmen, Liebe und Schmerz mit dem gefolterten und nach Golgatha geschleppten Christus. Einfältige und barbarisch gesudelte Bildwerke mit hölzernen, steifen Gebärden mengten sich unter die Gruppen der Lebenden und erweiterten die einzelnen Phasen des Dramas noch ins Unendliche, wie auf den mittelalterlichen Kreuzwegstationen. Die Straße glich einem Kalvarienberg, wo, von den düstern Kulissen der Häuser umrahmt, der Tod selbst die Darsteller der Passionsgeschichte zu befeuern schien.

Endlos, farbenstrotzend und tragisch zog die Prozession durch die Stadt, einer buntscheckigen Riesenschlange gleich ihre gold-, purpur- und azurfarbenen Glieder vorwärts wälzend.

Christus, mit schmerzendem Rücken und eiskaltem Schweiß auf der Stirn, hielt seine Hand in unerschütterlicher Starrheit erhoben, von den schwankenden Palmwedeln und Zweigen umweht. Seine verzerrten Füße hingen blauangelaufen und verschwollen herab. Sein Eselchen marschierte unbekümmert einher, mit den Ohren wackelnd und manchmal den Schwanz erhebend, um drei kleine Kügelchen auf den Boden fallen zu lassen. Dann konnte Christus nicht verstehen, weshalb die Leute plötzlich lachten.

Es dünkte ihn, daß die Stimmung bei seinem Vorüberziehen lauer würde; er hatte eine Empfindung, als ließe ihn die Bevölkerung Furnes' in Stich. Und in der Tat zog der Erlöser schon seit so langer Zeit in Jerusalem ein, daß man sich an seiner ewig verheißungsvoll gen Himmel deutenden Hand sattgesehen hatte. Er konnte sich nicht länger verhehlen, daß der Haupterfolg sich Landejan zuwandte, der sich als ein hochtragischer Christus entpuppte. Nun stürmte alles nach der Sankt-Nikolauskirche, vor der der Menschensohn zum letzten Male zu fallen hatte.

Während sich also vor seiner nutzlos gewordenen Geste die Straße zu leeren begann, zappelte jener ungeschlachte Landejan, die Halsschlagadern dick geschwellt, als schnürte ihm bereits der Strick die Kehle ab, zwischen zwei Reihen dichtgedrängter Menschen. Noch nie hatte man einen so natürlichen und mitleiderweckenden Christus gesehen. Bei jedem Schritte strauchelte er, verfingen sich seine Füße in dem flatternden Gewände. Als er vor dem Greisenasyl vorüberkam, begannen die alten Weiblein, die in ihren Rüschenhäubchen an den Fenstern knieten, laut aufzuschluchzen und zu weinen:

»Ach! ach! wie schlecht sind doch die Menschen, daß sie unseren lieben Heiland so quälen!«

Und viele von ihnen dachten an Maria, die gleich ihnen eine Mutter gewesen und ihren Sohn hatte sterben sehen müssen.

Zum dritten Male stürzte der Sattler mit dem Antlitze zu Boden, wie ein Geschundener röchelnd; ein gräßliches Schluchzen zerriß ihm die Brust. Man sah, wie seine Rippen im letzten Todeskampfe zuckten. Kalte Schauer überliefen die Leute, als sie mit weit vorgestreckten Hälsen den auf seine Hände gestützten und wie von einem Schüttelfrost gerüttelten Menschen am Boden liegen sahen, dessen dornengekröntes Haupt sich zwischen den Schultern bäumte. Schwärzliche Bluttropfen mengten sich unter seinen Schweiß. Grünliche Verwesungsflecke sprenkelten seine Haut. Aus seinem Gewande sahen die nackten Füße hervor, daraus das Blut aus einer klaffenden Wunde aufs Pflaster rieselte. Und abermals dröhnten die Fanfaren, knirschten die Knarren, und die Soldaten stießen ihm die Lanzen in die Schultern.

Rings um ihn war es so stille geworden, daß man von sehr weit drüben, von jenseits des Platzes, die beiden Finken des Korbmachers trillern hörte. Plötzlich warf eine alte Frau eine Handvoll Sous vor Christus hin. Die Alte war stadtbekannt: jeden Freitag bettelte sie vor allen Türen. Die Soldaten lachten und wußten nicht, weshalb sie das getan. Vielleicht dachte sie, Jesus, der sein Kreuz schleppte und von aller Welt verlassen war, sei noch ärmer als sie.

Da plötzlich erscholl ein Donnerschlag; die Glocken läuteten zum Rückzug der Prozession. Schon hatte die Spitze des Zuges den halben Platz überquert, und in wilder Hast stürmten Propheten, Geißeln und Hirten in die Kirche; unter dem Portal von Sankt Walburgis entstand ein fürchterliches Gedränge. Ängstlich, mit wehenden Haubenbändern, liefen die guten Schulschwestern umher und trieben die kleinen Engelchen in weißen Tüllkleidchen zur Eile an. Die Überkleider der Vikare flatterten wie Mövenflügel. Ein heftiger Windstoß brauste über den Boden und wirbelte ganze Wolken von Staub, Blätterwerk und Papierschnitzeln auf. Die Mäntel der drei Könige und Schriftgelehrten blähten sich wie Luftballons. Und Herodes' Hofstaat, der eben um die Ecke des Platzes bog, stob ebenfalls auseinander. Die Kleider aufschürzend, konnte man die Höflinge nach allen Richtungen entfliehen sehen. Nun begannen große Tropfen aufs Pflaster zu fallen. Am unteren Ende der Straßen schienen sich bleigraue Dämpfe zusammenzuballen. Klirrend flogen unter den heftigen Windstößen die Fensterscheiben in Scherben. Die armen Fischer riefen: »Gerade so war es, als Jesus am Kreuze starb.« Auf den Bürgersteigen wimmelte es von fliehenden heiligen Frauen. Die aneinander schlagenden Kreuze der Büßer und Büßerinnen verursachten ein Geräusch wie das Krachen der Äste in einem Walde.

Da Christus überzeugt war, daß jetzt niemand mehr auf ihn achtete, ließ er seine Hand sinken. Allein ritt er dahin, von den Bürgern und Kindern ebenso wie von der übrigen Stadt verlassen. Er fühlte sich wieder zu dem schlichten Ivo Mabbe werden mit einem kleinen Laden, in dem er mit Bindfaden und Sämereien handelte. Er stieß seinem Eselchen die Fersen in die Weichen, damit es rascher laufe; seine ruhmreiche Laufbahn als Christus war in dem »rette sich, wer kann« eines Unwetters kläglich zu Ende gegangen. »Es ist aus,« sprach er zu sich, »alles ist aus! …« Er hustete, denn der Regen hatte ihn bis auf die Haut durchnäßt.

»Kleiner Nazarener!« … ließ sich eine Stimme vernehmen.

Es war Maria Magdalena; mit beschmutzten Füßen lief sie seinem Eselchen nach und lächelte dem armen, betrübten Christus mit ihrem frischen Munde zu. Hinter ihr flatterten ihre Schleier im Winde. Doch ein Menschenstrom trennte sie wieder; er wollte sie suchen, aber sah nur Wishje Brad. Der Fischer half ihm beim Absitzen. Christus lief eilig, die Füße wegen der kalten Fliesen hochhebend, in die Sakristei, wo er in einem Winkel seinen Anzug aufgehoben hatte. Eine ganze Schar von Menschen entledigte sich hier bereits ihrer Kleider. Die Frauen saßen auf den Stufen der Beichtstühle und zogen ihre Strümpfe wieder an, so wie sie sie früher ausgezogen hatten. Ein warmer Dunst stieg von all diesem feisten Fleische Flanderns auf und versäuerte die mit erkalteten Weihrauch- und moderigen Holzgerüchen geschwängerte Kirchenluft. Keuchend, und sich trocken reibend, glotzten sie mit ihren gutmütigen Kälberaugen gedankenlos ins Leere.

Allmählich begann eine lüsterne Kirmesstimmung zu den hohen Bogengewölben aufzusteigen. Aus dem Schoße des Todes rang sich aufs neue das Leben empor, von Begierden und Zeugungstrieben geschwellt. Einen Augenblick sah man neben dem Hauptaltare Magdalenas weiße Schultern wie einen Lilienstrauß aufleuchten. Schnell aber zog sie ihr Leibchen darüber.

Das Ende des Zuges war noch immer nicht unter Dach. Die römischen Edelleute, Maria und der heilige Johannes, der Karren des heiligen Grabes, der schöne Schneider mit dem Himmelfahrtswagen, die Fackel- und Laternenträger, die religiösen Ordner und Bruderschaften, alle die wurden von dem unter seinem Kreuze zusammengebrochenen Christus verbarrikadiert. Es erhob sich ein unwilliges Murmeln; derbe Flüche wurden laut; in dem von Sekunde zu Sekunde heftiger werdenden Regen fand das heilige Drama sein Ende. Man sah das Allerheiligste unter seinem Thronhimmel inmitten einer Anzahl flüchtender Chorknaben davonrennen, ebenso die Scharen der Engel und der von einem Glorienschein umwobenen Heiligen. Nach allen Richtungen hin patschten die nackten Füße durch die Wasserlachen. Die heilige Veronika raffte ihre Röcke auf; selbst sie ließ den Heiland im Stich und rannte mit den Söldnern davon. Schließlich riß die allgemeine Flucht auch den reitenden Longinus und den Himmelfahrtwagen fort.

Nur der heilige Johannes und Barabas blieben bei dem armen Christus zurück und bemühten sich mit vereinten Kräften ihm aufzuhelfen, während ein stämmiger Bursche, der neue Simon von Kyrene, sich des schweren Kreuzes bemächtigte.

»Trinken«, stöhnte der Sattler mit schwacher Stimme, als er durch den Regen wieder zu Bewußtsein kam. Ein leichter Schlaganfall hatte ihn gestreift.

Simon legte das Kreuz wieder weg, packte ihn unter den Achseln und schleppte ihn mit den anderen in ein Wirtshaus. Man durfte wirklich sagen, daß das kein guter Tag für den lieben Heiland gewesen war! Vom Platze her aber dröhnten jetzt Pauken und Trommeln und Trompetengeschmetter. Dazwischen krachten die Büchsen, und die Hanswurste trieben ihre Possen.


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