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II.

Sankt Walburgis, mit den brückenähnlichen Strebepfeilern, dem Heiligen- und Märtyrergewimmel wie im Paradies, dem gestutzten Turme, der einem enthaupteten Körper gleicht, und den Bischofsmützen ähnlichen Bogengewölben lastete mit ihrem Jahrhunderte alten Gewichte auf dem kleinen Häuschen am Rande des schmalen Bürgersteiges in dem engen Gäßchen, durch das früh und abends die Kinder zur Schule und die Klosterfrauen in weißen Hauben zur Messe gingen.

Hinter dem matten Lichte der Fenster maß Ivo seine Schnüre ab und rollte sie zu Knäulen; auch Sämereien und Hülsenfrüchte wog er ab, da er gleich seinem Vater Seil- und Samenhändler in einer Person war. Der Laden war jedoch mit dem Sohne nicht gewachsen; nicht größer als eine Truhe, lehnte er an der Kirchenmauer, beim jedesmaligen Dröhnen der Orgel erzitternd. Und drinnen befanden sich ein kleiner alter, arg abgenützter Ladentisch mit einer Wage und Gewichten aus Messing, ferner ganze Stöße von Tüten aus grobem, violettem Papier aneinander gereiht an einem Strick, ein Sack mit Erbsen zur rechten Hand und zur linken ein solcher mit Bohnen. Der Laden strömte einen Hanf- und Teergeruch aus wie ein Schiffshafen.

Hier hatte Ivo Tag für Tag seines Lebens verbracht. Mit zwölf Jahren, als er Chorknabe war, widerfuhr ihm ein großes Glück. Der kleine Jesus von Nazareth – der Jesus unter den Schriftgelehrten nämlich – war eines Morgens beim Schlittschuhlaufen im Kanäle ertrunken; und da wurde Ivo auserwählt, ihn in diesem frommen Amte zu ersetzen. Während einiger Jahre durfte er nun am Tage der großen Prozession mit den Rabbinern disputieren, mit einem weißen Gewände mit weiten, wallenden Ärmeln angetan, und die Haare wie ein Widderfell gekräuselt. Man konnte von ihm wirklich sagen, daß er wie Christus selbst begonnen hatte: zuerst war er der Knabe Jesus gewesen, um dann, in späteren Jahren, der auf seiner Eselin glorreich in Jerusalem einziehende Christus zu werden. Ihn verlangte nach nichts Höherem mehr. Übrigens wäre auch Maene Daele, der Schneider mit dem schönen Barte, der, wenn er auf dem Himmelfahrtswagen saß, mit seiner Stirn bis in die Wolken zu reichen schien, sicher nicht damit einverstanden gewesen, ihm seinen Platz abzutreten. Dieser war außer dem auf dem Esel reitenden Ivo und dem kreuztragenden Heiland eine der drei großen Christusgestalten, die sich alljährlich am letzten Sonntage des Monats Juli dem versammelten Volke zeigten.

Ivos Haare fielen in langen, seidigen Locken auf die Schultern. Die anderen Heilande vor ihm hatten stets Perücken tragen müssen, an denen Esperitz, der Haarkünstler in der Bahnhofstraße, alljährlich die Locken mit einem Brenneisen ein wenig auffrischte. Ivo in seinem heiligen Eifer wollte so viel wie möglich aus eigenen Mitteln ein Christus sein, der niemandem etwas zu verdanken hätte. Er begnügte sich damit, am Abende vor der Bußprozession sein Haar auf Papilloten zu wickeln; deshalb konnte ihm der liebe Gott wahrlich nicht zürnen! Übrigens waren Bürgermeister, Schöffen, Vikare und alle anderen mit ihm zufrieden: niemals seit Menschengedenken hatte es einen trefflicheren Christus gegeben. Davon strahlte auch ein gewisses Ansehen auf die ganze Stadt Furnes zurück.

Ivo Mabbes Seele selbst war dahin gelangt, seiner prächtigen, gewellten Lockenmähne zu gleichen: so wie diese auf die Dauer lockig geworden war, so hatte auch jene einen Anflug von Heiligkeit bekommen.

Manches Mal sagte er zu Cordula:

»Ich bin noch immer der Chorknabe von ehemals geblieben: Ich bin noch immer der, der einstmals die geweihten Kerzen für die Messe aussteckte und den Weihkessel schwang.«

Seine Seele war noch immer vom Jahrhunderte alten Weihrauch der Kirche erfüllt, ein stilles, demütiges Seelchen, so schweigsam wie der kleine Laden mit seinem blankgescheuerten Ladentische und den kleinen Samensäckchen. Ein Strahl von Tageslicht drang zwischen den Dächern der gegenüberliegenden Häuser durch und ließ die Wage im Halbdunkel des Ladens aufblitzen. Auch in Ivos Seele drang solch ein Strahl aus jenem Winkel des Himmels, wo ewige Klarheit herrscht, und erleuchtete das Innere seines Gemütes. Seit einiger Zeit hatte er seine Besuche im Wirtshaus eingestellt, wo er seine Pfeife geraucht und auf den Boden gespuckt hatte, wie es selbst die Apostel und Propheten von Furnes taten. Die versagten es sich auch nicht, gelegentlich einmal kräftig zu fluchen. Im Sommer jedoch war er manches Mal in den Kegelbahnen unter den Lauben längs der Wälle zu treffen, wo er dem Spiele eifrig zusah. Wenn nötig, ließ er auch seine Meinung vernehmen, als ein Gerechter, der die guten Würfe von den schlechten wohl zu unterscheiden weiß. Aber meistens blieb er daheim, um im Evangelium des heiligen Matthäus zu blättern oder dem Gesang seines Finken im Käfig zuzuhören. Noch niemals hatte er jemandem gezürnt.

Und doch war Ivo nur ein schlichter Krämer, der mit Seilen und Körnern handelte. Die Leute des Städtchens hatten sich daran gewöhnt, ihn nicht mehr anders als Christus zu nennen. Und Christus wurde von Maria Magdalena geliebt. Das war eben so eine Geschichte wie so viele andere auch.


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