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XIX.

Als Ivo Mabbe eines Abends wieder zu den armen Leuten der Hintergäßchen kam, wunderte es ihn, die Tochter des langen Brad nicht vorzufinden. Es bereitete ihm immer ein eigentümliches Vergnügen, sie so nahe bei sich zu wissen, wie sie in einer Ecke des Zimmers kauerte und ihn unverwandt aus ihren matten Augen anstarrte, darin ein sanfter Irrsinn flackerte.

»Ilje?« fragte er.

Der alte Lump lachte. Er machte eine Bewegung in die Richtung der Dünen.

»Da drüben!«

Dann zuckte er die Achseln, wie einer, der gegen eine geheimnisvolle Macht, die weit größer als die seine, nichts auszurichten vermag.

»Freund Brad,« sprach Ivo in strengem Tone, »was wollet Ihr dem lieben Gott antworten, wenn er Euch fragt, was Ihr aus Eurem Kinde gemacht habet?«

Der Strandhausierer warf seine Mütze zu Boden und brummte:

»Ich werde ihm antworten: Ich hab' nichts anderes aus ihr gemacht als du, lieber Gott.«

Und dann fluchte er wieder kräftig. Ivo bemerkte, daß er wieder einmal ganz schrecklich angetrunken war. So wandte er sich denn an den alten Maurer, dessen hölzerne Beine wie zwei Mörserkeulen auf den Boden stampften. Ob denn niemand wisse, was aus Ilje geworden sei. Aber auch dieser Mann lachte nur. Schließlich antwortete er ihm, daß Ilje um diese Jahreszeit immer ganz toll werde. Alljährlich, wenn die Wasser nach Laich zu riechen begännen, ziehe es die kleine » Zeemarminne« ganz unwiderstehlich nach dem Meere hin. Dann könnte man sie am Strande mit schlechten Burschen sich herumtreiben sehen, lachend und singend wie eine richtige Meereshexe. Dann und wann schlüpfte sie auch des Nachts zu Wishje Brad, ihrem Oheim. Der träfe dann die Kleine in der Früh im Stalle, neben dem Eselchen liegen: mitunter schliefe sie tagelang, ohne wach zu werden. Dann hörte man wieder, sie habe sich bei einem der Eselvermieter am Strande verdingt und führe die Damen und Kinder des Badeortes auf einem alten Esel mit weißen Augenbrauen spazieren.

Christus fühlte sich sehr traurig werden.

An diesem Tage erzählte er ihnen aus dem Leben Jesu. Er sagte ihnen, daß alles, was der Heiland getan, nur für sie geschehen sei. Ivo meinte damit, für die Armen und Verlassenen, wie sie es waren, habe der Heiland sich geopfert. Sie aber faßten das so auf, als wäre Christus tatsächlich auf seinem Esel nach Furnes gekommen, um ihre Väter, ebensolche arme Ausgestoßene wie sie, zu erlösen. Ivo stellte die Begebenheiten lebendig dar, als hätten sie sich eben erst gestern ereignet. Die Gemeinde bewunderte ihn:

»Er ist wirklich der Christus! Er kann eine ganze Stunde lang sprechen ohne auszuspucken!«

In dem engen Raume pafften alle mächtige Rauchwolken aus ihren Pfeifen. Ivo hustete dann und wann, aber seine Stimme tönte mit unverminderter Kraft weiter. Er sprach zu ihnen wie zu den armseligen Fischern: Christus wolle keine Reichen um sich haben, das himmlische Reich sei für die Enterbten; eines Tages würde sich alles wenden, die heute die letzten seien, würden morgen die ersten werden … und so weiter.

Schließlich wußte er das alles schon auswendig.

Ab und zu schlug Brad mit seinem langen Stecken mitten in den Haufen hinein: es gab immer irgend jemanden aufzuwecken, gerade in demselben Augenblicke, da der Seilhändler ihnen ein besseres Leben versprach. Aber öfters schlug auch Brad in seiner Trunkenheit daneben; dann wurde geflucht und mit den Fäusten gedroht. Da jetzt gerade die beste Jahreszeit für den Fischfang war und alle gute Geschäfte machten, waren die meisten von ihnen ebenso berauscht wie Brad. Es kam ein Augenblick, da sie Ivos Prophezeiungen ins Lächerliche zogen und ihn mit Zwischenrufen unterbrachen:

»He, Christus! wenn die Zeit gekommen sein wird, brauchet Ihr nur Euren Esel zu besteigen. Padekekox, der Bucklige, wird die Trommel rühren, und wir werden bei den Reichen alles kurz und klein schlagen!«

Dieser Gedanke nistete sich allmählich so tief bei ihnen ein, daß der arme Christus am liebsten seine Worte zurückgenommen hätte, da er merkte, zu weit gegangen zu sein. Er versuchte sie zu überzeugen, daß sie den Sinn der Worte falsch verstanden hätten, der Heiland wolle keine Gewalttaten, jedes Ding werde zu seiner Zeit kommen, ohne daß jemand auch nur ein Haar auf dem Kopfe gekrümmt werden dürfe.

Einer der Männer spie ihm seinen Kautabak an den Kopf. Daraufhin sprangen die anderen auf und schrien:

»Der echte Christus hätte nicht so gesprochen … Der da hier ist ein Betrüger. Alles, was er sagt, ist Schwindel … Er narrt uns herum … Er weiß ganz gut, daß es uns nie besser gehen wird …«

Sie bedrohten ihn mit den Fäusten. Brad mußte sich dazwischen werfen. Er schleuderte seine Mütze zu Boden, sandte ihr seine Joppe nach und brüllte, seine Hemdärmel zurückstreifend, mit schrecklicher Stimme:

»Wer sich untersteht, ihn auch nur mit dem kleinen Finger zu berühren, der …«

Der Mann, der seinen Kautabak auf Christus geschleudert hatte, hob ihn knurrend auf. Eigentlich aber schien keiner Brads Drohung für ganz ernst zu nehmen. In gehässigen Tönen murrten sie:

»Na, wenn er wirklich so ein Christus ist, wie er sagt, so soll er doch mit uns kommen! Wir werden ihm nichts tun. Er soll mal mit dem Bürgermeister und dem Richter reden, mit den Leuten, die die Gesetze machen, ihnen soll er sagen, wie Christus über die Dinge dachte. Was soll denn aus uns werden, wenn sich nicht jemand findet, der sich unserer annimmt und unsere Rechte verteidigt? Um unsere Fische zu verkaufen, läßt man uns Steuer zahlen, ebenso dafür, daß wir sie den Fischern abkaufen; als ob wir danach nicht das Recht hätten, mit ihnen zu machen, was uns beliebt. Das Brot ist viel zu teuer! es bleibt einem kaum etwas zu trinken übrig. Das muß alles anders werden, wir wollen nicht länger mehr zusehen!«

Christus versuchte ein letztes Mal, ihnen gütlich zuzureden; es graute ihm nun vor dem Gedanken, daß er selbst derjenige war, der sie zur Empörung getrieben hatte.

»Höret mich an … ich meine es euch gut … Christus hat gesagt …«

Und da sie ihn höhnisch, drohend umringten, schleuderte er ihnen Geldmünzen entgegen:

»Da habt ihr etwas, mit dem man euch lenken kann, ihr erbärmlichen Menschen, ihr!«

Er empfand Erbarmen und Verachtung zugleich. Sie fielen über die Münzen her, die nach allen Richtungen hin rollten.

Christus sah ein, daß alle seine Bemühungen eitel waren. Es drängte ihn, allein zu sein, und er wanderte nach den Dünen. Lange irrte er dort herum, unablässig in seinem Evangelium des heiligen Matthäus lesend. Das Meer erklang in langgezogenem, seidigem Rauschen. Die Segel der Fischerboote blähten sich in dem leichten, wie Kinderatem fächelnden Lüftchen. Eine unendliche Güte pulste hier wie das Herz der Welt. Und Ivo fühlte sich tief unglücklich, da er einsah, daß er sich in den Menschen und in sich selbst getäuscht hatte.

»Herr! Herr! So hast du mich verlassen?« seufzte er.

Der Abend brach herein; er schloß das Buch. Und mit großen Schritten wanderte er vom Dorfe zur Stadt zurück, ängstlich bemüht, den armen Fischern auszuweichen, die auf der Schwelle ihrer Hütten ihre Pfeifen rauchten. Was sollte er ihnen antworten, wenn sie mit ihm von Christi Lehre sprechen würden?

Bald nahm ihn der Abendschatten auf, die Nacht stieg von den hohen Bäumen, die die Landstraße umrahmten, auf die Erde herab. Von fernher kam der dumpfe Hauch der Felder zu ihm herüber; von einem Glockenturme ertönten dreimal die feierlich-ernsten Schläge des Angelus und verloren sich dann im klaren Blau des dunkelnden Himmels. Hunde schlugen an, als sie jemanden an den Häusern vorübergehen hörten.

Andächtig faltete Ivo die Hände: unter den ersten Sternen lag die Welt so friedlich da, daß man es schier kaum begreifen konnte, warum nicht jedermann glücklich sein konnte. Endlich sah er die Laternen der Stadt am Ende der Landstraße aufleuchten. Hin und wieder erkannte ihn jemand und begrüßte ihn als Christus. Das bereitete ihm jedesmal eine arge Verlegenheit, als liehe er dadurch einem Betrug bereitwillige Unterstützung.

Als er um die Ecke bog, gewahrte er Cordula, die mit dem Erbauungsbuche unterm Arme nach Hause ging. Da es gerade Monatschluß war, dachte er, daß sie wahrscheinlich von der Beichte käme, um am nächsten Morgen die heilige Kommunion zu empfangen. In den wohlgeordneten Häuslichkeiten wurde diese heilige Pflicht ebenso pünktlich eingehalten wie der Waschtag: so hatten die Gewissen immer denselben lieblichen frischen Duft, wie das frisch gewaschene, auf den Stricken flatternde Linnen. Die Kanarienvögel zwitscherten in den Häusern, als sollte es Sonntag werden. Christus wurde es weich ums Herz.

»Ach,« seufzte er, »und es hätte nur von mir abgehangen, der Gatte einer solchen Frau zu werden!« Er fürchtete ihren Seelenfrieden zu stören und wich ihr deshalb aus.

»He, Christus!« rief eine Stimme hinter ihm, »wollt Ihr Euch nicht die Schriftgelehrten im Tempel anhören? Sie sind heute da drinnen zur Generalprobe versammelt!«

Er wandte sich um. Der gutmütige Badilon, der Negerkönig mit den wulstigen Lippen, stand vor ihm. Er wies mit dem Zeigefinger nach den hellerleuchteten Fenstern des »Himmel.«

Ivo überlegte, daß Barbara höchstwahrscheinlich schon darauf wartete, ihn bei seiner Heimkehr mit einer Flut von Vorwürfen zu empfangen. Wenn er zu den Schriftgelehrten ging, so konnte er wenigstens hoffen, noch eine Stunde zu gewinnen. So betrat er mit Badilon die niedrige, verqualmte Wirtsstube.

Um einen großen Tisch herum saßen die Rabbiner mit ernsten Gesichtern, jeder einen Bierkrug vor sich und aus einer langen Pfeife rauchend. Einer nach dem andern richtete seine Frage an den Jesusknaben oder antwortete ihm, so wie es geschrieben stand. Zoethamel, der Kuchenbäcker, hatte die Rolle des Jesus übernommen und sagte für ihn die Sprüche her. Niemand verstand es so gut wie er, seine Stimme zittern zu lassen, um ihr einen volltönenden Klang zu geben. Bei der Prozession, wo er seit zwanzig Jahren den ersten Schriftgelehrten gab, klang sie feierlich und weihevoll, alle anderen weit übertönend. Er war es auch, der den andern Rabbinern einsagte, wenn das Gedächtnis sie verließ, und verbesserte, wenn sie schlecht aufsagten. Er konnte manches Mal sehr zornig werden und ganz fürchterlich fluchen. Niemand würde glauben, daß ein Mensch, der so viel Zucker und Honig in seine Kuchen tat, imstande sei, eine so bittere Strenge beim Eintrichtern der Rollen aufzubieten.

Als Christus in die Helle des Saales trat, fühlte er sich ein wenig verwirrt und von dem monotonen Gemurmel der Stimmen betäubt. Da er vom dunkeln Meere hergekommen und unter dem Schatten der Bäume gewandelt war, hatte seine Miene ein wenig Ähnlichkeit mit dem verschreckten Blick einer aus dem Neste gefallenen Eule. Und doch hätte er in seiner Eigenschaft als Christus erhobenen Hauptes eintreten und seine Stimme laut erheben sollen, gebührte doch ihm das letzte Wort in diesem langen Disput. Während eines Augenblickes wandten sich aller Gesichter ihm zu.

Ivo hatte seine Mütze abgenommen und hustete in seine hohle Hand. Nachdem er mit dem Negerkönig an einem Nebentische Platz genommen, begann er sich allmählich für den Disput zu interessieren. Zum ersten Male bedauerte er, daß er, während er in gemessenem Tempo auf seinem Esel in Jerusalem Einzug hielt, so gar nichts zu reden hatte.

Was ihn in dieser Rolle gegenüber seinen Vorgängern auszeichnete, war, daß er nicht mit der Wimper zuckte und kein Fältchen seiner Haut sich bewegte, ähnlich wie ein wächserner Jesus, der auf einem Esel reitet. Das hatte noch niemand vor ihm so gut gekonnt. Und siehe da! nun wäre es ihm plötzlich angenehm gewesen zu sprechen!

Da nicht weniger als zwölf Schriftgelehrte anwesend waren, zog sich die Debatte ins Endlose. Zuerst ereiferten sie sich untereinander über die Ankunft des Messias. Dann fragte sie Jesus, ob sie glaubten, daß dessen Erscheinen nahe bevorstände. Er fragte auch, ob sie sich gewisser Ereignisse, die zwölf Jahre früher in Judäa stattgefunden, erinnerten. Einer der Rabbiner antwortete darauf, er erinnere sich sehr wohl eines hellfunkelnden Sternes, der sich zu Herodes' großem Kummer am Himmel gezeigt hatte. Der Betreffende brüllte seine Rede so fürchterlich, daß ihn der Kuchenbäcker zur Mäßigung ermahnen mußte.

Hierauf befragte Jesus die Schriftgelehrten nach den Prophezeiungen. Sie gaben ihre Ansichten kund; und er legte die seinen dar. Man konnte wirklich meinen, ein Konzil von Gottesgelahrten zu hören. Und alle wunderten sich nicht wenig, bei einem so jungen Knaben so viel der Weisheit anzutreffen.

Das Unglück war nur, daß alle gleich dem ersten, der sich der Ankunft des Sternes entsann, eine merkwürdige Neigung zum Schreien hatten.

Nur der sechste und der neunte, ein Uhrmacher der eine, der andere Buchhalter bei einem Seifenfabrikanten, sprachen in ruhigem, gemessenem Tone, denn alle beide waren an methodische und präzise Arbeit gewohnt.

Dann und wann ging die Türe auf. Es trat einer der Propheten ein und ließ sich ein Glas Bier servieren, ganz wie ein gewöhnlicher Bürger. Bald war es Isaias oder Jeremias, Zacharias oder Osias. Heute unterschieden sie sich in nichts von den übrigen Sterblichen, weil sie nicht ihre langen, weißen Barte trugen. Und es schien sie nicht im mindesten zu erzürnen, durch den Disput der Schriftgelehrten zu erfahren, was sie alles einstmals, in grauer Vorzeit, gesagt haben sollten.


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