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XVII.

Man begann gar seltsame Dinge über diesen Ivo Mabbe zu munkeln, der sich für den wahren Christus hielt. Manche Leute versicherten, daß er seine ganze Zeit in den kleinen Hintergäßchen verbringe und dort ein Evangelium predige, das dem von den Herren Pfarrern in den Kirchen gelehrten gar sehr wenig glich. Der lange Brad und er unterhielten sich auf offener Straße miteinander wie zwei dicke Freunde. Dabei warf sich der lange Brad öfters mit dröhnenden Faustschlägen in die Brust. Niemand hätte jedoch zu sagen vermocht, was die beiden miteinander redeten.

Diese Ilje war auch niemals weit von ihnen; er verjagte sie nicht mehr wie in früheren Zeiten. Namentlich seit jenem Wunder in der Karfreitagsnacht war es, als herrschte zwischen ihnen eine Art geheimnisvollen Einverständnisses. Einmal hatte man ihn in der Dämmerung mitten in der Straße das Kreuzzeichen über sie machen gesehen. Gerade in diesem Augenblicke war der Küster vorübergegangen. Der lief zu den Aposteln, um ihnen brühwarm die Neuigkeit zu erzählen. Barbara erfuhr es von der Krämerin und diese wieder hatte es vom Bäcker. Während einer ganzen Woche fühlte sich dann Ivo unsäglich elend. Übrigens mochte nun diese kleine »Zeemarminne« ihre Schollen ausrufen, soviel sie wollte: es fanden sich nur mehr ganz wenige, unabhängige Leute, die ihr noch etwas abkauften. Es hieß, eine seltsame Liebe zu Christus sei in sie gefahren, und sie ward für das Städtchen ein Gegenstand öffentlichen Skandals. Ivo Mabbe war um so tadelnswerter, weil er diese schlimme Neigung des Mädchens noch zu begünstigen schien.

»Christus ist total verrückt«, sagte der König Herodes und gab so dem Gedanken einer ganzen Anzahl ehrsamer Bürger Ausdruck.

So war nun jener Zeitpunkt des Jahres herangenaht, wo das leise Heiligkeitslüftchen, das mit Beginn der Fastenzeit zu säuseln begann, immer stärker und stärker wehte, bis zu dem Tage der großen Prozession. Eine fromme Regsamkeit machte sich unter den verschiedenen Bruderschaften geltend, die da waren: die »Erzbruderschaft vom Heiligen Herzen Jesu«, die vom »unbefleckten und hochheiligen Herzen Mariä«, die Bruderschaft vom »Berge Karmel«, vom »Skapulier«, die vom »seligen Tod«, vom »Paternoster« und »Rosenkranz«. Die »Sodalität« ihrerseits hielt allwöchentlich sehr besuchte Versammlungen ab unter dem Vorsitze des Obervikars, der gleichzeitig der Leiter der Prozession war. Klein, braun, runzelig und dürr, wie eine getrocknete Pflaume, die Haare bürstenartig gesträubt, stechende Blicke unter den dichten Brauen, fegte José Ribosia mit flatternder Soutane umher, vor fanatischem Eifer glühend. Seit zehn Jahren war er die Seele der Prozession, in allen Traditionen dieser bemerkenswerten Festlichkeit, sowie in sämtlichen auf sie bezughabenden Dokumenten wohl bewandert. Zwei der Schöffen, der Notar, der Steuereinnehmer und der Apotheker waren für eine Erneuerung der Kostüme in biblischem Stile gewesen. Der Vikar hingegen hatte die Ansicht verfochten, daß man den eigenartigen Reiz gewisser Anachronismen, wie sie zur Zeit der spanischen Herrschaft in Flandern bestanden, beibehalten müsse. In dieser Zeit war nämlich das Mysterium vom Leben und Tode des Heilands, wie es zu Furnes um 1422 herum gespielt wurde, als Sühne für die von einem lothringischen Soldaten begangene Schändung an der heiligen Hostie, zu einer Bußprozession umgewandelt worden.

Seine Ansicht war durchgedrungen: Herodes durfte auch fernerhin seine Stulpenstiefel, seinen Degen und den Hofmantel tragen; Pilatus inmitten seiner Räte Barett und Toga eines Großinquisitors. Überdies zeichnete der Vikar stets selbst die Modelle, wenn eines der Kostüme erneuert werden sollte. Snellerts, der Glasmaler in der Stadt, den er wegen der Farben um Rat anging, beschränkte sich darauf, ihm die Töne anzudeuten. Niemand vermochte mit mehr Beredsamkeit über die Prozession zu sprechen als José Ribosia. Wenn er sie schilderte, beim Klange der Kirchenglocken durch die Straßen ziehend, mit ihren langen Reihen von Büßern im härenen Gewand, Mönchen, Bruderschaften, Henkern und Söldnern, so stampfte er vor Fieber und wildem Glaubenseifer mit den Füßen; es war, als wohnte er im Geiste der Verbrennung eines Ketzers bei. Er sprach mit großer Gewandtheit, doch bewirkte ein leichter Sprachfehler, daß es immer klang, als wäre ihm ein Stückchen einer Zwiebelschale an der Zunge hängen geblieben.

Eines Abends, als die Sodalität sich wieder versammelt hatte, klatschte der Vikar in seine Hände und rief, es befände sich ein räudiges Schaf unter seiner Herde, ohne jedoch Ivo direkt anzusehen. Es war aber gerade so, als hätte er Ivos Namen genannt. Sofort wandten aller Blicke sich Christus zu. Maene Daele, der Schneider, schmunzelte mit Genugtuung in seinen langen Bart. Pilatus, dem noch der Eisenfeilstaub am Gesichte klebte, imitierte unwillkürlich das Gekreisch einer Feile in einem kurzen Auflachen. Der alte König Melchior blinzelte verständnisvoll zu Balthasar hinüber. Ivo war, die Blicke senkend, erbebt, denn er merkte, daß sein Ansehen als Christus Schiffbruch erlitte.

Der Geistliche blickte ein paar Sekunden unverwandt auf das Kruzifix an der Wand und fuhr dann hastig zu sprechen fort.

»Der Teufel mengt sich oft, den dunklen Mächten zunutze, in unsere besten Absichten ein: Was man Jesus zuliebe zu tun glaubt, tut man häufig für den Bösen. Ivo Mabbe, gedenket aller derer, die zur Sühne für ihr Ketzertum den Scheiterhaufen besteigen mußten!«

Unruhig flackerten die Schmetterlingsflammen des dreiarmigen Gaslusters im Luftzuge und meißelten die harten Knochen seines mageren Gesichtes noch schärfer heraus.

Die Kirche der Inquisition lastete auf dem armen Christus mit ihrem ganzen Drucke. Es fror ihn unter seiner Haut. Jetzt hätte ihm zur Stärkung seines Mutes eins der Worte des Heilandes einfallen sollen, die er alltäglich in seinem heiligen Matthäus las.

Abermals richtete der Vikar das Wort an ihn:

»Jedem das seine, Ivo Mabbe. Eure Sache ist es nicht, andere zu retten, Ihr habet Euch selber zu retten. Und vergesset im übrigen nicht, daß in Furnes kein Mangel an guten Christussen ist!«

Das sprach er voll verächtlicher Ironie, die rückprallend, auch den schönen Schneider verletzte, als würde er, der zum Himmel fahrende Christus, nun auch in einen Topf mit den Armeleutechristussen geworfen.

Ivos ganzer Körper erschauerte bei dem Gedanken, daß eines Tages ein anderer auf dem Esel in Jerusalem einziehen könnte. Da wollte er lieber gleich sein ganzes Geschäft aufgeben und weit, weit fortziehen, an einen Ort, wo ihn niemand kennen würde. Tiefes Schweigen herrschte im Saale. Ivo hörte eine Uhr in der Stube im Erdgeschosse ticken, so laut wie der Pulsschlag seines Herzens. Er wandte nun ebenfalls seine Blicke zum Kruzifix. Seine Lippen bewegten sich, er murmelte: »Ach, Herr! Ich bin nur ein Körnchen Staub in deinen Händen!« …

Er fand keine anderen Worte in dieser schweren Prüfung.

Nun erörterte der Vikar die Notwendigkeit einer großen Kollekte zur Deckung der Kosten, die durch Erneuerung der leckgewordenen Kostüme verursacht würden. Es war der alljährliche Brauch, bei den Einwohnern der Stadt für die Prozession zu sammeln. So ersetzte die öffentliche Wohltätigkeit die behördlichen Unterstützungen.

Der Priester sprudelte dann die Einzelheiten hervor: »Die Lammfelle der vier Hirten sind von Motten zerfressen. Sie wurden bereits einmal ausgebessert. Dann die Mäntel der Schriftgelehrten: drei davon sind bis zum letzten Faden abgenützt. Überdies mußten die Kürasse und Helme frisch aufgebosselt werden … Und die Engel haben Hängerisse an den Flügeln. Es ist wirklich ein Skandal, daß die Heiligen so schlecht angezogen gehen müssen, indes euch, ihr Stadtleute, niemals das Geld ausgeht, um euch mit neuen Gewändern herauszuputzen.«

Der Schneider schnitt eine Grimasse; diese Anspielung auf eine Ausgabe, die ihm ohnedies mit Rücksicht auf seinen Beruf niemals groß genug erschien, war durchaus nicht nach seinem Geschmacke. Ungeduldig zerrte er an den langen Spitzen seines schönen Bartes und blies sich in die Backen. Der alte Magierkönig, Kas Onkelaer, der neben ihm saß, hustete ein paarmal in seine Hand, während er überlegte, wie er wohl den Prunk eines morgenländischen Königs mit seiner bescheidenen Pension eines einstmaligen Gendarmen in Einklang bringen könnte. Er mußte Herodes aufwecken, der seit geraumer Zeit ein wenig geräuschvoll schnarchte, die riesenhaften Hände friedlich über dem Bauche gefaltet.

Der »Sodalität« fehlte es aber auch nicht an Standespersonen, wie dem Notar, dem alten Richter, dem Brauer, dem Steuereinheber. Die brauchten sich nicht erst mit einem falschen Apostelbart zu schmücken, um im Leben etwas zu bedeuten. Diese beschlossen, daß unter der ganzen »Sodalität« eine Sammlung veranstaltet werden solle, ohne die ärmeren Mitglieder davon auszuschließen, da der Pfennig des Armen Gott noch wohlgefälliger sei, als der Reichen. »Welcher Hohn!« dachte Ivo Mabbe bei sich. »Der, der nichts besitzt, muß für den bezahlen, der alles hat. Aber so war es immer, auch schon zu Jesu Zeiten.«

Die Abendglocken klangen von dem nahen Kirchturme herüber, und die Sitzung wurde geschlossen.

Ivo empfand das Bedürfnis, einem zärtlich ergebenen Herzen seinen Kummer anzuvertrauen. Er litt eine dumpfe, tiefe Pein; er fühlte sich als ein so nichtig Ding im Leben, und die Mißbilligung des Geistlichen lastete mit schwerem Druck auf seinen Schultern wie ein Kreuz. Hoch über Christus, über den Königen, den Aposteln, den Propheten, hoch über allen waltete die Geste einer Hand, die im Beichtstuhle die Absolution erteilte oder das Scheidebrett unerbittlich herabfallen ließ.

Ivo wanderte die Hauptstraße hinab, um einigen Mitgliedern der »Sodalität« aus dem Wege zu gehen, deren unzarte Neckereien er fürchtete. Schließlich schwenkte er ab und bog in eine stille Gasse ein, die ihn vor Cordulas Haus brachte. Ein schwacher Lichtschein drang durch die Spalten der Fensterläden hervor. Er pochte dreimal ganz sachte an; und mit einem freudigen Aufschrei öffnete sie ihm. Geräuschlos schloß sich dann hinter ihnen wieder die Türe. Ivo reinigte umständlich seine Schuhe an der Strohmatte, ehe er endlich in die warme Stube trat, die das ruhige Licht einer guten Lampe erhellte.

Er gewahrte auf einem Stuhle beim Fenster ein Strickzeug, einen Rosenkranz und zwei Makronen. Cordulas ganzes Leben war in diesen drei unscheinbaren Dingen eingefangen. Den Rosenkranz abgehaspelt und die Makronen geknabbert hatte sie mit der gleichen schlicht-einfältigen Tugendhaftigkeit, mit der sie auch die langen Nadeln ihres Strickzeuges kreuzte. »Welch tüchtige Hausfrau ich an ihr haben würde!« dachte Ivo, sich in diesen friedlichen Eindruck tief versenkend. Ruhe, Freude und Glück und schließlich ein sanfter Tod nach einem behaglichen Altern – das alles versprach ihm dieses Haus, wo stets der Kessel auf dem Herde summte, der Spind strotzte von süßen Magenfreuden und die alte Treppe aus schwerem Eichenholz zum breiten Lager der Liebe führte, das so groß wie eine Barke war. Ivos Seele ward weich und schmelzend wie die Erde zur Zeit des Tauwetters. Er fühlte, daß er jetzt die Hand seiner Freundin ergreifen und ihr das Wort sagen müsse, auf das sie schon so lange wartete. Gott mochte wissen, was nachher kommen würde.

Als Cordula seine verstörten Züge sah, stieß sie einen Schrei aus.

»Kleiner Nazarener, was ist denn mit Euch?«

Er sank in einen Stuhl nahe dem Feuer, und ein Schluchzen stieg ihm die Kehle herauf, wie der Eimer in einem Ziehbrunnen.

»Ach Cordula! … Goldenes Herz! … Zuckerherz! …«

Sie streichelte seinen Nacken; wie ein lindes Lüftchen strichen ihre Seufzer über Ivos Lockenhaar. Mitleidig, teilnahmsvoll, mütterlich, gütig war ihre Liebe. Die warme Liebkosung ihrer molligen Hand, die er am Nacken fühlte, tat ihm wohl.

»Ein Stückchen Torte würde Euch vielleicht gut tun, lieber Freund«, meinte sie.

Gerade an diesem Tage hatte sie sich ein paar Fruchttörtchen geleistet. Eines hatte sie noch übrig gelassen; das brachte sie ihm nun. Er hatte jedoch keinen Hunger. Sein Herz quoll ihm über, und er erzählte ihr all sein Leid. Sie ward der erquickende Quell der Liebe und Zärtlichkeit, darin er seinen Durst nach brüderlichem Tröste stillte. Maria Magdalena ward sie wieder, mit den nimmerversiegenden Augen. Lange flössen ihre Tränen, reichlich und lind; und ihr zärtliches Schluchzen klang wie Taubengegirre. Und unter der warmen Flut, die seine Schläfe netzte, fühlte er sich fast glücklich. Mit einer plötzlichen Wendung nach rückwärts vergrub er seinen Kopf in die bauschige Fülle ihres Leibchens und nestelte sich hinein.

»Kleiner Nazarener«, sprach sie mit tröstendem Lächeln, das ihre Tränen bespülten.

Und er wiederholte wie eine Litanei:

»Cordula! … Goldenes Herz! … Zuckerherz! …

Sie lachte wieder, aber an ihrem Auge hing noch eine dicke Träne wie eine Glasperle, darin sich die Lampe, der Tisch und Ivo selbst spiegelte. Sie fühlten sich wieder so leicht und befreit, daß sie plötzlich die Lust nach etwas Gutem verspürten. So ging sie denn zum Schranke und holte eine Schachtel Brügger Biskoten hervor. Und beide taten sich gütlich.


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