Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XV.

In der Nacht zum Karfreitag, ein wenig vor Mitternacht, kamen eine Unmenge Bauern und Fischer nach Furnes: alle wandten sie sich dem Hauptplatze zu. Sollte vielleicht ein Ketzer verbrannt werden wie zur Zeit der Inquisition? Die Leute wußten es recht gut, aber niemand empfand das Bedürfnis, darüber zu reden. In den Wirtshäusern huschten hinter den Vorhängen geheimnisvolle Schatten vorüber. Ein gedämpftes Stimmengewirre stahl sich durch die Türen, als erwarteten die da drinnen bei Tabak und Bier dasselbe Ereignis wie die anderen draußen. Im »Engel« waren die Schriftgelehrten und der Hof des Herodes versammelt. Die drei Könige hingegen hatten sich in dem Wirtshause, das ihren Namen trug, zusammengefunden. Im »Himmel«, wo das Bier bekanntermaßen immer einen Geschmack nach Neige hatte, war es heute ebenso voll wie überall. Die Gesichter blickten alle ernst und nachdenklich drein, man fühlte, daß die Dinge, die da kommen sollten, für das Leben der Leute von großer Wichtigkeit war. Indessen waren die Wohlhabenden nur in spärlicher Anzahl anwesend. Der König Herodes war nach beendeter Billardpartie heimgegangen, um sich niederzulegen. Für sein Schlächtergewerbe bedeuteten diese Tage Ruhetage, die ihn nun zum Menschheitsverächter werden ließen.

Die armen Leute aber waren alle da, doppelt elend und bleich in der kalten Nacht, mit dürren Knochen, die die Haut wie die Spitzen einer Egge durchbohrten. Bisweilen erhob sich aus einem der Seitengäßchen ein wüstes Getöse von schreienden, singenden und mit der Faust auf die Tische paukenden Leuten. Die Polizisten, die wohl wußten, daß sich dagegen nichts machen ließ, schliefen im Wachtlokale in aller Seelenruhe neben dem Ofen, den Säbel zwischen den Beinen. Sie hatten richtige Landsknechtgesichter mit buschigen Schnauzbartes wie auf dem Bilde, das die Geißelung darstellte.

Und man wartete. Der Wind pfiff wie ein Schwarm Stare im Schilfe in den unablässig plätschernden Regen, der zwischen den Dächern herniederrieselte. Es stiegen schon vereinzelte Gebete auf, ein Stimmengewirre summte durch die Nacht.

Endlich erschien der Küster. Es wurden Fackeln angesteckt, und der gewaltige Menschenblock setzte sich in Bewegung, auf dem Straßenpflaster die Schatten der ausgemergelten, hinfälligen Körper zertretend. Die meisten hielten ihre Schuhe an den Senkeln in der Hand. Das gedämpfte Getrappel der nackten Füße verhallte in der Stille der Nacht.

Christus hatte sich ebenfalls dem Volke beigesellt. Obwohl er Christus war, trug er die reuige Demut eines armen Fischers zur Schau. Seit einem Monate fastete er: die ganze Fastenzeit hindurch hatte er nach jeder Messe die Stationen des Leidens Christi durchgemacht. Eine große körperliche Erschöpfung war die Folge davon. Jetzt trottete er mitten in der Menge einher, der Regen klebte ihm die Haare an die Schläfen. Er hätte sich auch gerne seiner Schuhe entledigt, um barfuß wie die Armen einherzugehen. Aber seit dem letzten Tauwetter bereitete ihm eine Frostbeule arge Beschwerden. Und übrigens war er auch nicht so ganz sicher, ob sich dieses ein wenig derbe Zeichen der Demut mit seiner Christuswürde vereinbare. Hätte jedoch einer der anderen Erlöser es getan, so würde er seinem Beispiele gefolgt sein. Mitten unterm Beten warf er flüchtige Blicke nach rechts und links hin, um zu erspähen, ob der kreuztragende Christus und der Auferstehungschristus auch gekommen waren. Maene Daele aber schlief höchstwahrscheinlich während dieser Zeit neben seiner Frau, einer rundlichen Dame, die auch ganz gut bei der Prozession eine Maria Magdalena hätte darstellen können. Ivo suchte ihn also vergeblich, und da stets eine gewisse Rivalität zwischen ihnen herrschte, so empfand er keine geringe Genugtuung, auf dem Wege der Heiligkeit um so viel weiter vorgeschritten zu sein. Schließlich ist es nur natürlich, daß ein jeder an sich denkt, pflegte er zu Cordula zu sagen: er wäre nicht derjenige gewesen, der dem Schneider den Weg zum Paradiese erleichtert hätte. Und dann betete er unermüdlich weiter, voll Inbrunst und voll Erbarmen mit den Leiden seines göttlichen Meisters.

Plötzlich kam ein Stillstand in die gestauten Massen. Man hatte die erste Leidensstation erreicht, eine alte, schon vielfach zersprungene Sudelei, Christus vor Pilatus darstellend. Der Küster hustete, spie aus, dann hob er die Hand nach dem Gemälde empor und sprach:

»Leute, jetzt müßt Ihr Eure Augen weit aufmachen, denn hier wird unser Heiland verurteilt. Alsogleich wird unser Herr auch sterben, um euch von der ewigen Verdammnis loszukaufen. Seht, wie sich der böse Pilatus die Hände vom Blute Christi reinigt. Ist das nicht eine Schande fürs ganze Menschengeschlecht?«

Seine Stimme klang in die feuchte winterliche Nacht hinaus. Und die Stille war so tief, daß man sie weithin im Städtchen hörte. Langsam und trübselig schleppte sie sich dahin, mit großen Pausen, während welcher er schnaubte und sich auch herzhaft die Nase schneuzte. Es war der Brauch, bei jeder Station ein Vaterunser und ein Ave herzusagen.

Das verworrene Stimmengemurmel der Beter verstärkte sich. Die sprühenden Fackeln schienen die Leinwand mit Blut zu bespritzen. So oft sie sich im Winde bauschte, schien ein Schauer von Leben über Christus zu huschen. Unglückseligerweise aber gemahnte das Porträt des Christus mit seinen gewöhnlichen, gedunsenen Zügen viel eher an das eines Lastträgers. Trotzdem aber war das kleine Völklein der Bauern und Fischer tief ergriffen, als es diese von Elend und Regen durchtränkte Leidengestalt sah. Sie schluchzten vor Mitleid und Schmerz, dicke Tränen rollten ihnen aus den Augen. Alle Stimmen murmelten durcheinander. Dazwischen ertönte hoch am Himmel der Schrei eines Seevogels.

Die Fackeln setzten sich wieder in Bewegung. Hintennach humpelte die Menge, stapfend und stammelnd, mit gebeugten Rücken.

Plötzlich entdeckte Ivo mitten unter den Fischern den anderen Christus, Christus den Kreuzträger, der ein Papierwarengeschäft innehatte. Ach ja, der da war wahrhaftig ein frommer Mann und dabei so demütig, daß er viel eher einem der Armen des Gnadengottes denn diesem selber glich. Ivo hatte ihn stets um seine Schlichtheit beneidet, wenn auch selbstredend ein großer Unterschied zwischen so einem armseligen »Kreuztragenden« und dem schönen »Palmsonntags-Christus«, wie er, Ivo Mabbe, es war, bestehen mußte. Er streckte den Hals vor und suchte zwischen dem Gewimmel der Beine zu erspähen, ob der Papierhändler ebenfalls seine Schuhe ausgezogen hatte. Seine Schwiele bereitete ihm mit jedem Schritte mehr Schmerzen.

Und wieder stand die Menge still. Eine barbarische Malerei, an einem Nagel aufgehängt, zeigte Jesus, den Kalvarienberg erklimmend. Es war abermals eine abscheuliche Sudelei aus Schwarz, Rot und Gelb, die man allenfalls als Jahrmarktschild hätte gelten lassen können. Der Küster spuckte aus und sprach. Christus auf dem Bilde schien ihm mit zugewandtem Kopfe zu lauschen.

Immer höher schwoll das Fieber und die Glaubensglut. Wishje Brad, der sich mit allen seinen Söhnen eingefunden hatte, verschluckte sich in kindlichem Schluchzen. Der Papierhändler hob mitten unter demütigen Gebeten seinen Blick zum gemalten Christus empor, um zu sehen, ob dieser sein Kreuz auch ebenso gut zu tragen verstünde wie er. Endlich konnte Ivo durch eine Lücke in der schwarzen Menschenmasse sehen, daß jener barfuß ging. Neben diesem gewaltigen Glaubenseifer, der selbst körperliche Leiden auf sich nahm, fühlte er die Unzulänglichkeit des seinen.

» Miserere nostri, Domine«, sprach der Sakristan.

»Amen!«

Mit einem gewaltigen Ruck, wie ein Lastwagen, der sich in Bewegung setzt, drängte die Menge nach jeder Station vorwärts. In allen Straßen, an allen Ecken flatterten die elenden Bildfetzen der Passionsgeschichte an eingeschlagenen Nägeln in Kälte und Regen. Christus stürzte zum ersten Male unter der Last des Kreuzes zusammen; dann ein zweites Mal. Blut und Schmutz besudelten seinen Leib, das Elend der Welt lastete immer schwerer auf seinen ermatteten Gliedern. Als er bei der siebenten Station zum dritten Male in den Staub rollte, fühlte man den Tod fast an sich selbst. Er stützte sich mit den Händen auf den Boden; und es schien, als hätte ihm bereits eine grünliche Fäulnis Wangen und Augenhöhlen angefressen.

»O, ihr Christen, o ihr Leute, da sehet jetzt her, wie ihr unseren Heiland zugerichtet habet!« hob der Sakristan von neuem an. »Ist das nicht schaudervoll, daß er unterm Kreuze zusammenbrechen muß, indes ihr, trotz eurer zahllosen Sünden, eure Köpfe aufrecht zwischen den Schultern tragt?«

Aus den Reihen der Fischer stiegen laute Wehklagen auf: man meinte das Meer hinter den Dünen stöhnen zu hören. Wishje Brad hielt den Mund weit aufgesperrt, ein Schluchzen blieb ihm in der Kehle stecken. Ein alter Bauer stieß in einem Anfalle wilder Glaubensekstase kurze grimmige Schreie hervor, die alle anderen Laute beherrschten.

Auch Ivo hätte es gerne jenen gleichgetan; aber es ging nicht. Diese lange Zeit der Fasten und Kasteiungen hatte seine Spannkraft gelähmt. Der Papierhändler hingegen, der schien unter der Wucht eines unsichtbaren Kreuzes so tief zusammenzubrechen, daß er mit seinen Armen fast die Erde berührte. Eine schwere Last krümmte ihm das Rückgrat, aber er klagte nicht, und aus dem Beben seiner Lippen sah man, daß er betete. Er war der Mann, den man in dieser schauerlichen Nacht zum Marterpfahle führte.

Die Leidenstationen und die immer schrecklicher werdenden Malereien gemahnten wirklich an Beinhäuser. Als Jesus bei der zehnten Station seiner Kleider beraubt wird, wies sein Körper die blutige Magerkeit eines von einem Felsblock zermalmten Menschen auf. Der Sakristan sprach:

»So, ihr Leute, ihr Christen, da sehet ihr nun unseren Heiland so nackt wie ein kleines Kindlein. Er zittert vor Kälte, er hat nur noch die Haut an den Knochen. Könnt ihr ruhig mitansehen …«

Der Tod malte sich auf den Gesichtern, die sich in Angst, Grauen und Liebe verkrampften. Der Papierhändler schwankte mit verzerrtem Angesicht. Die Turmuhr holte zum Schlage aus, gleich einer Totenglocke. Die Gaslaternen an den Straßenecken brannten wie hohe Wachskerzen.

»… daß eine solche Schmach geschieht?«, vollendete der Sakristan.

Da berührte jemand Ivo's Schulter.

»Wir sind da, Christus! Es soll nur einer versuchen, mit Euch so umzugehen wie mit ihm!«

Mit komischer Wildheit wies der lange Brad auf die Männer auf dem Bilde, die Jesus die Kleider vom Leibe rissen. Der Seilhändler war arg betroffen, daß der Raufbold Brad auf diese Weise ihre Beziehungen öffentlich enthüllte.

» Miserere nostri, Domine!« betete der Küster.

» Amen

Wie eine Woge rauschten die Vaterunser und Ave dahin. Die Perlen der Rosenkränze klapperten wie kleine Muschelchen zwischen den Fingern; unaufhörlich hörte man das gedämpfte Stampfen der nackten Füße.

Schwankend und wankend erreichte die Jammerschar die Ecke eines engen Gäßchens, wo man beim roten Schein der Fackeln Jesus mit entsetzlich blutendem Leibe auf dem Marterkreuze hängen sah. Seine nach außen verdrehten Füße schienen mit einem Hammer zertrümmert worden zu sein.

Abermals schneuzte sich der Sakristan, dann sprach er:

»Da seht ihr nun, ihr Christen: Christus ist tot; und ans Kreuz haben sie ihn genagelt, wie den letzten der Menschen!«

Brads schnapsgeschwängerter Atem raunte Ivo zu:

»Ist das wirklich so, wie er sagt, Christus?«

Ivo tat einen Schritt vorwärts, um sich von Brad zu befreien; allein dieser ließ ihn nicht los, von Branntwein und ehrlichem Mitleiden erhitzt. Und allmählich begann diese Anhänglichkeit Ivo zu rühren.

Schon seit einigen Stationen war der Zudrang geringer geworden. Die heiligen drei Könige waren einer nach dem anderen abgezogen. So oft der Zug um eine Ecke bog, verschwanden ein paar Schriftgelehrte oder Propheten. Diese hofften noch irgend eine Schenke offen zu finden, um sich »eine kleine Nachtmütze« zu holen, wie sie sich ausdrückten. Nur die Landleute und die Fischer, die kleinen Handwerker und das ganz arme Volk zogen noch weiter mit.

Sie gelangten zu dem Gemälde, das die Grablegung darstellte. Wie eine Schaufel voll Erde fielen die letzten Worte in die Nacht. Und ein allerletztes Mal sprach der Sakristan:

» Miserere nostri, Domine

» Amen

Ein seltsamer Aufschrei, wie der Schrei eines verwundeten Tieres, erklang plötzlich hinter Ivo Mabbe. Er wandte sich um und sah etwas auf das Straßenpflaster rollen.

»Das ist die Zeemarminne, die Teufelin, die Heidin ist's!« schrie ein Mann. »Man muß sie ins Meer werfen!«

»Ilje, aufstehen!« schrie der lange Brad und wollte sie in die Höhe ziehen.

Sie aber regte sich nicht und lag wie eine Tote im Straßenschlamm. Die anderen standen alle um sie herum und starrten neugierig auf sie herab. Der Vater rief sie mehrmals beim Namen, dann stieß er eine Verwünschung aus. Mit einer heftigen Gebärde schleuderte er endlich Ivo seine Mütze vor die Füße.

»Christus, schließlich ist sie doch von meinem Blute. Könnt Ihr denn gar nichts tun?«

Ivo Mabbe erbebte.

»Was sagt dieser Mann?«

Ganz bleich und starr stand er da, nicht ein Laut vermochte über seine Lippen zu dringen.

»Christus, … Christus«, wiederholte Brad, demütig seine Knie berührend.

Und dabei wies er immer auf Ilje am Boden.

Nun begann Ivo Mabbe erst leise, dann immer lauter zu sprechen:

»Herr! … O Herr! … O Herr!«

Er zitterte am ganzen Körper, seine Augen funkelten wie zwei Lampen in der Nacht. Man sah ihn auf dem schmutzigen Pflaster niederknien, und dann begann er mit großer Inbrunst zu beten:

»Lieber Gott! ich glaube an dich und deine Wundertaten! Lieber Gott, lasse es geschehen, daß diese hier, wenn ich sie zum dritten Male rufe, ins Leben zurückkehre! Lieber Gott, lasse es also geschehen, damit alle diese armen Leute an dich glauben, so wie ich selbst!«

Er streckte seine Hände über ihr aus, ohne sie zu berühren, und, eine Falte ehernen Willens zwischen den Brauen, beschwor er sie aus den Tiefen seiner Seele:

»Ilje! Ilje! Ilje!«

Sie schlug die Augen auf und erhob sich. Ivo zeigte sich nicht erstaunt; er machte das Zeichen des Kreuzes über sie und blickte nach oben, in weite Fernen empor.

»Herr! Herr!« murmelte er noch einmal.

Er fand keine anderen Worte. Er fühlte eine köstliche Frische in sich, wie in einem blühenden Rosengarten. Seine Augen waren feucht, voll unsäglicher Milde.

»Ach Christus!« sprach Brad.

Und auch er wußte zunächst nichts anderes zu sagen. Als aber Ilje wieder auf beiden Beinen stand, lud er Ivo und alle anderen zu einer Runde im Wirtshause ein. Dabei pochte er auf die Tasche.

Da sprach Ivo betrübt:

»Hat Gott nur deswegen Eure Tochter wieder auferweckt, unwürdiger Vater?«

Als sie ihn dann suchten, war er verschwunden. Und die kleinen Handwerker sprachen untereinander, bedächtig mit den Köpfen wackelnd:

»Ja, ja, er ist's, Christus!«


 << zurück weiter >>