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IV.

Sonntag Morgen in Flandern. Ein leichtes, sanftes Lüftchen streicht vom Meere herüber und weht durch die hohen Pappeln der Landstraße. Die kleinen Fischerhäuschen in kalkweißem Gewände unter den roten Dächern spiegeln in ihren Fensterscheiben die silbernen Wölkchen wider. Alle Fischer haben, nachdem sie die ganze Woche gefischt, ihre Netze auf den Feldern ausgebreitet; ihre braunen Maschen bilden bewegliche Schatten auf dem lichten Sande.

Hinter den Zäunen blühen noch Malven und Sonnenblumen; sie scheinen Ausschau zu halten, ob nicht jemand komme. Und die Düne ringsum zittert in bläulich schillernden Farbenschauern; eine Wolke feiner kristallener Stäubchen tanzt in dem bleichen Scheine der Sonne.

Ivo geht die Landstraße entlang, die von Furnes nach La Panne führt. Er trägt keinen Stock in der Hand, wie die Stadtleute; und leise pfeift er zwischen seinen Lippen eine alte Weise vor sich hin. Hinter den kupfer- und purpurfarbenen Stämmen, die kerzengerade zu beiden Seiten des Weges standen, sah er die grünen Rübenfelder, Viehtriften und langen Striche von Ackerland, da und dort von schmalen Linien von Erlen und Weiden unterbrochen. Ab und zu schimmerte ein kleiner Kanal zwischen wohlgepflegten, steil abfallenden Böschungen hindurch. Oder es schlängelte sich ein schmaler Pfad wie ein Rosenkranz durch die Wiesen und erreichte einen Kirchturm, dessen Spitze man in der Höhe verschwinden sah. Die von Dünger strotzende Erde dampfte bläulich und rot, als wallte aus einer offenen Kirchentür der Weihrauch hervor. Und darüber schwebte ein tiefes, ruhiges Schweigen in der Natur. Bisweilen schob ein alter Gaul seinen schweren Kopf über einen Zaun. Es war ein wahres Herrgottwetter.

Nun gelangte Ivo in das Bereich der Pachthöfe. Mit ihren großen, kläffenden Kettenhunden, den rosigen Ferkelchen, die für Weihnachten gemästet wurden, den niedlichen Fohlen, die mit ihren schmächtigen Beinchen nicht anders als ein Spielzeug aussahen, und den zahllosen Schwärmen von Hühnern auf den Düngerhaufen glichen sie wahrhaftig lauter Archen Noahs. Wilder Wein und Hopfengewinde umrankte die roten Dächer. Hier müßte es gut weilen sein, wenn man einmal sehr alt wäre, in einem großen hölzernen Schaukelstuhle sitzend, die Hände auf den Knien gefaltet. Die Beete mit dickem Blaukohl prangten in voller Blüte.

Ivo wanderte bedächtig dahin; er hatte keine Eile, an sein Ziel zu gelangen, ebensowenig wie die Bäume an der Landstraße. Die Sonne wärmte ihm behaglich die Schultern. Wenn der Wind ein wenig heftiger wehte, so glitt ihm ein leichter, wohliger Schauer über die Haut. »Herr, Herr!« dachte er bei sich, »wie schön ist doch alles. Dank sei dir gebracht, o Herr, daß du die Menschen so reich gesegnet hast!« Er wagte nicht, sich einzugestehen, daß einem während der übrigen Tage der Woche noch immer genügend Zeit bliebe, um über das Elend der armen Leute nachzudenken.

Ja, wahrhaftig, alles hatte ein sonntägliches Aussehen, der Himmel, das Pflaster der Landstraße, die Sonnenblumen hinter den Hecken, die kleinen, niedrigen Fischerhäuschen, die mit ihren grünen und weißen Läden aussahen, als hätten eine Anzahl Barken dem Dorf einen Besuch abstatten wollen. Dichte Schwärme von Tauben zogen durch die Luft. Der Ochse scheuerte sein Winterfell am Stamme des Apfelbaumes. Vor den Haustüren spielten kleine Kinder, nur mit einem Hemdchen bekleidet, mit der Katze. Wenn Jesus Christus in eigener Person nach Flandern gekommen wäre, hätte ihm an solch einem köstlichen Sonntagmorgen in den Dünen warm ums Herz werden müssen!

Ivo ließ seinen etwas längeren Arm schlaff zur Erde hinabhängen und beobachtete seinen vor ihm herwandelnden Schatten. »Mein Schatten und ich sind zwei und eins,« flüsterte er, »so wie ich und unser Heiland am Tage der Prozession.« Kaum hatte er also gesprochen, bekreuzigte er sich auch schon demütig.

Da aber der Schatten immer vor ihm her glitt, mußte er an das Kreuz des Heilands denken, das über die ganze Welt einen so großen Schatten geworfen hatte. Er streckte die Arme weit aus: und da lag es vor ihm, auf dem hellen, bläulichen Pflaster des Fahrweges, wie die beiden Arme des Kreuzes selbst, daran Ivo mit seinem langmähnigen Haupte und dem mageren Halse gleichsam wie angenagelt erschien.

Diese Erscheinung verursachte ihm eine lebhafte Freude, und einige Augenblicke hielt er seine Arme in Kreuzesform ausgestreckt. Die Fischer hinter ihren Fenstern, die ihn vorübergehen sahen, sagten ernsthaft:

»Da geht Christus. – Sicherlich denkt er über etwas Besonderes nach.«

Die niedrigen Fenster der Wirtshäuser winkten mit den Augen. Jeden Augenblick ging irgend ein Gast hinein und war dann, ein Glas Ingwer in Magenhöhe vor sich, in steifer Haltung vor dem Schanktisch zu erblicken. Einer der Fischer, der bereits etliche Gläschen hinter die Binde gegossen, begann plötzlich laut zu lachen. Er stand auf der Schwelle einer Kneipe und rief mit einer heiseren Stimme:

»Christus! Christus … willst du nicht ein Gläschen mit uns trinken?«

Aber dieser machte nur eine ablehnende Geste mit der Hand und schritt unbeirrt seines Weges. In früheren Zeiten, als er noch unter den Lauben Kegel schob, wäre er unbedingt eingetreten. Damals widerfuhr es ihm auch wohl ab und zu, daß er selbst ein Gläschen zuviel trank. Er tat dort nichts anderes, als alle übrigen auch taten und noch tun: er schrie und schlug, angeregt durch den Schnaps, mit der Faust auf den Tisch. Seitdem er jedoch Christi langes, violettes Gewand trug, war ihm die Freude an diesen Gelagen vergangen.

Es fiel ihm auf, daß das Gelächter und Geschrei in den kleinen Kneipen umso wüster und lärmender wurde, je tiefer er in das Dorf eindrang. Manche fluchten wie die Besessenen, und das versetzte Ivo jedesmal einen Stich in die Brust. Hätte man seine eigene Person unter dem heiligen Namen verspottet, so hätte er auch nicht mehr leiden können. Seine Freude war dahin. Jetzt war es mit dem Sonntag zu Ende, sowohl in Flandern wie in seinem Herzen. Aus der Ferne rief er ihnen zu, wie es in der Bibel steht:

»Ihr sollet den Namen des Herrn nicht mißbrauchen!«

Nicht einer hörte ihn an; einige riefen ihm »Nazarener« nach, um ihn zu verhöhnen. Und er dachte an ihr Elend, für das sie keine andere Linderung als den betäubenden Alkohol hatten. Er schlug ein Kreuz und sprach mit erhobener Stimme:

»Wer sonst wohl soll ihnen in ihrer Verlassenheit zu Hilfe kommen, wenn nicht du, oh mein Herr Jesus Christus, der für sie auf dem Kreuze gestorben ist?«

Bei der Wegkreuzung begegnete er dem Pfarrer, der vor ihm den Hut zog: und das war sein besonderer Stolz, diese Ehrerbietung von Seite des Pfarrers. Gleich zeigten sich auch eine Menge Köpfe an den Türen und grüßten ihn mit einem kurzen Nicken des Kopfes, wie kleine, mechanische Schafe in einer Krippe.

Er trat bei der dicken Otje Ryckboer ein, die ein Schnittwarengeschäft nächst der Herberge » Zum Pelikan« besaß. Sie war eine Verwandte von Cordula; diese ließ sie bitten, ihr mit der Fahrpost ein Stück roten Barchent zu schicken, dessen sie für einen Unterrock benötigte.

Otje bot ihm eine Tasse Kaffee an, den sie für ihn frisch bereiten wollte.

»Nein,« sagte er schalkhaft lachend, »es erwartet mich jemand draußen in den Dünen.«

Und er dachte dabei an seinen kleinen Esel, an den Esel des Heilands, der da draußen zwischen den bitteren Dünenkräuter weidete.

Alle vierzehn Tage stattete ihm Ivo einen Besuch ab und kehrte dann wieder zufrieden in die Stadt zurück.

Ivo verließ also die Krämerin und schlug einen mitten durch den Ort führenden Pfad ein. Bald versanken die Fischerhäuschen und Kneipen hinter den weißen Sandhügeln. Ein unbestimmter Geruch von gebratenen Schollen begleitete ihn noch eine Zeitlang, dann verflüchtigte sich auch dieser. Und Ivo war jetzt ganz allein und schritt über die kleinen Dünenstiefmütterchen hinweg, die so blau wie die Schalen winziger Muschelchen waren. Die wohlige, warme Einsamkeit war durchtränkt von salzigen und Joddüften. Und die sich endlos vor ihm ausbreitenden grasreichen Höcker der Dünen ließen ihn in Erinnerung der Bilder, die er einst von Judäa gesehen, an die Wüste denken, durch die Christus geschritten war. Rings umher lag tiefstes Schweigen: man hörte nicht einmal das Meer, nur den leisen Gesang des Windes, der surrend wie ein Bienenschwarm über die Dünen strich. Und abermals fühle Ivo sich glücklich.

Er betrachtete die Erde. Er pflückte ein Stiefmütterchen und wiederholte ein paarmal halblaut: »Cordula … Cordula« … Nichts anderes. Als ob die einfache Wiederholung des geliebten Namens allein genügte, sein Leben gänzlich auszufüllen. Dann und wann hüpfte ein rötliches Kaninchen aus einem Gebüsche hervor. Ein paar Möwen hatten die Abdrücke ihrer winzigen Füßchen im Sande wie ein Muster von kleinen Ankern hinterlassen. Auch Abdrücke von Eselshufen sah man in größerer Menge. Zuweilen bückte sich Ivo auf den Boden, und als er etwas Mist erblickte, meinte er, sein Eselchen müsse hier vorübergekommen sein. Er lachte leise in seinen welligen Bart.

»He! Christoph, Eselein Gottes!«

Auf der Spitze eines Hügels weidete das Tier, niedlich und klein, mit einem silberhaarigen Fell und einem dickgefressenen Bauch zwischen den vier schlanken Beinen, die in Pik-Aß ähnliche Hufe endeten. Der Esel erkannte die Stimme und sah aufmerksam mit seinen klaren Schmelzaugen unter den weißen Wimpern den herankommenden Ivo an. Einen Augenblick lehnte sich Ivo an seinen dicken, schwarzen Kopf, streichelte ihm die Nüstern und kraute ihm die warmen Ohrmuscheln.

Eine richtige Freundschaft verband die beiden miteinander: für Ivo war es nicht anders, als wohnte ein Teil seiner Heiligkeit da draußen in den Dünen, während er hinter seinem Ladentisch die Bindfaden abmaß. Es waren etwas mehr als drei Jahre her, seit Barbara und er ihn bei einem Fischer in Lombartzyde erstanden hatten. Der Esel zählte damals vier Jahre. Der Pfarrer des Dorfes hatte ihn selbst zur Bezeugung seines Amtes scherzhaft mit dem Namen Christophorus getauft. Da der Name ein wenig zu lang war, hatte man ihn abgekürzt. Und so kam es, daß der Esel Christoph hieß, ganz wie ein Mensch.

Ivo wollte nicht zugeben, daß das Tier, das den Heiland während seines Einzuges in Jerusalem trug, durch gewöhnliche, alltägliche Beschäftigungen verunglimpft würde. Deshalb hatte er das Eselein der Pflege eines Fischers, des rechtschaffenen Wishje Brad anvertraut, auf daß das Tierchen den ganzen Sommer über frei in den Dünen weiden könnte und im Winter gutes, trockenes Heu in seinem Stalle bekäme. Nur Ivo Mabbe konnte in diesem Lande so außerordentliche Einfälle haben! Auf die Dauer verwunderte sich schon niemand mehr über ihn. Man begnügte sich einfach zu sagen, »daß Christus eben nicht so wie jedermann sei«.

Der Esel war durch ein dunkles Kreuz über dem Rücken ausgezeichnet, als trüge er ein Meßgewand. Für Ivo war das gleichsam ein Zeichen seiner Vorbestimmung, obwohl Christoph genau so eigensinnig wie alle anderen kleinen Eselein war und dasselbe geheimnisvoll träumerische Auge wie alle übrigen Grautiere besaß.

Nachdem Ivo ihn genug gestreichelt hatte, zog er einige Stücke Zucker aus der Tasche; der Esel zerkaute sie voll Behagen und wedelte mit dem Schwanze. Dann näherte er seine Nüstern Ivos Tasche und versuchte mit seinen Lefzen nach dem Sack zu schnappen, in dem sich der Rest des Zuckers befand. Ivo hatte fast ein ganzes Pfund mitgebracht. Bei jedem neuen Stück zeigte Christoph ein leichtes, glückliches Lächeln, und Christus lachte ebenfalls.

Bisweilen verscheuchte Ivo die Fliegen mit einem leichten Klaps, oder kraute ihm mit dem Fingernagel den Widerrist. Den Esel schien das weiter nicht zu verwundern. Und um sie her strich sacht der Wind wie ein sanftes Wort des Evangeliums. Zu ihren Füßen hielt sich ihr Schatten unbeweglich still, brüderlich aneinandergeschmiegt. Auf einem benachbarten Hügel ließ ein hochbetagtes Grauchen, ein Dünengreis, seine langen Ohren wie Windmühlenflügel tanzen. Etwas weiter davon drehte sich noch ein Paar solcher Ohren unter dem blauen Himmel. Wer aufmerksam Umschau hielt, der konnte dann in allen Richtungen solche Ohren über den Kämmen der Dünenhügel spielen und ähnlich wie Semaphore Zeichen geben sehen. Es war ein wahres Herrgottwetter auch für die Esel der Umgebung.

Allmählich ging der Zucker zu Ende. Nachdem Ivo dem Esel das letzte Stück gegeben, nahm er des Tieres Kopf in beide Hände und blickte ihm tief in die Augen. Der Himmel spiegelte sich darin wider, unendlich, klar, wie am ersten Schöpfungsmorgen der Welt. Kein böser Gedanke war je in diesen unschuldigen Augen aufgetaucht. Der weite Raum, die Wolken, die ganze Unendlichkeit spielte in ihnen. Ivo bückte sich und sah sich selbst mit seinen menschlichen Zügen ganz, ganz klein, wie in einem Zauberspiegel; und hinter ihm, in weiter Ferne, schwebten zwei weiße Möwen im Himmelsraume. – Vielleicht wußte der Esel, woran Ivo gerade dachte. Ivo dagegen verstand nicht immer, was der Esel zu ihm sprach. Hoch oben blieb ein kleines Wölkchen, rund wie ein Wattebäuschchen, stehen, um zu sehen wie süß und trostreich solch eine Freundschaft zwischen Mensch und Tier sei.

Ivo machte sich endlich auf den Weg nach dem Fischerhäuschen – ein rotes Dach hinter einer Umfriedung von Weiden. Der Esel folgte ihm artig nach. Als Wishje Brad seinen Namen rufen hörte, kam er herbei. Der Fischer hatte Ringe in den Ohren, frischrasierte Wangen und ein Büschel Haare am Kinn. Er war mager, schweigsam, unterwürfig. Er hielt die Hände über die Brust gekreuzt und blickte traurig und grau wie das Meer in die Welt. Sanft und schüchtern, war er wirklich der richtige Mann aus Judas Stamme, der Jesus überallhin folgte, wo er eben predigte. Er pflegte von sich zu sagen:

»Ich, Wishje Brad, ein solches Nichts im Leben …«

Er hatte zehn Kinder, und bei jeder Geburt, die ihn wieder um etwas ärmer machte, pries er Gott. Ivo liebte ihn um seiner schlichten, gläubigen Seele willen. Alljährlich, am Tage der Prozession, ging Wishje Brad zur Stadt. Im härenen Büßergewande, das ihm bis zu seinen nackten Knöcheln reichte, zog er mit einigen anderen Brüdern den Auferstehungswagen, daran sie sich wie Ochsen vorspannten.

Wishje seinerseits verehrte Ivo als Christi leibhaftiges Ebenbild. Wenn Ivo zu ihm sprach, lauschte er ihm andächtig, mit der Mütze in der Hand.

Ivo redete ihn lächelnd an:

»Freund Brad, Ihr seid einer derer, von denen der Herr gesagt hat: ›Ihr seid das Salz der Erde‹.«

Ivo trug stets das Evangelium des heiligen Matthäus bei sich; er hätte bloß das Buch aus der Tasche zu ziehen gebraucht, um Seite und Vers zu finden. Brad neigte den Kopf, ohne das Gleichnis verstanden zu haben; aber was immer der Seiler sprach war für ihn, als stünde es in den Sternen geschrieben.

Der kleine Fischer nötigte Ivo einzutreten, und alsogleich kam auch Wanna, seine Frau, herbei. Als sie Christus erkannte, begann sie sofort die Kaffeemühle in Bewegung zu setzen; dann schlug sie einige Eier in die Pfanne. Ivo ließ sich mit gesegnetem Appetit beim Tische nieder und netzte jeden Bissen mit einem ausgiebigen Schluck Kaffee. Seit langem hatte es ihm nicht so gut geschmeckt. Gelegentlich warf er auch ein heiliges Wort dazwischen, so wie es einem richtigen Manne Gottes geziemt; oder er sprach von der Erde, den Feldern, die nun bald bis zum nächsten Frühjahre dahinsterben würden. Alle diese seine Worte nahmen in dieser ärmlichen Hütte am Meere einen gewissen religiösen Doppelsinn an.

Er fragte, ob die älteren Kinder nicht zu Hause wären. Da es jedoch Sonntag war, so waren sie in ein anderes entlegenes Dorf gegangen. Nur die jüngsten Fünf spielten draußen in den Dünen. Er ließ sie holen, aber nur drei kamen herbei. Nachdem sie Ivo gesegnet hatte, gab er ihnen die Karamellen, die er mit dem Zucker in Otje Ryckboers Laden gekauft hatte. Wanna Brad meinte, daß die anderen wahrscheinlich mit diesem kleinen Wildfang, der Ilje, ans Meer gelaufen seien. Ein wenig beschämt erklärte sie, daß Ilje die Tochter eines in der Stadt lebenden Bruders ihres Mannes sei. Während der »Saison« verdinge sie sich bei den Dünenbauern als Eseltreiberin und biete mit nackten Füßen, einen Stecken in der Hand, den Badegästen ihren gesattelten Esel an. Während seine Frau das erzählte, ließ Wishje den Kopf hängen.

Ivo erinnerte sich jetzt: der lange Brad, wie man ihn allgemein nannte, war eine berüchtigte Straßenfigur, ein Trinker und Raufbold, der statt einer anderen Beschäftigung mit Krabben in den Häusern hausierte. Und Ilje ihrerseits lief im Winter in abgerissenen Kleidern mit brennenden Blicken in den Straßen umher, einen Henkelkorb am Arme, und rief mit ihrer schrillen Stimme:

»Schollen! … Kleine Schollen zu verkaufen!«

Sie mochte wohl schon an die sechzehn Jahre alt sein, war dabei mager und platt wie die kleinen Fischchen, die sie verkaufte; und ihr Mund war infolge einstiger Krämpfe verzerrt geblieben. Man hielt sie für halb verblödet. Sie war eines jener Saatkörner des Elends, die auf dem Straßenpflaster der Städte zu sprossen pflegen, ohne jedwelches Verständnis für das Gut oder Böse. Von Zeit zu Zeit lief sie mit irgend einem Taugenichts ihrer Sorte davon. Dann sah man sie und ihn in den Dünen vor dem Meere sitzen, wie ein junges Ehepaar. Kam sie endlich von solch einem Ausfluge heim, dann bearbeitete sie ihr Vater mit seinen Holzpantoffeln. Ihre Mutter war einstmals, vor Jahren, im Bache erfroren aufgefunden worden; die hatte erst recht getrunken!

Genau genommen, empfand Ivo eigentlich einen geheimen Abscheu vor dieser niedrigen, immer wieder ins Böse zurückfallenden Sorte Menschen. Sein Vater, der alte Seilhändler, hatte dank seiner Ordnungsliebe und Sparsamkeit unter den besseren Leuten von Furnes den Rang eines wohlangesehenen Bürgers erworben. Ivo selbst hätte nicht Christus werden können, wenn er mit solchem Gesindel verkehrt hätte. Allein der gute Kaffee, das frische Brot und der Eierkuchen stimmte ihn in diesem Momente zu freundlichem Wohlwollen. Er nickte mit dem Kopfe und dachte in der behaglichen Verdauungstimmung an das Wunder von der Vervielfältigung der Brote. Und dann sah er mit halbgeschlossenen Augen durchs Fenster auf das Meer hinaus, ohne ein Wort zu reden. Wishje Brad saß neben ihm, etwas vorgebeugt und ebenfalls schweigend. Die ganze Sonntagstille der Dünen lag zwischen ihnen.

Ein seltsames Gesicht mit flachsfarbenen Haaren preßte sich plötzlich an die Scheiben. Eine Zeitlang blieb es unbeweglich hinter dem Fenster stehen und beobachtete Ivo mit stechenden Augen und verzerrtem Munde. Und er erkannte in dem Gesichte jene Ilje, die in der Stadt Fischchen verkaufte … Aber der Schlaf begann ihn bereits zu übermannen; er schloß das rechte Auge; das linke zwinkerte noch einen Augenblick; eine bleierne Schwere kroch durch seine Glieder.

»Herr …!«

Zwei volle Stunden hindurch schlief Christus. Als er erwachte, begann die Sonne bereits zu ermatten. Noch einmal streichelte er sein Eselein und ging dann die Dünen entlang, um auf dem Strandwege heimzukehren. Wishje Brad sah ihm von der Schwelle seiner Hütte nach, wie er die höckerigen Bodenwellen bald hinauf- bald hinunterstieg. Im Gehen knackte er Nüsse auf und schälte sie sorgfältig mit den Fingerspitzen.

Ivo Mabbe hatte nie Eile. So wie in der Sache mit Cordula, schien er auch in allen anderen Dingen stets eine Ewigkeit vor sich zu haben. Er ging die schmalen Pfade entlang; zeitweise blieb er auch auf der Spitze eines Sandhügels stehen, und verfolgte mit den Blicken die goldumhauchte Düne, die sich ins Unendliche verlor. Dann schritt er wieder langsam weiter. Als die Düne anstieg, begann das sanfte Säuseln des Windes. Ivo glaubte eine irdische Melodie herauszuhören.

Als er sich einmal umwandte, gewahrte er in einer geringen Entfernung jenes Gesicht, das ihn so eigentümlich durch die Fensterscheiben angestarrt hatte. Jetzt verstand er auch, weshalb der Wind einem menschlichen Gesange geglichen hatte: die Lippen spitzend, pfiff Ilje ein Schifferlied. In der Hand hielt sie einen Weidenzweig und peitschte damit den Sand. Aus ihren zerlumpten Röcken blickten die spindeldürren Beine hervor.

Ivo ward verdrießlich. Er ging weiter und tat, als hätte er Ilje nicht gesehen. Erst als er nahe dem Strande war, drehte er sich noch einmal nach ihr um. Und wieder sah er, daß sie ihm gefolgt war; jetzt hatte sie sich flach auf den Boden geworfen, so daß nur ihr Kopf aus einer Sandfalte hervorguckte. Und mit ihrem schiefen Munde lachte sie ihn geräuschlos an. Die hartnäckige Verfolgung dieser Dirne ärgerte ihn; mit großen Schritten eilte er dem Meere zu. Erhaben wölbte sich der bleiche Himmel über die am Strande nebeneinander gereihten Fischerboote. Aus dem Meere stiegen feine Nebel empor. Die Sonne erlosch allmählich in violetten Feuergarben. Bisweilen fiel ein glühendes Scheit aus dem Feuermeere herab und setzte von Ort zu Ort die kleinen Tümpel in Glut. Für die Barken wie für die Esel, für das ganze Land war's das Ende eines Tages, an dem Jesus abermals über die Erde gewandelt zu sein schien. –

Ivo wanderte am Strande dahin. Glatt wie Öl, drängte das Meer sein schaumiges Wogenspiel gegen die Küste. Er blieb ein wenig stehen, um die Muscheln, die jede neue Welle herausschwemmte, zu beobachten. Milliarden anderer blitzten aus den Schaumkronen auf, wie eine Decke aus Gold und Perlmutter. Er mußte an das kleine Gärtchen des heiligen Königs Onkelaer denken. Auch die trichterförmig aufgeworfenen Sandlöcher, die die Regenwürmer bohrten, belustigten ihn. Meerflöhe hüpften in die Höhe. Schließlich sammelte er eine Anzahl frisch angespülter Muscheln und steckte sie in die Tasche. Jetzt dachte er nur mehr an Cordula. An den langen Winterabenden klebte sie mit ihren schönen, fleischigen Händen Nadelkissen aus Muscheln in Form von Kreuzen und heilige Herzen, die sie für den Altar im Marienmonate weihte. Christus lachte stillvergnügt in seinen goldigen Bart hinein, als er Cordulas Kunstfertigkeit gedachte. »Ja, ja,« sagte er sich, »sie wird mir eine gute Frau sein.« Daraufhin seufzte er und blickte zu einem kleinen Sternchen in die Höhe, das ihn ebenfalls anguckte. Die letzten Schimmer des Tages waren noch nicht ganz entschwunden: das unendliche Meer begann nun mächtiger über den unten Ruhenden aufzuschäumen. Da schlug Christus ein Kreuz und sprach sein Abendgebet.


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