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VI.

Indessen – Ivo Mabbe vermochte nicht seinen schönen Traum zu vergessen. Am nächsten Morgen schnallte er seine Ledergamaschen um die Beine und begab sich auf der Landstraße nach dem Strande. Ein heftiger Wind zauste ihn am Bart und Schläfenhaare. Die Bäume blähten sich wie die Luftballons. Bei jedem Schritte erzählten ihm die Leute von dem Sturme, der Nachts gewütet hatte. Er wagte nicht, ihnen zu sagen, daß er es besser als sie alle wisse, da er es war, der ihn beschwichtigt hatte. Zu einem stämmigen Fischer sprach er einfach:

»Gott hat es gewollt.«

Aber als er späterhin einer alten Frau begegnete, fragte er sie, ob nicht abends jemand erschienen sei, der mit einem Winke seiner Hand die Boote habe ruhig heimkehren lassen. Die Frau verstand nicht, was er damit sagen wollte; so verneigte sie sich, indem sie ihn als Christus anredete, und er empfand darob keinen geringen Stolz.

»Gehe,« sprach er, »und bete drei Vaterunser für alle, die heute Nacht gerettet wurden.«

Das war ein betrübender Anblick, all diese vom Unwetter verwüsteten Gärtchen! Die Malven waren über die Zäune gehüpft und lagen nun verstreut auf den Wegen, wie rote Kinderherzen. Große Äste verrammelten den Torweg der Häuser. Und er mußte an einen früheren Sturm in den ersten Tagen des Oktobers denken. Damals hatten die Fischer gesagt, es wäre eine günstige Zeit für den Heringsfang. Greise mit alterssteifen Fingern schleppten die Netze heraus, die so lang waren, daß sie am Boden ein gutes Stück nachschleiften. Überall sputete man sich, um gerüstet zu sein. Auf den Kaminsimsen blickten die kleinen, buntbemalten Boote nach den Wasserlachen in den Rinnsteinen. Da gab es Dreimaster mit hölzernen Segeln, von irgend einem Matrosen irgendwann aus Melbourne oder Sisko heimgebracht, und auch Barken, schwere Barken aus lackiertem Holze, die die Väterchen an langen Abenden geduldig geschnitzt hatten. Wenn die Katze fauchte, so glaubten sie, es sei der Segelwind, und versuchten, sich auf dem Sims zu schaukeln, als war‹ es die hohe See.

Ivo war also damals auf den Strand gekommen. Man begann all die Wasserfäßchen, Öfchen, Kohlensäcke, Kochtöpfe für die Krabben und Petroleumkännchen einzuschiffen. Wishje Brad war gleich den übrigen dabei. Einige schleppten sogar schon die Netze in die Barken, und es waren immer mehrere Mann für ein Netz. Also beladen, mit nackten Beinen, glichen sie großen Sturmvögeln mit gefalteten Schwingen. Andere waren mit großen Pinseln bewaffnet und teerten den Kiel, oder strichen mit kleinen Pinseln frisches Bleiweiß über Namen und Nummer der Barke. Das auf dem Boden aufgerollte Tauwerk glich einem Riesenaal. So wurde zu der großen Partie gerüstet, zur Zeit des beginnenden Heringszuges.

Nun waren sie alle abgesegelt: und noch kein einziger war heimgekehrt. Am Horizonte war keine Spur ihrer Barken mehr sichtbar; möglich, daß sie in der Sturmnacht einen schützenden Hafen aufgesucht hatten. Über den Häuschen brütete ein angstvoll drückendes Schweigen: die kleinen Boote auf dem Kamine lugten zur Türe hinaus, ob der Vater oder der Sohn noch immer nicht heimkehre. Alle Welt war banger Erwartung voll, selbst die kleinen, grauen Eselchen auf der Düne mit ihren schweren, gesenkten Köpfen. Seit den frühesten Morgenstunden spülte das Meer eine Menge Trümmer an den Strand.

Ivo gesellte sich zu einer Gruppe von Weibern, die mitten in Wind und Wellen standen. Es war ihm zumute, als hätte er einen Sturz aus den hohen Wolken getan. All seine Kraft, sein Wille waren dahin: er weinte in seine vorgehaltenen Hände wie ein kleines Kind. Und doch war er derselbe Christus, der in der Nacht seinem Gott in den Wolken ins Antlitz geschaut.

Keine der anwesenden Frauen achtete auf ihn – ohne ein Wörtchen zu reden, standen sie im tobenden Wind, sich mit der Hand das Haar aus der Stirne streichend, das der Sturm ihnen immer und immer wieder ins Gesicht peitschte, und in ihren fahlen Augenhöhlen spiegelte sich das ganze, grauenvolle, unendliche Meer. Plötzlich jedoch warf eine Greisin mit grimmigem Gesicht und blutunterlaufenen, vom Salz entzündeten Augäpfeln eine Handvoll Sand nach ihm und kreischte:

»Sechse sind mir schon draußen geblieben, zuerst mein Mann und dann meine fünf Jungen, einer nach dem andern. Jetzt sind noch meine letzten zwei da draußen, von wo die anderen nicht mehr zurückkommen. Fort mit dir, fort, fort, alle, die ich nicht an meiner Brust gesäugt habe.«

Er erkannte, daß sie von Sinnen sei und empfand eine so aufrichtige Betrübnis, als ob er seine eigenen Brüder verloren hätte. Eins der Weiber sprach zu der Alten:

»Das ist Christus.«

Da begann die Greisin um ihn herumzustreichen wie eine Hündin, die beißen möchte und es nicht wagt. Aber ihm kam es plötzlich zu Bewußtsein, welch grober Betrug es sei, sich den göttlichen Namen beilegen zu lassen.

»Höret mich, ihr Frauen!« rief er mit ehrlichem Schmerz, »mißbrauchet nicht den Namen unseres Heilands! Ich bin Ivo Mabbe, der kleine Seilhändler aus Furnes, nichts anderes. Alles übrige wäre schmählicher Betrug!«

Nachdem er also gesprochen, genoß er eine Erleichterung wie nach einer freiwilligen Selbsterniedrigung. Mit den Händen gestikulierend stieg er von der Düne hinab und rief ihnen mit erhobener Stimme zu, er gleiche dem niedrigsten der Erdenwürmer. Je tiefer er sich vor ihnen demütigte, desto höher stieg er in seiner eigenen Achtung; so litt er weniger unter den Schmerzen seiner Nebenmenschen. Plötzlich hörte er eine der Frauen boshaft ausrufen:

»Solche Christusse wie er laufen genug in Furnes herum. Er soll es doch nur einmal versuchen und dem Sturme Einhalt gebieten. Uns kann er mit seinen Possen nicht zum Narren halten!«

Da packte ihn die Beschämung: er wußte nicht, was er jener Frau zuleide getan hatte. Die anderen begannen ihn nun ebenfalls mit böse funkelnden Augen zu messen. Der heilige Matthäus besagte nichts darüber, was der Nazarener in solch einer Lage gesprochen hätte.

Ivo schlug den Weg nach der Landstraße ein. Aus dem taktmäßigen Pochen eines Hammers erkannte er, daß er vor der Werst Justin Ozaers, des Schiffbauers, angelangt sei. Eine große Barke richtete sich kerzengerade auf ihrem Kiel empor, eingeklemmt zwischen mächtige Stützbalken. Sie war funkelnagelneu: Kotje Smet hatte sie für dreitausend Franken bei Ozaer bestellt.

Kotje Smet war niemals weit von seinem Schiffe: er kam jede Stunde herbei, um nachzusehen, wie weit die Arbeit gediehen sei. Breitspurig, mit verschränkten Armen stand er auf seinen hohen Stelzbeinen da, ein Büschel schwarzer Borsten unterm Kinn, die Füße in mächtigen Holzschuhen. Seine Barke war sein zweites »Ich« geworden. Abends saß er auf einem Holzstoß, gegenüber der Werst, und sah sie in den letzten Schimmern des Tages wachsen. Namentlich Sonntags gab es ein Gedränge: aus allen Dörfern strömten die Leute herbei, um zu sehen, wie weit das berühmte Schiff schon sei. Ozaer sagte, es wäre das größte, das er je gebaut. Die Leute standen rings herum oder kauerten rauchend und spuckend auf dem Boden. Da waren Fischer aus Coxide, aus Lombartzijde und Blankenberghe, salzig wie die Heringe, mit Silberringen in den Ohren und großen Schirmmützen auf dem Kopfe. Bisweilen begann einer aus der Schar laut aufzulachen, während er kräftig an seiner Pfeife zog. Wahrscheinlich dachte er gerade an die kleinen »Zeemarminnen,« wie sie in ihrer flandrischen Mundart sagten, wenn sie abends in ihren Hütten von den kleinen Meerweibchen mit grünen Haaren erzählten, die in Sturmnächten aus den Fluten emporsteigen und vor den Schiffen, die dem Tode verfallen sind, einen Reigen aufführen. Ja, ja, Kotje Smets Barke mochte gut größer sein als alle anderen: an dem Tage, da die Zeemarminnen singend aus dem Meeresgrunde emportauchten, würde auch ihr Stündchen geschlagen haben, ebensogut wie das der anderen, die nie wieder zurückgekehrt waren.

Einstweilen tanzten dort oben auf der Brücke die kleinen Smets einen Ringelreigen, einander bei den Händchen haltend. Das waren die Reserven für die Zeiten, bis das Meer die älteren geraubt haben würde, vier prächtige Burschen, die stumm, mit verschränkten Armen, neben ihrem Vater standen und ebenfalls die Barke betrachteten, trotzig und doch in ihr Schicksal ergeben. Smet berechnete, wie viel Fische er wohl brauchte, um die Zinsen seines Geldes einzubringen.

»He, Ivo Mabbe?«

Mit seinen langen Schritten kam ihm Kotje entgegen. Er war ein Vetter Cordulas, durch seine Frau mit ihr verwandt. Sie hatte die dritte seiner Töchter aus der Taufe gehoben, und die Kleine war nach ihr Cordula genannt worden. Jedes Jahr schickte sie ihr drei Kleider, sechs Hemden und ein Fünffrankenstück für ein Sondervergnügen. Da Cordula Ryckboer die Reichste aus der ganzen Familie war, wurde, wenn sie zu Besuch kam, ihr zu Ehren der Kaffee frisch aufgegossen und Pfefferkuchen angeboten.

»Ivo Mabbe, gelt, Ihr seid so freundlich und sagt unserer Base, daß die Barke in der Woche von Allerheiligen fertig wird?«

Sie schüttelten einander herzhaft die Hände. Der Seilhändler hatte an Smet einen guten Kunden.

»Und es bleibt dabei, wie wir es vereinbart haben, gelt?« fuhr dieser fort. »Der Herr Vikar weiht die Barke ein, und sie wird »Cordula« getauft. Unsere Base wird uns sagen, wann ihr Namenstag ist, gelt? An diesem Tage soll Ozaer die Barke an den Strand schaffen. Und wenn Ivo Mabbe mit von der Partie sein will – so wird wohl auch für ihn Platz genug sein, gelt?«

Alles im Leben war ihm geglückt. Er sah aus wie einer, der zu befehlen verstand, das Haupt stets hoch, mit einem entschlossenen Blick. Sein ehrliches Gesicht war hart und verwittert. Er liebte es, zu sagen: »Ich, Smet«, und sich dabei kräftig in die Brust zu werfen.

»Schön, schön,« sagte Ivo spitzig, »so Gott will.« Er blies in seine Backen. Es verdroß ihn, daß man für diese Einweihungszeremonie nicht an ihn, Christus, dachte: er hätte sich ebensogut dieser Aufgabe zu entledigen gewußt wie der Vikar. Ein Karmelitermönch, der in Sankt-Walburgis die Fastenpredigt gehalten, hatte gesagt: »Wenn Christus herabsteigen und unter euch weilen würde, so würde ihn kein einziger von euch erkennen.« – – –

Ivo ward inne, daß er abermals aus Hoffart gesündigt habe: er bekreuzigte sich und murmelte ein Bußgebet. Bald hatte er das Dorf weit hinter sich. Die Bäume dröhnten wie Orgeln in dem Orkan. Plötzlich krachte gerade oberhalb seines Hauptes ein Ast; ruhig sprach er:

»Herr, erbarme dich deines demütigen Knechtes.«

Der Ast wankte, drehte sich und fiel etwas weiter entfernt zu Boden. Da erkannte er, daß er um seines Glaubens willen gerettet worden sei. Allein seine Beine wankten; wie gerne wäre er in eine der am Wege liegenden Kneipen eingetreten, um einen Schluck zu trinken. Jedoch, er fürchtete, erkannt zu werden. Glücklicherweise kam die Töpfersfrau aus Furnes mit ihrem Wagen vorbei und räumte ihm einen Platz neben sich ein. Das kleine, zottige Pferdchen sträubte von Zeit zu Zeit sein langes Winterfell, daß es aussah wie ein krauses Haferfeld. Ohne die Zügel aus der Hand zu lassen, holte die gute Frau ab und zu eine Nuß aus einem Körbchen hervor und reichte sie dem frommen Manne. Der knackte sie zwischen seinen Daumen auf und schälte sie bedächtig ab, den Rücken kugelförmig zusammengerollt, der heftigen Windstöße wegen.

So sah man an jenem Tage den kleinen Nazarener in sein wackeres Städtchen Furnes heimkehren.


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