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XX.

Jetzt schien die ganze Stadt in Judäa unfern vom Meere und zu Herodes' Zeiten zu leben. Selbst die kleinen Leute sprachen von nichts anderem als von Schäfern, Edikten und der Flucht nach Ägypten, wenn sie zum Apotheker um Rhabarbersaft oder zum Krämer um Zimmet gingen. Das Herz lachte einem im Leibe, wenn man all die kleinen heiligen Marien vorübergehen sah, so rosig und frisch, wie lauter Gärtlein voll Lilien und Rosen, und die Augen züchtig über dem Mysterium ihrer Jungfräulichkeit gesenkt. Da war des Brauers Maria, die tief verschleiert den Kreuzträgern folgt und ihre Tränen mit denen des heiligen Johannes vermengt. Und viele andere noch.

Einmal wöchentlich kam der Herr Vikar in eigener Person, um mit ihnen ihre Rollen durchzunehmen. Er war in rastloser Tätigkeit, fieberhaft erregt, von einem wilden, streitbaren Glaubenseifer befeuert. Er sah noch immer jenen Söldner Mannaert aus dem 17. Jahrhundert leibhaftig vor sich, der damals die heilige Hostie zerbiß; es war, als ließe ihn sein Abscheu vor jener Gotteslästerung noch einmal den ganzen Schmerz der gesamten, in ihrer Liebe getroffenen Christenheit miterleben. Mit dem greisen Archivarius Steerbout stöberte er stundenlang in den alten Chroniken und Stichen, um die genauesten Einzelheiten der alten Trachten zu studieren. Überall war seine wie ein Banner flatternde Soutane zu sehen. Nach Schulschluß versammelte er selbst die Engel in der Sakristei: es waren fünfzehn, die sich nach der Größe geordnet stufenweise nebeneinander reihten, gerade wie im Paradiese. Sie hatten die Ereignisse, die sich auf das Leben des Heilands bezogen, zu verkünden. Die erwachsenen Engel erzählten hauptsächlich die Leidensgeschichte Jesu, während die kleineren, mit ihren Krausköpfchen den lockigen Bildern des kleinen Johannes ähnlich, von seinen heiteren und glorreichen Stunden berichteten. Die Klosterfrauen ihrerseits lieferten eine ganze Schar vollständig abgerichteter Engelein, lauter Mädchen aus ihrer Klosterschule.

So schien denn das Städtchen ordentlich in Heiligkeit gebadet. Bei der » Getreidegarbe« hatten die acht Propheten ihre Zusammenkünfte. Isaias, Jeremias, Zacharias, Malachias, Daniel und Osias hatten je sechzehn Verse aufzusagen: Moses, der älteste von allen, hatte deren nur zwölf; mehr hätte er auch gar nicht sagen können. Aber der König David, noch ein ganz junger Mann, brachte es mühelos bis auf zwanzig. Es war nicht schwer zu erkennen, daß der Herr mit ihm war.

Die Edelleute vom Hofe des Herodes versammelten sich bei der » Edelrose.« Obgleich sie nicht mehr als fünf waren, so deklamierten sie doch mindestens für zehn: man merkte gleich, daß es Fürsten waren. Zuerst drückte Herodes ihnen seine Besorgnis um seine Krone aus und appellierte an ihre Treue. Die ersten sechs Verse mußten ihm jedesmal souffliert werden, die übrigen gingen dann von selbst. Es war stadtbekannt, wie sehr sich der behäbige, gewichtige König plagen mußte, um sein Sprüchlein zu lernen. Zweimal im Tage, nach dem Morgen- und dem Abendgebete, repetierte er entweder mit seiner Gattin oder seinem Sohne, einem zwölfjährigen, klugen Jungen. Vers um Vers wurde in sein armes Gehirn hineingestopft, ähnlich wie das gehackte Fleisch in die Wursthäute. Nun war er bereits seit zehn Jahren König, und immer noch war es das alte Lied: er konnte nicht mehr Gedächtnis aufbringen als ein ganz gewöhnlicher Metzger. Sein Stolz allein war königlich.

Sonst waren da nur noch die vier Hirten und die drei Magier, die bei der Prozession ein wenig länger zu reden hatten. Die Hirten wurden aus der Schar der Schulkinder bezogen; ihr Gedächtnis war noch jung und unverbraucht. Das gab immer ein Aufsehen, sobald sie in Wams und Koller an der Spitze des Zuges gleich hinter Krieg, Pest und Hungertod erschienen, ihre runden Gesichter in Lammsfelle eingemummelt, und dann mit ihren schrillen wie eine Ziehharmonika schnarrenden Stimmchen anhuben, über das große Wunder ganz naiv zu sprechen. Der eine hieß Coridon, der zweite Menalkas, der dritte Orpheus und Titus der vierte.

Es war so niedlich, wenn Coridon begann:

»Welch köstliche Nacht ist uns heute beschieden! Mich dünkt, als wäre all mein Leid gänzlich geschwunden. Ich fühle mich so froh bewegt und kenne doch nicht die Ursache meiner Freude.«

Dann fiel Titus ein:

»Ich bin deshalb so frohen Gemütes, weil überall, wo ich bin, auch mein Herr und Gott mit mir ist!«

Gemeinsam wanderten sie nach Jerusalem. Mit flammenden Worten boten sie ihre Herzen voll Liebe dem Sohne Mariens dar. Das klang so weihevoll wie ein Choral unter freiem Himmel. Die Stimmen schienen aus weiter Ferne herzukommen, ganz weit von jenseits der Stadtwälle.

Ivo war gar nicht zufrieden, obgleich er, in bezug auf die anderen Mitwirkenden, sich zu diesen genau so verhielt, wie der Daumen zu den übrigen Fingern der Hand. Aber was half's? er hatte nichts zu sprechen, er war ein stummer Christus, ein richtiger Armeleute-Christus. Neben all diesen großartigen Sprechern kam er sich ganz deklassiert vor.

Er mied die Versammlungen bei der » Edelrose«, den » Drei Königen«, und dem » Himmel«. Er besuchte nur mehr den Sonntagsvortrag des Vikars in der »Sodalität«. Seine Demut und Frömmigkeit aber waren dafür nur um so größer geworden.

Seit seinem Erlebnis mit den kleinen Leuten aus den Hintergäßchen wich er dieser übel berüchtigten Gegend nach Möglichkeit aus. Eines Nachmittags, an dem er sich gerade entschlossen hatte, ihnen doch wieder das Evangelium zu lesen, wurde eine Frau beim Ehebruche ertappt. Alsogleich rotteten sich die Leute vor ihrem Hause zusammen und drohten es in Brand zu stecken. Im Nu flogen alle Fensterscheiben in Scherben. Ein Mann stieg aufs Dach und begann die Ziegel abzudecken. Man lief um Christus, der alsbald erschien. Er hob die Hand und sprach wie der Heiland:

»Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!«

Aber der rohe, spottlustige Pöbel faßte die Dinge anders auf. Ein Stein pfiff neben Ivos Ohr, und er blutete aus einer Rißwunde an der Wange. Plötzlich aber schrie der Mann, der den Stein geworfen hatte, gellend auf und wies mit seiner zerbissenen Faust auf Ilje, deren Lippen von seinem Blute noch gerötet waren. Seit zwei Tagen war sie wieder, wie gewöhnlich mit Schollen hausierend, in der Stadt aufgetaucht. Der lange Brad war nirgend zu sehen: es hieß, daß er wegen einer Widersetzlichkeit gegen einen Polizisten sechs Tage im Loche brummte.

Christus mußte sich endlich eingestehen, daß sein Apostelamt ihm nicht sonderlich glückte. Von den Reichen wurde er gehaßt, und der Pöbel rückte ihm an den Leib. Ohne Ilje wäre er jetzt beinahe gesteinigt worden. Und was hatte er denn auch diesmal wieder anderes getan, als Worte der Güte und Gerechtigkeit gesprochen, wie der Heiland vor ihm?

»Ilje! Schwesterchen!« überkam es ihn plötzlich mit seltsamer Rührung.

Wenn nur ihre Lumpen nicht immer diesen ekelhaften Fischgeruch in sich gehabt hätten! Cordula, die duftete stets gar lieblich nach frisch gewaschener Wäsche, reifem Weizen oder Äpfeln – je nach der Jahreszeit.


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