Maria Leitner
Eine Frau reist durch die Welt
Maria Leitner

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V Fahrt ohne Geld in den Südstaaten

Richmond, Stadt im Süden

In Washington traf ich, als ich auf den Zug nach Richmond wartete, eine junge Negerstudentin, deren Bekanntschaft ich auf der Howard University, der Washingtoner Universität für Neger, gemacht hatte. Sie war die beste Schülerin in Deutsch. Später sah ich sie in der Bibliothek. Sie trug einen Regenmantel, in Berlin würde man wohl Trenchcoat sagen, ganz nach der »College Girl Mode« mit allerlei Figuren bemalt, und quer darüber geschrieben stand: »I am a sophomere baby« (das heißt, ich bin ein Zweites-Semester-Baby). Sie erzählte dann auch, daß sie moderne Sprachen studieren und Universitätsprofessorin werden möchte. Ihr Bruder sei Rechtsanwalt in New York, ein anderer Arzt in Boston.

Jetzt aber in Richmond, sie war hier zu Hause, sahen wir gleichzeitig vor dem Warteraum eine riesige Tafel mit der Aufschrift: »Nur für weiße Frauen.« Sie, die Studentin, die künftige Universitätsprofessorin, wurde ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß hier eine neue Welt, das heißt die alte Sklavenwelt, beginnt. Die Studentin tat, als ob sie mich nicht sehen würde, und verschwand. Ich aber, Reisende ohne Geld, werde noch bald merken, daß der Süden auch für Weiße nicht immer paradiesisch ist.

In einem Restaurant lernte ich vorläufig den Süden von seiner besten Seite kennen. Der Kellner schob ein großes Stück Papier vor mich hin, ich mußte alle Bestellungen aufschreiben. Wenn man in New York auf ähnliche Ideen verfiele, die meisten Restaurants könnten zumachen. Aber hier sind wir ja im allerältesten 112 Amerika, wo es als natürlich gilt, daß die Gäste englisch schreiben und die Kellner englisch lesen können. Und was für wunderbare Speisen werden aufgetragen, Austern in Sahne, Buttermilchbiskuits, knusprige Waffeln. Man beleidigt Amerika, wenn man seine Küche nach den New-Yorker Speisehäusern beurteilt.

Äußerlich ähnelt Richmond allen mittleren amerikanischen Städten. Eine große Anzahl Wolkenkratzer täuschen aufwärtsstrebende Geschäftigkeit vor. Die Autos sind nicht viel weniger dicht gesät als in New York. Würde man sich dies alles aus einem Hotelfenster nur ansehen, könnte man feststellen: Es ist dasselbe wie Boston oder Newark.

Aber zwischen den Neubauten tauchen noch einige alte Häuser aus der Kolonialzeit auf, Säulengänge, schmiedeeiserne Balkone.

Ja, und hier in Richmond hatte Edgar Allan Poe seine Jugend verbracht, hier ist er aufgewachsen in einem alten Kolonialhaus, dem Haus seines Pflegevaters, des Kaufmanns Allan, dessen uneheliches Kind er in Wirklichkeit war. Das Haus ist zwar abgebrannt, aber man hat Erinnerungen an ihn in einem Poe-Museum untergebracht, in Richmonds ältestem Haus.

Obwohl man hier nur die typischen »Reliquien« eines unbedeutenden Provinzmuseums sieht, lohnt sich der Besuch. Denn die sehr alte Führerin gibt unbewußt die Meinung der traditionsverbundenen Richmonder Bürger wieder. Sie erzählt, viele Leute gekannt zu haben, die sich noch sehr genau an Poe erinnern konnten. Sie nennt Poe, immerhin das größte und stärkste amerikanische Genie, nie anders als »poor old Chap« (»armer alter Kerl«).

»Als er nach Richmond auf Besuch kam«, berichtete sie, »trug er immer denselben alten, abgetragenen Anzug, ja, er war ein armer Kerl.« Und wie sie seine Mutter verachtete, die fahrende Schauspielerin, von der das Museum nur eine vergilbte Photographie aufbewahrte. »Denn sie hatte ja gar nichts. Sie war eine Hungerleiderin, die in möblierten Zimmern hauste.« Man müßte die Erklärungen dieser Frau auf einer Grammophonplatte aufnehmen, als Kulturdokument und zur Abschreckung aller zukünftigen Genies.

Doch für mich gab es Wichtigeres zu tun, als Museen zu besuchen, ich studierte das Adreßbuch, konnte aber nur zwei Stellungsvermittlungsbüros finden. Gleichzeitig begann ich die Entdeckung zu machen, daß die Aufschriften »Nur für Weiße« oder »Nur für Farbige« zwar den Rassestolz eines Weißen heben 113 können, aber, wenn er nicht mit genug Geld ausgestattet ist, mit recht unangenehmen Folgen für ihn verbunden sind. Beide Agenturen entpuppten sich als »nur für Farbige«. Das gleiche nämlich, der Wunsch nach »farbigem« Personal, zeigte sich auch, als ich den Stellenangeboten in den Zeitungen nachging. Überall, wo nicht ausdrücklich »nur Weiße« vermerkt stand, wollte man nur Neger haben.

Das Haus des Senators und die lebenden Hühnchen

Endlich entdeckte ich eine Anzeige: Weiße Köchin gesucht. Es war in der ältesten, vornehmsten Straße Richmonds, eine alteingesessene, bekannte Familie, aber die Frau des Mannes war eine Yankee aus Connecticut, die es für unfein, für ein Zeichen von Armut hielt, eine Negerköchin zu haben. Die Schwiegermutter allerdings, die es nie geduldet hätte, daß sich in der Elektrischen eine Negerin neben sie setzen würde, fand, daß nur eine Negerin richtig kochen könnte, und sah mich sofort sehr feindlich an.

Am Abend erklärte mir die »Yankee«: Frühstück sei um einhalb acht Uhr, und man äße natürlich nur warme, zu Hause frisch zubereitete Brötchen, Biskuits oder Muffins. Die Sache begann heiter, das war klar, gegen ein Wochengehalt von sechs Dollar.

 

Frühmorgens kam der Negerdiener und heizte alle offenen Kamine. Die Möbel waren von strenger Einfachheit, kein Plüsch wie in New York. Das Feuer warf rötliche Arabesken, weiß schimmerten die Säulengänge des Portals, und in dem Garten, in den das Wohnzimmer mündete, sprangen Eichhörnchen auf immergrünen Eichen. Ein Bild vornehmer, gefestigter Bürgerlichkeit.

Vom Negerdiener erfuhr ich, daß der Herr des Hauses Senator im Capitol Virginia sei. Würdig nahm er sein Frühstück ein, von seinem Diener bedient. Die alte Dame, seine Mutter, übertraf ihn allerdings noch an Würde. Leider prüfte sie etwas mißmutig meine Biskuits und betrachtete dann vorwurfsvoll ihre Yankee-Schwiegertochter, die ich persönlich bedienen mußte, da sie auch gegen Negerbedienung eine Aversion hatte.

Nach dem Frühstück wurde ich auf den Markt geschickt. »Hier, nehmen Sie diesen Korb«, sagte mir die Yankee-Dame, »hier können die Hühner besser ihre Köpfe herausstrecken.« Sollte ich 114 denn lebende Hühner kaufen? Voller Sorgen zog ich auf den Markt.

Ich kannte ihn schon, den Markt von Richmond, dieses überaus malerische, fast orientalisch wirkende Straßengewirr, mit ungeheuren Paprika- und Piment-Bergen, Kürbissen von phantastischen Formen, grell leuchtenden Blumen und laut piepsendem und gackerndem Geflügel, mit singenden, tanzenden Negern, die auch in der verzweifeltesten Lage nie die Fähigkeit verlieren, den Alltag in ein lustiges Fest zu verwandeln. Dieser Markt mündet in ihre Elendsviertel, wo in Holzbaracken zerrissene Lumpen und durchlöcherte Schuhe, schmutziger Tand verkauft werden, und vor denen sich immer eine feilschende Negermenge staut.

Auf dem Heimweg quälte mich die Frage: Wer aber wird meine lebenden Hühnchen töten? Die Yankee-Dame stand gerade ausgangbereit vor dem weißen Säulengang. Ich fragte sie, ob das Schlachten und das Putzen der Hühner der Diener besorge.

Scharf, als sollte dieser Satz als Mordinstrument dienen, erklärte mir die Dame, daß die Abschlachtung der in der Küche benutzten Tiere Angelegenheit der Köchin sei.

Und schon verschwand sie. Als ich die Halle betrat, fiel mein Blick auf die Morgenzeitung. Hier stand schwarz auf weiß: »Stubenmädchen, nur Weiße, sucht ›The Jefferson‹.« Ich fühlte, hier war Rettung. »The Jefferson« war das größte Hotel in Richmond, nur einige Schritte von unserem Haus entfernt. Zur größten Überraschung meiner Negerkollegen und -kolleginnen begann ich meinen Koffer zu packen. Für meine bisherigen Bemühungen im Hause des Senators hätte ich etwa vierzig Cents zu beanspruchen gehabt. Ich beschloß, wenn auch ungern, diesen Betrag dem Senator und seiner Familie großzügig zu schenken und sie ohne besonderen Abschied zu verlassen. Ich sagte noch dem offenen Kaminfeuer Lebewohl, warf einen letzten Blick auf die weißen Säulen, und schon wanderte ich mit meinem Handkoffer dem »The Jefferson« zu. Die Hühnchen warten vielleicht noch heute, daß ich sie enthaupte. 115

Gähnen und Schnäpschen

Ich betrat das ehrwürdigste, das älteste Hotel des Südens, ein in seiner maurischen Pracht imponierendes Gebäude. Ich meldete mich im Büro. Die Chefhaushälterin war nicht da, aber da man meinen Handkoffer sah, fragte man mich gleich: »Sind Sie das neue Stubenmädchen?« Ich bejahte das ohne Zögern.

Ich mußte warten. Äußerlich erinnerte alles an ein großes New-Yorker Hotel. Die Haushälterinnen, das Kommen und Gehen der Stubenmädchen, das Schüsselgeklirr, die Meldungen, die Wäscheausgabe, die Näherinnen in der Wäschestube. Aber während man dort ständig in einer atemlosen Hetze erschien, gähnte hier alles. Man gähnte mit Hingabe und Genuß. Jeder gähnte individuell, je nach Temperament in kleineren und größeren Intervallen. Manche gähnten endlos langgezogen, andere, als wollten sie nur ein bißchen nach Luft schnappen.

Die Chefhaushälterin kam immer noch nicht, die Zeit schien endlos. Dann begann auch ich zu gähnen, ich versuchte alle Arten von Gähnen und wirklich, jetzt verging die Zeit wie im Fluge. Schon war die Chefhaushälterin da.

Sie fragte mich, ob mich . . . – sie nannte einen mir unbekannten Namen – geschickt hatte, was ich schnell bejahte. Ich konnte gleich dort bleiben.

Für die schwere Arbeit und für das Reinigen der Badezimmer waren hier Negerinnen angestellt, die weißen Stubenmädchen nahmen eine bedeutend höhere Stufe ein. Sie aßen in einem anderen Zimmer und hatten gedeckte Tische. Die Haushälterinnen natürlich aßen nicht mit den Stubenmädchen, hatten einen schöner gedeckten Tisch und bekamen besseres Essen. Die Büroangestellten aßen natürlich nicht mit den Haushälterinnen, sie hatten einen besseren Raum und Anspruch auf noch besseres Essen und so weiter, von Stufe zu Stufe. Allerdings war das keine südliche Spezialität. Ähnliches hatte ich in allen Teilen Amerikas gesehen. Im »The Jefferson« wohnten reiche Tabakplantagenbesitzer, die Gentry von Virginia, die die Saison in einer »Großstadt« verleben und dabei die Möglichkeit haben wollten, leicht ihre Besitzungen zu erreichen, Industrielle, Staatsmänner Virginias, natürlich auch Durchreisende, die nach dem Süden fuhren. Auch bei den Gästen war die Grundstimmung das Gähnen. Sie schliefen bis 116 nachmittags, sie durchschliefen den Sonntag, manche sogar schliefen dank der glänzenden »bootlegger«-(Alkoholschmuggler)Organisation tagelang. Die Alkoholschmuggler bevölkerten die Gänge mit ihren Koffern, trotz der Hoteldetektive, die, der eine dick und klein, der andere dünn und lang, wie Pat und Patachon, pflichtgemäß die Korridore durchwanderten. Sie machten ihre Zeichen an der Kontrolluhr, blieben vor den Türen stehen, wenn es etwas zu horchen gab, und sie hatten öfter zu horchen, aber weiter kümmerten sie sich meistens nicht um die Angelegenheiten der Gäste.

Die Bibel fehlte in keinem Zimmer, aber die New-Yorker erschienen von der Richmonder Perspektive aus brav und anständig, dort lechzte man nicht so nach Abenteuern, gab es keine verstohlen in die Hand gedrückten Zettelchen wie hier.

Sonntag in Richmond

Die nicht allzu üppig gesäten Vergnügungsstätten, die wenigen Kinos und Varietés sind geschlossen. Die Restaurants sind nur in den Hotels offen, und in der Stadt ist nur ein einziges Automaten-Restaurant geöffnet. Musik ist verboten.

Gleich in der Früh beginnt es: »Gehen Sie in die Kirche? Wann gehen Sie in die Kirche? In welche Kirche gehen Sie?« Alle fragen es, die Haushälterinnen, die weiblichen Gäste, die zufällig nicht schlafen, die Stubenmädchen, die Scheuerfrauen, die Kellner, die Hausdiener. Manche sagen auch: »Sie sind willkommen in unserer Kirche.«

Nachdem ich mindestens fünfzigmal erklärt hatte, in keine Kirche zu gehen, beschloß ich, nicht nur eine, sondern so viele wie möglich zu besuchen, denn so klein die Auswahl in allen weltlichen Darbietungen war, so reich war sie in kirchlichen. Es gibt wohl kaum eine Sekte in Amerika, die in Richmond nicht wenigstens einen Saal besitzt, und die Zahl der amerikanischen Kirchensekten ist Legion.

Wie bei den Speisesälen der Angestellten gab es auch bei den Kirchen ungezählte Stufen. Die staatlich-episkopalen, die schon durch die überwältigende Anzahl wartender Limousinen vor ihren Toren beeindrucken mußten, wiesen sich als erstklassig aus. Das elegante Publikum, man grüßt sich, nickt sich familiär zu, 117 erinnert an eine gesellschaftliche Veranstaltung. Schnell mußte ich mich als Außenseiter empfinden. Dann gab es gutbürgerliche Kirchen, wo ich die Chefhaushälterin inmitten ihrer Familie erblickte, mittelbürgerliche für die einfachen Haushälterinnen. Bei den »primitiven Baptisten« in einem natürlich auch primitiven Saal erblickte ich bekannte Stubenmädchen, während ich bei den »afrikanischen Methodisten« in einer Holzbaracke des Negerviertels verschiedene Scheuerfrauen wiedersah.

Ich freute mich aufrichtig, als auf dem Capitolshügel die mächtigen Magnolien Glühbirnenschmuck erhielten, denn das bedeutete Weihnachten, und zu Ehren des Festes bekam man eine Gratifikation und größere »tips« (Trinkgelder). Ich konnte jetzt daran denken, Richmond zu verlassen.

Die Universität als modernes Kloster

Im Ausland kennt man die großen, von Stiftungen unterhaltenen Universitäten, aber oft leisten gerade die kleinen, von den Staaten unterstützten, nur über kleine Mittel verfügenden viel Bedeutenderes.

Hier ist zum Beispiel Chapel Hill in North Carolina ein Ort, der fast nur aus der Universität besteht. Die nächste größere Stadt ist stundenweit entfernt. Man lebt in vollkommener Abgeschiedenheit, aber die Universität selbst verfügt über ein eigenes Theater, Druckereien, über einen Verlag, über ein Kino. Man hat für die Verbreitung und Erforschung der Negerlieder, besonders der Arbeitslieder, sehr viel getan, man macht Entdeckungsfahrten nicht nach fremden Erdteilen, sondern in die Berge North Carolinas, die nur einige Meilen entfernt sind, wo aber Zustände herrschen wie im dunkelsten Afrika, wo das Analphabetentum ganz allgemein ist, Kinder die schwersten Arbeiten verrichten müssen und die Frauen oft wie Sklaven leben. Diese »mountaineers« (Bergbewohner) sind Weiße und nicht Neger, sie leben in der fürchterlichsten Armut. Es ist zum Teil Verdienst der Universität von Chapel Hill, daß dies bekannt wurde. 118

 


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