Maria Leitner
Eine Frau reist durch die Welt
Maria Leitner

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Meldeamt von Saint Laurent
und einige merkwürdige Existenzen

Mr. Burr sucht einen Geschäftsfreund in Saint Laurent. Er hat eine ganze Mappe voll Korrespondenz mit, hier ist die Adresse des Geschäftsmannes. Er zeigt sie Monsieur Blanc und anderen Eingeweihten und fragt nach ihm. Jean Jacques Duval steht auf dem Briefkopf, Import, Export – sicher eine bekannte Persönlichkeit.

»Zeigen Sie mal«, sagt Monsieur Blanc, »hier steht doch bei der Adresse Matricule 45 672, das ist doch ein Gefangener oder 48 möglich auch ein ›Libéré‹, auch die haben eine Nummer. Nur die besseren Menschen haben in Saint Laurent keine Nummer, dafür dürfen sie einen Revolver tragen, den wieder die Numerierten nicht haben.«

»Aber, das ist doch unmöglich, sehen Sie sich diese Geschäftsbriefe an, wie soll ich nur den Mann finden?«

»Am besten, Sie gehen gleich zum Meldeamt«, sagt ein Aufseher, und Freund Monsieur Blanc stimmt zu. »Ich gebe Ihnen einen Führer mit, damit Sie gleich hinfinden.« Ich ging auch mit – als Dolmetsch und weil mich das Meldeamt Saint Laurent und der Geschäftsfreund Mr. Burrs interessierten.

Unser Führer ist ein Typ, dem man nicht gern nachts allein im Walde begegnen möchte. Sein großer Strohhut sitzt schief und verwegen über seinem verschrumpften Gesicht.

Er spricht nur gebrochen Französisch, und er entpuppt sich bald als ein Deutscher aus dem Industriegebiet.

»Sie sind sicher erst seit kurzem hier?«

»Ich bin hier schon seit dreißig Jahren.«

»Seit dreißig Jahren? Bekommen Sie viele Nachrichten aus Deutschland?«

»Ich habe schon lange nichts gehört, meine Leute vergessen mich ganz, keiner kümmert sich um mich.«

»Warum sind Sie denn hier?«

»Ich habe einem eine heruntergehauen.«

»Und deshalb lebenslänglich?«

»Konnte ich denn wissen, daß der Waschlappen so schwach ist und gleich stirbt, wenn man ein bißchen hinhaut? Er hat angefangen, meine Dame, ich bin unschuldig. Aber in der Fremdenlegion fragen sie nicht viel, sie haben mich gleich verurteilt und hergebracht.«

Wir kommen jetzt zu dem Geschäft, das das Wohlwollen unseres Führers besitzt.

»Sehen Sie, hier können Sie schöne Postkarten bekommen.«

Er steht bezaubert vor den Kartenständern, wo auf den herrlich kolorierten Bildern leidenschaftliche Küsse und Umarmungen getauscht werden von vollschlanken Damen und Herren mit spitzen Schnurrbärtchen, die, soweit sie bekleidet sind, Kostüme aus der Zeit der Jahrhundertwende tragen.

»Bist du schon wieder hier?« Die Geschäftsinhaberin, eine 49 dicke Negerin, die uns eben recht liebenswürdig zugelächelt hatte, ist trotz seiner Protektion unfreundlich zu unserem Führer.

»Ich bringe Ihnen Kunden«, dann wendet er sich voll aufrichtiger Entrüstung zu uns: »Ist sie nicht eine zanksüchtige Frau?«

Mr. Burr aber ist über die ausgestellten Postkarten empört: »Was für eine Sittenlosigkeit. Die amerikanische Regierung würde gegen so etwas sofort einschreiten.«

Unser Führer aber ist so entzückt, daß es ihm unmöglich ist, sich loszureißen. Als er draußen einen Sträfling vorbeigehen sieht, ruft er ihn hocherfreut herein und stellt ihn uns vor.

»Das ist mein Freund, er ist auch ein Deutscher, es ist ihm ähnlich ergangen wie mir, er wird Sie hinführen zur Polizei.«

Er hat von Mr. Burr einen Dime, zehn Cent, erhalten, für den er nun die Mr. Burr so abstoßenden Karten erstehen kann.

Sein Freund ist gern bereit, uns beizustehen, er sieht bedeutend sanfter aus als unser verflossener Führer. Es trifft sich gut, er hat in der Nähe zu tun, er bringt Schmetterlinge zu den Kuriositätenhändlern.

»Schmetterlinge?«

Ja, von Schmetterlingen leben viele Sträflinge, leben die »Libérés«. Wegen Schmetterlinge finden wahre Kämpfe zwischen den Gefangenen statt, wegen Schmetterlinge begibt man sich in Lebensgefahr, stolpert über Urwaldgestrüpp, versinkt in Sümpfe, nur um einem seltenen Exemplar nachzujagen.

Der Sträfling zeigt seine Füße, die voll Risse und Wunden sind, ja, es war keine leichte Arbeit, die Schmetterlinge zu fangen.

Die Schuhe, besser gesagt, die Schuhlosigkeit der Sträflinge ist ein Kapitel für sich. Fragt man in offiziellen Kreisen, wieso eigentlich fast alle Gefangenen und auch »Libérés« barfuß gehen, wird einmütig geantwortet: »Es hat gar keinen Zweck, ihnen Schuhe zu geben, sie verkaufen sie doch.«

Vorsichtigerweise aber will man die Gefangenen nicht in Versuchung bringen und gibt ihnen gar keine Schuhe, sogar dann nicht, wenn sie im Urwald arbeiten. Was das heißt, kann man nur verstehen, wenn man einmal versucht hat, ohne besondere Ausrüstung, hohe Schaftstiefel, nur einige Schritte im Urwald zu tun. Die Gefahren sind nicht romantisch, und man braucht nicht so sehr Schlangen wie Blattläuse zu befürchten. Diese Blattläuse verursachen schrecklich juckende Stiche, die wochenlang nicht 50 vergehen, wenn man sie nicht mit Salben und sehr viel Puder behandelt, Dinge, die den barfüßigen Sträflingen bestimmt nicht zur Verfügung stehen.

Aber jetzt soll ja nicht von Blattläusen, sondern von Schmetterlingen die Rede sein. Der Führer Nummer Zwei hat sie in dreieckig zusammengefalteten Blättern, die aus dem Schulheft eines Kindes stammen, in einem Korb sorgsam aufbewahrt.

»Ich werde Kartoffeln für sie kaufen. Die man uns vorsetzt, sind ungenießbar.«

Ich muß für Mr. Burr dolmetschen, er will wissen, warum Nummer Zwei hier ist.

»Haben Sie vielleicht auch jemandem eine heruntergehauen?« frage ich ihn.

»Ja, woher wissen Sie das?« staunt Nummer Zwei. »Ich bin lebenslänglich wegen einer Ohrfeige.«

»Endete sie auch mit dem Tode des Geohrfeigten?« frage ich, weil ich nun schon etwas Erfahrung habe, was man hier unter harmlosen Benennungen versteht.

Aber Nummer Zwei versichert, daß der Schlag wirklich nicht schlimm war, er war Fremdenlegionär und hat seinen Offizier geohrfeigt.

»Wenn ich gewußt hätte, daß es für mich so enden würde, hätte ich noch anders hinhauen können.«

Er ist seit vierundzwanzig Jahren hier, seine Angehörigen sind in Kanada, und er bittet mich, auf der Rückreise einen Brief mitzunehmen, denn er will eine Eingabe machen, die ihn befreit. Er hat schon vieles versucht, aber er gibt die Hoffnung nicht auf, daß es ihm noch gelingen wird, von hier fortzukommen. Alle hoffen das, auch die Lebenslänglichen sind überzeugt, daß etwas geschehen wird, das sie errettet. Sie sprechen auch davon, daß die Strafkolonie aufgehoben wird, denn einmal müßte man doch einsehen, daß alles, was hier geschieht, Wahnsinn ist.

Auf der Straße sind jetzt viele Gefangene zu sehen, die arbeiten. Alle tragen das gestreifte Kleid mit der langen, schwarzen Nummer über ihrer Brust. Worin besteht ihre Arbeit? Sie zupfen Grashalme aus den Ritzen der Straßensteine. Der Verkehr in den Straßen Saint Laurents ist nicht groß genug, um das Unkraut am Wachsen zu hindern. Nun werden die Straßen von den Sträflingen »gereinigt«, um ihnen städtischeres Aussehen zu verleihen.

51 Chaplin würde diese Arbeit sicher auf ähnliche Weise verrichten, wie es hier die Sträflinge tun, vorsichtig jeden einzelnen Halm ausreißen und dann mit gravitätischen Bewegungen beiseite legen. Aber das Ganze wirkt nicht komisch, sondern schaurig. Denn wir haben achtunddreißig Grad im Schatten, doch es gibt keinen, und die Sonne brennt höllisch. Die Sträflinge arbeiten von fünf Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags, ihre Arbeit ist sinnlos, sie verrichten nichts, aber sie gehen dabei zugrunde, und das Gras wächst weiter auf den Straßen Saint Laurents.

Nun aber erscheint ein Mann, der gleichsam hier auftaucht, um zu entkräften, daß hier das Ende der Welt sei.

Er hält eine Klingel in der Hand und bimmelt mit aller Kraft, dann beginnt er mit einer Baritonstimme, die er keineswegs schont, eine lange Litanei:

»Ihr schönen Mädchen und Frauen von Saint Laurent, ihr jungen und nicht mehr ganz jungen, hört die freudige Nachricht, die ich euch zu verkünden habe. Im Warenhaus Zephirin – wer kennt nicht das schönste Geschäft in der ganzen Kolonie! –, im Warenhaus Zephirin sind soeben die neuesten Modelle aus Paris eingetroffen. Beeilt euch, damit euch eure Freundinnen nicht die schönsten Exemplare vor der Nase wegschnappen.«

»Das ist unser Reklamefachmann, ein ›Libéré‹«, sagt Nummer Zwei mit einigem Stolz. Wir können nun sehen, daß Saint Laurent nicht so ganz von der Welt abgeschnitten ist. Er begrüßt den Bariton.

Mr. Burr will erfahren, seit wann und warum er hier ist.

»Seit zwölf Jahren. Der Grund: ich rede nicht gern davon, Madame, ich möchte Sie nicht verletzen, aber die Frauen richten viel Unheil an in der Welt.«

»Er hat seine Geliebte erschlagen«, flüstert Nummer Zwei.

Der Reklamefachmann klingelt, und wieder ertönt seine Baritonstimme.

»Ihr tüchtigen Hausfrauen, ihr geschickten Dienstmädchen, kommt, eilt zu dem Fleischer Bonnard; um euch gut zu bedienen, ließ er aus Brasilien das beste Mastvieh kommen.«

»Mastvieh möchte ich auch mal essen, ich weiß nicht, von wo man unser Fleisch herschafft«, sagt der Sträfling, »aber meist riecht es wie die Pest. Man gibt uns das Fleisch erst, wenn es verdorben ist.«

52 »Ja, ich hätte es mit meiner schönen Stimme auch zu etwas anderem bringen müssen.«

Wieder klingelt er und läßt seine Stimme ertönen.

»Erwachsene und Kinder, Herren und Damen, gebt euch ein Rendezvous heute abend Punkt acht Uhr im Grand-Cinéma de Saint Laurent. Seht euch an das spannendste Drama der Welt, den Raub des Grünen Diamanten, herrlich, wunderbar, aufregend. Erst wird euch noch ein zwerchfellerschütterndes Lustspiel vorgeführt, zum Totlachen, zum Brüllen. Das ganze Programm großartig, einzigartig, noch nie dagewesen. Rendezvous heute abend um acht . . .«

»Hier will ich mal wegen meiner Schmetterlinge vorsprechen«, sagt Nummer Zwei. Wir folgen ihm und betreten das merkwürdigste Kuriositätengeschäft.

Der Besitzer, auch ein »Libéré«, verhandelt gerade mit einem Buschneger, der einen noch blutigen Jaguar hereingeschleppt hat. »Ich kann nicht viel mit seinem Fell anfangen, es macht mir nur den Boden schmierig.« Dann wendet er sich an Nummer Zwei. »Und du kommst wieder mit deinen Schmetterlingen, ihr glaubt, ich kann alles Getier aufkaufen.«

Dann aber verzieht sich sein Gesicht liebenswürdig, er wittert in uns Käufer.

Die Wände des Geschäftes sind mit Schlangen und Eidechsen, Häuten, mit Tiger- und Jaguarfellen besät, präparierte Krokodile, riesige Schildkröten und unzählige, in allen Farben schillernde ausgestopfte Vögel bevölkern alle Winkel des Raumes.

»Das ist der Feuerkopf, ein ganz seltener Vogel. Sieht es nicht aus, als hätte sein Kopf wirklich Feuer gefangen?« sagt der Besitzer, der uns seine Schätze vorführt.

»Was kostet dieser?« fragt Mr. Burr, der einen azurblau und golden schimmernden Schmetterling entdeckt hat.

»Eintausendfünfhundert Francs«, sagt der Besitzer ganz gelassen.

»Und mir gibst du zwei, drei Francs für den Schmetterling und tust noch so, als ob du ein großer Wohltäter wärst, und ich bin dabei so dumm und bringe sie dir her, statt sie selbst auf der Straße zu verkaufen.«

»Du verstehst doch nichts von Schmetterlingen, Dummkopf. Das hier ist eine große Rarität, in Jahren bekomme ich nur einige 53 Exemplare in die Hände, das ist ein Hermaphrodit. Hier, sehen Sie, mein Herr, daß ich Sie nicht übervorteilen will. Eine Firma in Bordeaux bietet mir zweitausendfünfhundert Francs.«

»Und wieviel hast du dafür dem Idioten gegeben, der ihn dir gebracht hat?«

»Wieviel? Hundert Francs, dabei weiß ich noch gar nicht, ob ich den Schmetterling überhaupt verkaufen kann. Es ist ein zu großes Risiko, ihn nach Frankreich zu schicken. Kommt das Tier beschädigt an, habe ich nichts. Ich war zu anständig und habe mir damit nur geschadet. Kaum hatte der Sträfling die hundert Francs, rückte er aus. Er kam nicht weit, man fand ihn tot in der Nähe des Ufers an der Hollandgrenze. Aber Sie könnten ein gutes Geschäft machen, wenn Sie ihn kaufen. Ich gehe gern mit dem Preis so weit herunter, wie ich kann.«

Ich weiß nicht, ob Mr. Burr sich später entschlossen hat, den Hermaphroditen zu erstehen.

Die Polizei in Saint Laurent riecht staubig, von allen Seiten starren ungeheure Stapel Akten, und die Welt der Uniformierten ist von der der Bittsteller durch eine Holzbarriere getrennt. Vor ihr steht ein Buschnegerehepaar, das eine Auskunft erbittet. Die beiden haben sich der Würde des Ortes entsprechend in Kleider gehüllt. Die Frau trägt eine Männerunterhose, die sie festhält, damit sie nicht herunterrutscht, der Mann außer dem farbigen Umhang noch einen schwarzen steifen Hut, aus dem ähnlich geflochtene Zöpfchen wie bei seiner Frau unter dem Hut hervorschauen. Beide Gesichter sind kunstvoll tätowiert.

»Warten Sie, bis Sie an die Reihe kommen«, sagt ihnen der Beamte des Polizeipräsidiums aus Saint-Laurent-du-Maroni. Genauso wie auch bei uns das vorlaute Publikum in seine Schranken verwiesen wird.

Mr. Burr trägt sein Anliegen vor. »Jean Jacques Duval, Matricule 45 672, wo befindet sich der Mann?«

Der Beamte sucht große Bücher hervor, beginnt zu blättern, und ich kann in das merkwürdigste, das fürchterlichste Meldebuch der Welt einige Blicke tun.

Matricule 39 657, George Cavallet, geboren 1898, eingeliefert 1923, Delikt: Desertion, Aufenthalt: Saint Laurent, gestorben 1930.

Zehntausende von Menschenschicksalen, nur aus der Bahn geworfener, unglücklicher Menschen, dicht hintereinander, jedes 54 Leben eine Zeile. Von der Geburt bis zum Tode. Das Wort »gestorben« wiederholt sich immer wieder, auch bei den jungen Jahrgängen. Mord, Diebstahl, schwere Körperverletzung mit tödlichem Ausgang, aber auch sehr viele militärische Vergehen stehen da als Delikte. Die Namen: arabische neben französischen, auffallend viele aus den Kolonien, singhalesische Namen. Die Kolonien liefern reichlich Menschenmaterial nach Guayana. Aber auch zahlreiche deutsche, einige englische und schwedische Namen sind zu entdecken. Die Ausländer sind meist ehemalige Fremdenlegionäre. Bei manchem Namen steht am Ende »geflohen«, diesem Wort folgen aber auch noch viele andere, so »wieder gefangen« oder »ausgeliefert« von der holländischen, der englischen Regierung, dann folgt der Name des neuen Gefängnisses. Es ist meist ein von den Gefangenen gefürchteter, gehaßter Name: Saint Joseph, das Disziplinargefängnis auf der Insel, von dessen Strafmethoden schaurige Berichte umgehen.

Ich möchte Notizen machen, aber der Beamte nimmt mir das Buch aus der Hand.

»Ich finde den Namen schon schneller. Hier ist er ja, Jean Jacques Duval, Matricule 45 672, geflohen.«

»Aber das ist unmöglich«, sagt Mr. Burr.

»Bitte, ich glaube, wir müssen es besser wissen, geflohen am 22. Juni 1930. Sie können mir schon glauben. Das ist keine Seltenheit hier, daß sie fliehen. Sicher kam er irgendwie zu Geld.«

»Das haben Sie ganz richtig erraten, geflohen mit Hilfe meines Geldes.« Mr. Burr kann sich kaum fassen. »Mir schrieb er, als gehörte ihm alles Gold Guayanas, Konzessionen wollte er mir verkaufen. Ein tüchtiger Mensch scheint er jedenfalls zu sein.«

»Wahrscheinlich hat ihn schon seine Strafe ereilt. Die meisten verkünden sich selbst das Todesurteil, wenn sie versuchen, über den Maroni zu kommen. Aber wenn Sie sich für Gold interessieren, wenden Sie sich doch an den Photographen Armand, der hat eine Konzession und eine Mine.«

»Hat er vielleicht auch eine Nummer?«

»Das wohl, das ist hier nicht so leicht zu vermeiden, er ist ein ›Libéré‹, ein zuverlässiger Mann.«

»Vielleicht kennt er auch meinen Freund Duval.«

»Das ist nicht unmöglich. Wenn der Photograph nicht in seinem Atelier ist, finden Sie ihn sicher im chinesischen Dorf.«

55 Das alles klingt verlockend, chinesisches Dorf, Goldmine, Atelier. Suchen wir den Photographen.

Der Fluß Maroni. Er ist von allen Teilen Saint Laurents sichtbar. Das andere Ufer scheint ganz nahe, man sieht deutlich die Häuser des holländischen Ortes Albina. Es sieht aus, als könnte man mit Leichtigkeit hinüberschwimmen, aber der Fluß ist voll gefährlicher Strudel. Am Ufer liegen viele kleine Boote. Ist es nicht möglich, sich ihrer zu bemächtigen? Nachts, wenn die Dunkelheit vollkommen ist? Kann man dann nicht einfach hinüberrudern an die Grenze? Auch das haben schon Unzählige versucht. Aber die meisten sind wie die verzweifelten Schwimmer untergegangen. Wer den Maroni nicht sehr genau kennt, wird von ihm erbarmungslos verschlungen.

Aber auch wenn einer das andere Ufer erreicht, bedeutet das noch keine Rettung. Greift ihn die holländische Buschpolizei auf, denn die Polizei fehlt auch im Urwald nicht, wird er wieder der französischen Regierung ausgeliefert. Findet ihn aber die Polizei nicht, irrt er tagelang ohne Nahrung im Urwald umher, auch dann kommt er um. Die Tiere des Urwaldes, die Tiger, die Jaguare, die Schlangen, sie bedeuten keine so große Gefahr, es ist selten, daß sie die Angreifenden sind. Aber die Moskitos. Ein Weißer im Urwald ohne Moskitoschutz wird bestimmt hohes Fieber bekommen.

Doch gelingt es immer wieder einigen Glücklichen, zu entkommen. Man braucht zum Beispiel gerade dringend Arbeitskräfte im Urwald, dann stellt man sie ein, statt sie auszuliefern. Oder die Sträflinge geraten durch Zufall an Menschen, die bereit sind, ihnen zu helfen, statt sie der Polizei auszuliefern. In Moengo, der amerikanischen Aluminiumstadt in Holländisch-Guayana, habe ich verschiedene frühere Sträflinge getroffen. Der älteste Einwohner Moengos, der eigentliche Begründer der Stadt, ist auch ein früherer Sträfling, er ist ein Deutscher.

Auch die deutschen Herrnhuter, die sogenannte Kersten-Gesellschaft, helfen deutschen entkommenen Sträflingen. Können sie so viel Geld aufbringen, daß sich der Flüchtling ein Boot besorgt, mit dem er direkt nach Venezuela fahren kann, bevor das Auslieferungsverfahren von der französischen Regierung in Gang gesetzt wird, besteht die Möglichkeit einer Rettung.

In Paramaribo wurde mir von einem deutschen Flüchtling 56 erzählt, dem es mit ungeheurer Willenskraft gelungen ist, nach Venezuela und von dort nach Deutschland zu entkommen. Vor einigen Monaten bekamen seine Freunde in Holländisch-Guayana Nachricht von einem deutschen Irrenhaus. Der Mann starb dort.

Aber die Beispiele der wenigen Glücklichen und die Verzweiflung treiben immer neue zu Fluchtversuchen, obgleich das Los der Wiedereingefangenen um so schlimmer ist. Ein »Libéré«, der zu entkommen versucht, kommt wieder ins Gefängnis, in Gefängnisse, die besonders bewacht werden, und sie erdulden schärfste Strafen. Und doch, fast jeden Tag versucht einer, aus Saint Laurent zu entkommen.

Rue Voltaire, Rue Jean-Jacques Rousseau, Rue Victor Hugo. Wenn die das ahnten, daß die Straßen Saint Laurents gerade nach ihnen heißen. Die armseligsten, hoffnungslosesten Geschäfte haben hier oft wenig treffende Bezeichnungen. »A l'Espérance« (»Zur Hoffnung«) ist ein beliebter Firmenname. Auch »Grand Magazin«, »Mode de Paris« und ähnliches.

Monsieur Armand, der Photograph und Goldminenbesitzer, ist nicht zu Hause. Die Tür ist offen, eine Klingel knarrte heiser, auf dem zerbrochenen Stuhl lagert Staub, das ist das photographische Atelier Saint Laurents.

Unterwegs treffen wir einen Passagier der »Biskra«, Monsieur Letellier, er ist der zukünftige Direktor der Zuckerraffinerie von Cayenne. Er hat lange Jahre auf Java gelebt und in Westindien. Er schwört, noch nie einen ähnlich heißen Tag wie heute erlebt zu haben. Er ist verzweifelt, in was für ein Land ist er geraten! Jahrelang es hier aushalten, unmöglich. Der Direktor bekommt in Cayenne ein Haus und ein Auto zur Verfügung gestellt, allerdings keine Wege, wo er es recht benutzen könnte, und eine Dienerschaft, ganz und gar à discrétion. Die Strafgefangenen lauern geradezu darauf, Kammerdiener zu werden, sie sind auch Schofföre, Köche, Gärtner. Über alles können sich die Funktionäre und Beamten beklagen, nur nicht über Dienstbotennot. Nicht zum Aushalten, Monsieur Letellier, was sollen erst die Gefangenen sagen.

Er erzählt über sein Diner bei einem hohen Verwaltungsbeamten. Dessen gesamte Dienerschaft besteht aus Mördern. Er hat eine gewisse Vorliebe für sie, weil er behauptet, das Morden wäre ein Verbrechen, das man nur in allerseltensten Fällen 57 gewohnheitsmäßig betriebe. Dagegen betrügen die Betrüger, klauen die Diebe bei der ersten Gelegenheit, die sich ihnen wieder bietet.

Ich habe furchtbaren Durst, und Monsieur Letellier schlägt mir vor, in das Haus dieses hohen Verwaltungsbeamten zu gehen, der sehr gastfreundlich sei, um dort etwas zu trinken.

Aber ich ziehe dann doch das chinesische Dorf vor, obgleich mir Monsieur Letellier erklärt, daß es für eine Dame nicht schicklich sei, die dortigen »Cafés« zu betreten.

Das chinesische Dorf heißt so, weil die Besitzer der Ausschänke meist Chinesen sind. Die Schankerlaubnis kostet Geld, ein »Libéré« kann kaum in die Lage kommen, Wirt zu werden. Vielleicht wird der Chinese von der »Biskra«, der nicht nach Britisch-Guayana konnte, sich hier ansiedeln. Ein beneidenswertes Leben erwartete ihn jedenfalls auch dann nicht, wenn sein Geschäft einmal so gut ginge, wie das des Toi Hang aus Schanghai, das wir jetzt betreten.

Was sitzen hier für Gestalten vor ihrem Glas Rum, Gespenster, deren Element Bazillen sind. Es riecht nach Schmutz und Fäulnis. Die Gläser sehen aus, als nähme man sich nie die Mühe, Krankheitskeime von ihnen abzuspülen. Wirklich, der Durst vergeht mir.

Zwischen den Tischen geht eine dicke Negerin umher und schreit mit den Wagemutigen, die mit ihr zu schäkern versuchen.

»Weg mit deinen Dreckpfoten, du Hundesohn!«

Französisch-Guayana ist das einzige Land, wo sich die Neger als Aristokraten fühlen können, sie verachten unglaublich die Weißen. Für eine Negerin, die sich mit einem Weißen abgibt, ist das eine genau so große Schande wie für eine blaublütige Amerikanerin, sich mit einem Neger zu verbinden. Weiße, das sind Henker oder Verbrecher, gehetzte Tiere oder brutale Jäger, die niedrigste Rasse der Welt.

Wird aber ein »Libéré« eine Negerin doch zur Frau bekommen, wächst sein Ansehen riesig. Er ist wieder aufgenommen in die menschliche Gesellschaft, wenn auch nicht als vollwertiges Glied.

Die Männer sind schon etwas benebelt vom Alkohol, sie haben diesen unerträglichen Blick geschlagener Hunde. Gehen wir doch lieber.

58 Vor der Tür trifft Mr. Burr den Photographen Armand. Es hat sich schon herumgesprochen, daß man ihn sucht, und er ist neugierig, den Grund zu erfahren.

Er weiß nichts von Duval, nur daß er nie wieder hier auftauchen wird, das weiß er bestimmt. Er besaß nichts, was er geschrieben hat, war nur Flunkerei.

Aber er, der Photograph Armand, besitzt wirklich Goldgruben, er bekennt offen, daß die Goldgruben keine Goldgruben sind und nur sehr spärlichen Gewinn abwerfen, und doch ist er glücklicher als die meisten anderen. Er kann wenigstens schlecht und recht irgendwie leben und vor allem, er kann hoffen, er hat ja die Goldgrube. Einmal ein großer Fund, und er wäre ein gemachter Mann. Allerdings viel würde es ihm auch nicht nützen, er ist ein lebenslänglich »Freier«.

Er stellt seinen Freund vor, das ist René, auch einer, der fort möchte und nicht kann.

René, der Freund, macht Bilder aus Schmetterlingsflügeln, eine Art Dadakunst.

»Ich habe das Recht, von hier fortzukommen, doch läßt man mich nicht, schikaniert mich. Gut, ich habe etwas ausgefressen, aber ich habe dafür gesühnt, ich habe in Paris vier Jahre dafür aufgebrummt bekommen, vier Jahre lang war ich ein Sträfling, habe gelitten, wurde gequält, aber das war noch nicht genug zur Sühne. Vier Jahre noch bist du ›Libéré‹, bist du ›Freier‹, hungerst, bist krank, und niemand hilft dir, hast kein Obdach. Gut, auch das macht man noch alles durch, man sagt sich, einmal geht es doch noch zu Ende. Aber die hohen Herrschaften meinen, es ist noch nicht genug, der Kerl muß noch tiefer in den Dreck, in den Schlamm. Du willst atmen, du willst leben, nein, mein Lieber, zurück in den Schlamm, zurück in den Schmutz. Man macht Akten, kritzelt dein Schicksal zu einer Nummer, macht Abschriften, Eingaben, man schnauzt dich an, weil du wagst, ungeduldig zu werden, spricht von dem natürlichen Lauf der Amtshandlung, es vergeht ein ganzes Jahr seit deiner ›vollständigen Freiheit‹, und du sitzt immer noch hier. Jawohl, so sieht es hier aus, so steht es um uns.«

Monsieur Letellier verspricht, über den Fall unbedingt nach Paris zu berichten. Das wäre ja wirklich ein Skandal.

»Kennen wir ja, das Berichten und die Abhilfe, man macht uns 59 nur Versprechungen und vergißt uns, sobald wir aus der Sichtweite sind. Aber wenn Sie nach Paris berichten wollen, sagen Sie doch den Herren, sie sollen, wenn sie Französisch-Guayana unbedingt bevölkern wollen, alle großen Diebe, alle großen Betrüger, die großen Mörder herschicken und nicht die kleinen, und sie brauchten sich nicht zu sorgen, daß es hier nicht genug voll wird. Aber nicht einmal diejenigen sind hier, die die großen Gehälter bekommen, um unser schönes Land vorwärtszubringen, die erholen sich in Nizza und in Paris, die müssen ihre Gesundheit pflegen. In Guayana halten sich von der Regierung auch nur die kleinen armen Teufel auf, die keinen Einfluß und keine Verbindungen haben, denen sind wir ganz ausgeliefert, die rächen sich dann an uns.«

»Ich verspreche Ihnen, wirklich nach Paris zu berichten«, sagt Monsieur Letellier und gibt René eiligst die Hand.

 


 << zurück weiter >>