Maria Leitner
Eine Frau reist durch die Welt
Maria Leitner

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III Amerikanische Provinz

Kellnerin in der »Soda-Quelle«

Da steht man nun in einem nach Arzneien, Drogen und Sirup riechenden Raum, bewaffnet mit einer langstieligen Fliegenklatsche, assistiert von dem Lehrjungen Bob, dem es entschieden mehr Spaß bereitet, alle Augenblicke Gläser zu treffen und Flaschen umzuwerfen, und macht Jagd auf Fliegen. Eine Beschäftigung, die nützlich – denn die Fliegen vermehren sich hier unheimlich –, doch in keiner Weise anstrengend ist.

Also ein Kleinstadtidyll? Oh, bitte, wir befinden uns in A . . . town in Pennsylvania, einer Stadt, deren Einwohnerzahl zwar die Hunderttausend noch nicht erreicht, aber schon weit über fünfzigtausend gediehen ist. Man braucht sich nur vor die Ladentür zu stellen, um Verkehrstürme zu sehen, die zwar nicht so groß sind wie jene auf der Fifth Avenue, aber um so aufgeregter bald grün, bald rot blinzeln. Auf dem Hauptplatz mit den Banken, Hotels und dem Sitz der Christlichen Vereinigung Junger Männer weisen Kreidestriche den Autos den Weg, außerdem ist eine Kette da, an die sich die Fußgänger klammern können, um sich aus der Gefahrenzone zu retten. Überall sieht man endlose Autoreihen, und wenn auf einem Fleck kein Auto steht, dann ist eben dort die Tafel »No Parking« angebracht. Wir haben dutzendweise Fünf- und Zehncent-Geschäfte und ein Warenhaus, mit Verkäuferinnen, die jung und hübsch, uniform in weiße Seide gekleidet, »eine Sehenswürdigkeit, wie sie kaum New York bietet«. Wir sind in der schönsten und reinsten Stadt der Union, wie alle 81 Aufschriften versichern. Ja, wir haben ein Missionshaus, auf welchem nachts mit transparenten Buchstaben die Aufschrift aufleuchtet: »Jesus rettet deine Seele, unentgeltlich.«

Es geht natürlich auch in dem »drugstore«, wo ich angestellt bin, nicht immer so ruhig und still zu, wie man nach der Einleitung vielleicht annehmen könnte. Nein, manchmal muß sich eine Kellnerin (die bin ich) recht tummeln, um die ungeduldigen Gäste nach Wunsch zu bedienen.

Denn wir führen nicht nur alle Arzneien, Schönheitsmittel, Galanteriewaren, Zigarren und Zigaretten, Uhren, Schreibpapier, Schokoladenbonbons, Glückwunschkarten, man kann bei uns auch Sandwiches essen, Geselligkeit pflegen, vor allem aber haben wir die größte Auswahl in Eissodas und Eiscremes aller Art in der Bar, die seit der Prohibition »soda fountain«, Soda-Quelle, heißt.

Der Herrscher des Eiscremereichs aber ist der Sodamann. Da steht er vor einem Hintergrund von Gläsern, mit den verschiedensten eingemachten Früchten. Vor ihm aber befinden sich in eisgekühlten Metallgefäßen allerlei Sorten von Eiscremes, die sich nicht so sehr im Geschmack wie in der Farbe voneinander unterscheiden; einen besonderen Ehrenplatz aber nehmen die Schlagsahne und die heißen Vanille- und Schokoladensoßen ein. Die Aufgabe des Sodamannes ist nun, diese verschiedenen Bestandteile so zu vermengen, daß die entstandenen Mischungen immer unter einem anderen wohlklingenden Namen dem Publikum vorgesetzt werden können.

Darauf verstand er sich ausgezeichnet. Mit zusammengekniffenen Augen und größter Sorgfalt mixte, rührte und schmückte er, mit wahrer Hingebung, wie es mir anfangs schien. Und doch stellte sich heraus, daß er mit seinem Beruf gar nicht zufrieden war, ja, er verachtete ihn sogar.

»Dieses ekelhafte süße Zeug«, sagte er, »es ist eine Schande, daß sich ein Mann mit so etwas abgeben muß.« Der Sodamann war nämlich früher, freilich schon vor sehr langer Zeit, Mixer in einer Bar eines kleinen Fabrikstädtchens gewesen. Und das waren natürlich andere Zeiten. Wenn Bob, der Lehrjunge, und ich ihn in gute Laune versetzen wollten, baten wir ihn immer, uns etwas über diese schönen Zeiten zu erzählen.

Seine Augen leuchteten auf, wenn er begann: »Da gab es 82 Betrieb. Und wenn einer voll war, hat er die Zeche nicht lange nachgerechnet. Wie oft ist so ein Kerl gekommen, mit seinem Wochenverdienst, und hat gesoffen, bis er steif umfiel. Man hat ihn liegenlassen. Wenn man dann allein mit ihm war, nahm man aus seiner Tasche, was noch übriggeblieben war, versetzte ihm einen Stoß, und schwupps war er draußen. Erledigt. Da konnte es ein tüchtiger Mann noch zu etwas bringen. Aber heute!« Die geringschätzige Handbewegung und der in Ekel verzogene Mund bezogen sich auf die so wenig erfreuliche Gegenwart.

 

Den Chef, der die »Apotheke« besorgte und den Kunden ärztliche Ratschläge gab, fand ich anfangs nicht wenig interessant, wenn auch freilich etwas komisch. Er hinkte stark, trug einen langen, schwarzen Bart und eine schwarzrandige Brille. Man sah in seiner Hand ständig geheimnisvolle Schriftstücke und Dokumente, und oft schrieb er versunken, allerlei Papier vor sich.

Ich erfuhr auch bald, daß er die Geschichte seiner Familie schreibt. Und zwar erhielt ich hiervon Kenntnis, als er mich in einer für Bayern etwas beschämenden Angelegenheit befragte. Es handelte sich darum, daß die Heißtopfs über ihren Stammvater, der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts aus einem bayerischen Dorf nach Amerika ausgewandert war, genaue Daten einziehen wollten und zu diesem Zweck dem Gemeindevorstand besagten bayerischen Dorfes einen größeren Dollarbetrag zugesandt, aber seitdem weder etwas von dem Urahn noch von dem Gemeindevorstand, selbstverständlich auch nichts über den Dollarbetrag gehört hatten. Ich versuchte dem Historiker klarzumachen, daß in dem letzten Jahrzehnt die Sitten in Europa in Unordnung geraten sind und daß sich dort die Leute nicht einmal um ihre eigene lebende Familie kümmern, geschweige denn um die Verstorbenen anderer Leute. Wahrscheinlich aber, meinte ich, hielt der bayerische Gemeindevorstand die Dollarsendung für ein Himmelsgeschenk, über das man sich kein weiteres Kopfzerbrechen machen müsse.

 

Nachher fragte mich Bob: »Was haschte mit dem Boß geschwätzt? Warum willscht denn wisse, wann alle Heißtopfs gebore und gestorbe sind?«

Von Bob sollte ich erfahren, daß Familienhistoriker hierzulande 83 unter den Pennsylvania-»Dutchs« etwas recht Gewöhnliches seien, daß jede Familie, die etwas auf sich hielt – und jede Familie hält etwas auf sich –, einen Historiker besitze. Die Besseren dagegen, wie zum Beispiel der Klan, der Blitz, verfügten über ein ganzes historisches Komitee, das mitunter aus sechs Mitgliedern bestünde. Die armen Heißtopfs müßten sich erst jetzt um einen Stammvater bemühen, was bei einer alteingesessenen Familie, wie – sagen wir – den Blitz', deren Abstammung von Anfang an dokumentarisch belegt sei, unmöglich wäre. Und dann werden die Blitz' in der nächsten Woche ihren zweiunddreißigsten Familientag abhalten, während sich die Heißtopfs erst zum vierzehnten Male versammeln.

 

Nachmittags beginnt bei uns der richtige Betrieb.

Meist erscheinen als erste die Vorsteherin und der Seelsorger des Missionshauses.

Während der Seelsorger sich mit einer einfachen Orangeade begnügt, bevorzugt die Missionshausvorsteherin die Kompositionen des Sodamannes mit den mannigfaltigen Bezeichnungen.

Eigentlich verdienten die Benennungen der Eiscremes allein ein Kapitel für sich.

Da heißt zum Beispiel eine »Birth of a Nation« (die Geburt einer Nation). Eine andere »Nordpol, eine Komposition in Weiß«. Doch kann man auch einen »Charlie Chaplin« bestellen, in überwiegender Zahl aber sind die süßlich erotischen Namen.

Die Missionsvorsteherin bestellt bei mir zum Beispiel mit strengem Gesicht: »Lovers' Delight«. Und ich brülle geschäftsmäßig dem Sodamann zu: »Entzücken der Liebenden«.

Dann kommen die Schnecks, die Günthers, die Heißtopfs, die Blitz', alle sehr beschäftigt, denn es ist Hochsaison in Familientagen. Es kommen die Präsidenten und Vizepräsidenten, ein Familiendichter, ein Vorsitzender der Familientagsfinanzkommission, ein Nekrologist, der immer die Familiennekrologe, falls Bedarf in solchen besteht, hält. Aber man darf sich nichts Phantastisches, nichts von E. T. A. Hoffmann unter einem »Nekrologisten« vorstellen, er ist vielmehr ein sympathischer, noch junger Mann, im Nebenberuf Verkäufer in einem der größten Warenhäuser der Stadt, sicher ein ausgesprochener Optimist, der ständig nette Züge von verstorbenen Onkels und Tanten sammelt, der zum 84 Beispiel rührende Geschichten über die im sechsundachtzigsten Lebensjahr entschlummerte Tante Ida schreibt.

Das Programm eines Familientages beginnt mit dem Absingen des Liedes »Amerika« und wird mit einer Ansprache des Familienpastors fortgesetzt.

Ein wichtiges Gesprächsthema liefert auch der verflossene Familientag der Bonicks. Diese Familie, die überhaupt erst seit drei oder vier Jahren Familientage abhält und die höchstens seit vierzig Jahren hier ansässig ist, besaß die Frechheit, alle Familienrekorde des Jahres zu schlagen, und es bestand nur wenig Hoffnung, sie noch übertrumpfen zu können. Die Zahl der Anwesenden belief sich auf zweihundertfünfunddreißig, und es waren ein vierundneunzigjähriges und ein acht Tage altes Mitglied der Familie zugegen. Und eine Rede wurde gehalten über die »Sechs Stufen zu dem Thron des Erfolges«.

 

Ich genieße hier, hoffentlich klingt dieses Geständnis nicht großsprecherisch, ein gewisses Ansehen, das ich allerdings nicht meiner Person, vielmehr dem Umstand verdanke, daß ich aus New York komme. Alle fragen mich, wie mir »unsere« Stadt gefällt, und sie scheinen sich über mein Entzücken aufrichtig zu freuen.

»Wirklich, Sie kommen aus New York? Na, Fräulein, dann bringen Sie mir eine ›Brooklyn Bridge‹«, sagt mir der dritte Vizepräsident der Familie Krümmle.

»Brooklyn Bridge«, rufe ich dem Sodamann zu, und etwas sehr Kompliziertes, in allen Farben Schimmerndes, mit gelben und roten Früchten Geschmücktes, beginnt sich vor mir aufzutürmen. Sehr behutsam, damit »Brooklyn Bridge« heil ankommt, schiebe ich mich mit dieser Farbensymphonie zwischen den Tischen vorwärts. Aber ich fühle, daß ich auf meinen Schultern nebenbei auch noch Wolkenkratzer trage und über meinem Kopf Brooklyn Bridge, die ferne, echte, wie eine Erscheinung auftaucht. 85

 


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