Maria Leitner
Eine Frau reist durch die Welt
Maria Leitner

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Saint Jean, das Reich der Diebe

Sollte je ein Wettbewerb stattfinden, der die kleinste und primitivste Bahn der Welt prämiieren wollte, würde die Bahn zwischen Saint Laurent und Saint Jean gewiß den Sieg erringen.

Diese Bahn läuft meist, wenn sie Personen befördert, ohne Lokomotive, aber sie ist nicht etwa elektrisch. Wie das zugeht? Diese Bahn wird gerudert. Mit langen Stäben, die Buschneger oder Sträflinge bedienen. Die kühnen Reisenden, die sich dieser Bahn anvertrauen, werden stark durcheinandergerüttelt, aber sie rollen wie der Blitz auf den Schienen durch den Urwald.

Allerdings kann man auch im Auto die siebzehn Meilen machen, die Saint Jean von Saint Laurent trennen. Aber in Wirklichkeit ist die Entfernung unvergleichlich größer, als die Meilenzahl anzeigt. Saint Jean ist wieder eine andere Welt. Eine Welt, die noch schrecklicher ist, noch unmenschlicher als die von Saint Laurent. Von Saint Jean gesehen ist sogar Saint Laurent eine lebhafte Stadt, sie steht mitten im Menschengetriebe. Ihr Hafen verbindet sie mit der übrigen Welt.

Aber Saint Jean liegt mitten im Urwald, seine Zwangsbewohner haben kein Auto, das sie nach Saint Laurent bringen könnte. Sie dürfen auch nie die oben beschriebene Bahn benutzen.

Blockhäuser unter Palmen, auf Hügeln am Ufer des Maroniflusses – der Anblick wirkt von weitem fast anziehend. Aber sieht man das Innere der Blockhäuser, die Gefängnisse sind, atmet man die schwere, heiße Sumpfluft, begreift man gut die Verzweiflung der Zwangseinwohner. Ihre Zahl ist fast zweitausend. Zweitausend Menschen mitten im ungesündesten Urwald. Was suchen sie hier, was haben sie verbrochen? Es sind keine »Forçats«, keine Zwangsarbeiter, sondern »Rélégués«. Das harmlose Wort »Rélégué« bedeutet »Verbannte«. Ihre Strafe hatte eine noch harmlosere Umschreibung »interdiction de séjour«, das heißt »Aufenthaltsverbot für Frankreich«. Aber der Unterschied zwischen einem »Zwangsarbeiter« und einem »Verbannten« ist gleich Null.

Die Bewohner Saint Jeans sind Diebe, kleine und kleinste Diebe. Keine großen Räuber, keine Banditen, sondern Taschendiebe, Warenhausmarder, Hühnerdiebe.

Nach Saint Jean kommen sie, wenn ihnen mindestens sechs Diebstähle bewiesen werden können. Dann aber sind sie in der 64 Falle, lebenslänglich. Sechs Diebstähle sind vielleicht gar nicht so viel, wie es scheinen mag, wenn einer mal hier ein Brot, dort ein warmes Halstuch oder ein paar Francs stiehlt.

In Berlin mögen sich Hausfrauen darüber unterhalten, ob sie lieber ein Dienstmädchen aus der Provinz oder aus der Großstadt haben, die Damen der Administration in Französisch-Guayana diskutieren darüber, ob sie als Dienstpersonal Mörder oder Diebe bevorzugen. Das merkwürdige ist, daß Mörder bei weitem beliebter sind als Diebe. Eine Hausfrau, der man nachsagen würde, ihr Koch sei aus Saint Jean, müßte sich schämen. Dagegen ist das Beste, was man hierzulande sich leisten kann, ein Mörder aus Leidenschaft.

Wenn die Sträflinge Eindruck schinden wollen, antworten sie auf die Frage, warum sie hier seien, ganz regelmäßig: »J'ai tué ma maitresse.« (»Ich habe meine Geliebte getötet.«) Man hält das für sehr schick.

Wir scheinen doch noch nicht ganz aus jenen mittelalterlichen Zeiten heraus zu sein, in denen Eigentumsdelikte als die größten Sünden angesehen wurden.

»In Saint Jean befinden sich die Elemente, die im stärksten Grade asozial sind«, erklären die Aufsichtsbeamten.

Das Asoziale scheint auch Auffassungssache zu sein. Mein Geschmack jedenfalls weicht von dem der offiziellen Kreise Französisch-Guayanas ab. Ein Dieb ist mir jedenfalls sympathischer als der eifersüchtigste Mörder.

Man gebe doch einem dieser Diebe eine einträgliche Stellung, und sie werden sofort aufhören, asozial zu sein und Brot zu stehlen. Und dann, beurteilte man so streng jeden Diebstahl, was würde dann mit der Administration in Französisch-Guayana geschehen? Die Gefängniswärter haben jedenfalls nicht den Ruf, den Gefangenen das, was ihnen wirklich zukommt, zu gewähren. Gewohnheitsdiebe? Sind es nicht auch manche von den Herren, die die kleinsten Diebe so streng verurteilen?

Als ich den Film »Unter den Dächern von Paris« sah, hatte ich wirklich Angst um den netten »Préjean«. Ich habe es ja gesehen, wie diese kleinen Taschendiebe, die Lumpenproletarier aus den Vorstädten von Paris, enden. Wie, wenn man sechs speckige, fleckige Hausfrauen- oder Dienstmädchen-Geldbörsen bei ihm gefunden hätte? Das sind sechs bewiesene Diebstähle und genügend für 65 Saint Jean. Bei einem mehrfach Vorbestraften wäre ein Koffer voll Silber mehr als genug Grund zur Verbannung. Aber im Film ist zum Glück alles mehr auf »happy« als auf Wirklichkeit abgestimmt, und so endet immer alles gut, und das Publikum kann sich freuen.

Guter Charlie, auch du säßest schon längst lebenslänglich im Zuchthaus, wenn du im Leben und nicht im Film die dicken Satten bestehlen würdest, denn in den Vereinigten Staaten ist die Strafe schon bei dem vierten Diebstahl lebenslängliches Zuchthaus.

»Wir sind die Pechvögel«, sagt ein früherer Herrschaftsdiener, ein alter Einwohner Saint Jeans »Alle tun es, aber wir müssen daran glauben. Wenn jeder bestraft würde, der in seinem Leben schon gestohlen hat, dann müßte die ganze Welt eine einzige Strafanstalt werden. Aber bestraft werden natürlich nur die Dummen. Wenn ich gewußt hätte, daß es mit mir noch so enden würde, hätte ich mich auch schlauer angestellt. Ich hätte wirklich Wertvolles gestohlen und mich schleunigst aus dem Staub gemacht, aber ich wollte nur meiner Freundin kleine Aufmerksamkeiten erweisen. Wenn man immer so hübsche Dinge um sich sieht, möchte man auch Menschen, die einem nahestehen, eine Freude machen.«

»Ein netter Diener, nicht wahr?« Ein anderer Gefangener hatte sich zu uns gesellt: »Aber ich bin ganz unschuldig hier. Mein Freund hat gestohlen, und man hielt mich für den Dieb, ich wollte ihn nicht verraten.«

»Hören Sie nur nicht auf die Erzählungen dieser Kerle, wenn sie über sich sprechen, könnten Sie meinen, es sind lauter Unschuldslämmer. Alle, die hier sind, haben mehr als genug auf dem Kerbholz.«

»Stimmt, auch die Aufseher«, flüsterte ein junger Mann, der fast noch wie ein Kind aussieht.

»Sind Sie schon lange hier?«

»Lange genug, aber es wird nicht mehr lange dauern, es geht bald mit mir zu Ende.«

»Ach Mensch, hör auf zu flennen«, ruft ihm der einstige Herrschaftsdiener zu.

»Wie kamen Sie denn hierher?«

»Ist das denn so schwer? Meine Frau war krank, und ich 66 brauchte dringend Geld. Ich habe mein Glück in einem Warenhaus versucht, aber es wurde mir gleich zum Unglück. Man hat mich sofort gefaßt. Ich saß gleich in der Klemme; die richtigen Diebe faßt man nicht so leicht, die wissen, wie man ein Ding richtig dreht. Kaum aber hatte ich meine Strafe auf dem Buckel, ging es schnell abwärts. Ein Vorbestrafter findet keine Arbeit, da bleibt nichts anderes übrig, man versucht es wieder mit dem Klauen. Aber ich hatte zu große Angst, man sah es mir immer schon an, was ich vorhatte.«

»Die richtigen Diebe, die etwas von ihrem Handwerk verstehen, bringen es nicht zur Diebeskolonie.« Der Sprecher ist dürr, hager, er hat mehr Ähnlichkeit mit einer Mumie als mit einem lebendigen Wesen. Er ist ein früherer Hotelkellner. »Jeder in unserem Hotel hat gestohlen, die Gäste, das Küchenpersonal, der Direktor, aber gerade auf mich hatte man es abgesehen.«

»Ja, das Stehlen ist ein große Sünde. Wir roden den Urwald und bekommen dafür zwanzig Centime den Tag, das ist kein Diebstahl, uns bestiehlt man nicht.«

»Unsere Tagesration ist sechsundneunzig Gramm Fleisch, ein kleines Kommißbrot und sechzig Gramm Reis. Das Fleisch ist schlecht, das Brot ist schlecht, der Reis ist schlecht, etwas anderes bekommen wir nicht. Kein Obst, kein Gemüse, aber uns bestiehlt man nicht.«

»Wenn einem die Sache zu bunt wird, und er will nicht mehr arbeiten für zwanzig Centime den Tag, dann kommt er in die Dunkelzelle, wo er nichts sieht, nichts hört und nur Wasser und Brot bekommt, oder er wird an einen eisernen Pfahl angekettet. Das nennt man Disziplinarstrafe. Die hat man doch sicher verdient, wenn man für zwanzig Centime den Tag nicht den Urwald roden will. Wir sind wirklich große Sünder.«

»Wenn wir nicht hoffen würden, daß wir doch noch einmal von hier fortkommen könnten, keiner wollte mehr den Dreh weitermachen.«

Die Sterblichkeitsziffer unter den Gefangenen von Saint Jean gehört zu den höchsten in den Strafanstalten. 67

 


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