Maria Leitner
Eine Frau reist durch die Welt
Maria Leitner

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Cayenne

Im allgemeinen sagt man Cayenne, wenn man Französisch-Guayana meint. Cayenne lebt in unserer Phantasie als Begriff ganz Französisch-Guayanas. In Wirklichkeit aber ist die Verbrecherkolonie in Saint Laurent und die auf den Salut-Inseln bezeichnender für Französisch-Guayana.

Cayenne ist die Hauptstadt. Wahrscheinlich gibt es keine zweite Hauptstadt in der Welt von so verzweifeltem Elend, aber immerhin ist es eine Stadt, deren Einwohner nicht unbedingt Verbrecher oder Gefangenenwärter sein müssen. Im Gegenteil, die ehemaligen Sträflinge, die »Libérés«, die mit so wenig Recht »Freie« genannt werden, dürfen sich in Cayenne gar nicht niederlassen, dürfen hier keine Geschäfte oder Unternehmungen haben.

Die »Biskra« wirft Anker sehr weit draußen im Hafen. Der Hafen selbst ist vollkommen versandet, und man wird in kleinen Ruderbooten zur Stadt befördert.

In diesen Booten rudern zum Teil Sträflinge, die ihre Herren zur »Biskra« bringen oder die beim Löschen des Schiffes helfen. Das ist die besondere Note des Hafens von Cayenne. Auch daß, wenn das Boot ganz besonders stark schaukelt und dem Kentern nahe scheint, der Schiffer beruhigend erklärt: Das war sicher wieder ein Haifisch.

Am Ufer steht ganz Cayenne und sieht sich die Neuankömmlinge an, wobei nicht mit Bemerkungen über sie gespart wird.

Dieses Cayenne, das hier dicht gedrängt steht und das seltene Schauspiel einer Schiffsankunft bewundert, setzt sich zusammen aus Bürokraten, die sich als Verbannte fühlen, und aus Negern, die zivilisiert sind.

In der Stadt gibt es Regierungsgebäude, Banken, eine Handelskammer, eine Universität und ein Waisenhaus mit vielen Mulattenkindern – Abkömmlinge von Sträflingen, die jetzt von Nonnen erzogen werden. Das klingt aber alles schöner, als es in Wirklichkeit ist. In den Straßen wächst kniehoch das Gras, eine Wasserleitung gibt es nicht, und die offenen Kloaken verbreiten in der Tropenhitze einen greulichen Gestank. Neben räudigen Hunden sind anscheinend Aasgeier die Lieblingstiere der Stadt. 70 In ungeheueren Massen beleben sie die Plätze und Gassen, kauern schwarz in dichten Scharen auf den Hausdächern rund um den Markt und um die Lager der Gefangenen.

Sie scheinen die einzigen Lebewesen zu sein, die hier gut gedeihen, denn nicht nur die Gefangenen, auch die übrigen Einwohner sehen alle bedauernswert aus. Fast jede Negerin leidet an der schrecklichen Tropenkrankheit: Elephantiasis. Auf unförmigsten Beinen schleichen die Negerinnen durch Cayennes Straßen, sie verrichten auch meist die schwerste Straßenarbeit, und ihre mühlradähnlichen Strohhüte schützen nur ihr Gesicht vor den verderblichen Einflüssen der Sonne.

Cayenne hat sogar ein richtiges Café, wo man allerdings keinen Kaffee bekommen kann, wir sind ja in einem Land, wo der Kaffee wächst. Dafür aber stehen draußen zwei runde Tische mit Stühlen, direkt am Platz Palmiste. Die Cayenner sagen allerdings, das sei kein Platz, sondern ein richtiger Busch, und fassen das nicht als Kompliment für die Stadtverwaltung auf.

Hier in diesem Café, es nennt sich »Grand Café Verdun«, spielt sich das gesellschaftliche Leben Cayennes ab, hier treffen sich die Administration und die Intelligenz der Stadt und die seltenen Durchreisenden.

Ein Sträfling, der Rum kaufen möchte, wird von der Besitzerin, einer Negerin, die sehr viel weißen Puder aufgelegt hat, zurückgewiesen. »Quel toupet«, sagt sie sehr pariserisch, welche Frechheit, »es gibt keine Disziplin mehr« und wendet sich an die anwesenden Mitglieder der Administration.

Ein echt französischer Typ – kleiner, schwarzer Schnurrbart und Spitzbart – spielt mit einem Herrn, der eventuell auch aus Berlin sein könnte, Billard. Einige sehr exotisch aussehende Enten, die nicht aus dem Café zu scheuchen sind, stören die Spielenden. Die französische Type flucht portugiesisch und entpuppt sich als Viehhändler aus Brasilien. Der Herr dagegen, der aus Berlin sein könnte, ärgert sich auf österreichisch. Er behauptet, Direktor eines New-Yorker Naturkunde-Museums zu sein und beauftragt, Riesenschlangen aufzukaufen. Zu diesem phantastischen Beruf ist er offenbar erst in reiferen Jahren gekommen, er ist ein Wiener und ist wahrscheinlich früher in einer anderen Branche gereist als in Schlangen.

Er fragt zwischendurch jeden besorgt, was es wohl zu bedeuten 71 habe, daß man ihm auf der Polizei, als er sich meldete, den Paß abnahm. Er möchte doch nicht ewig in Cayenne bleiben.

Jedenfalls beschloß ich, als ich seine Klagen hörte, die Polizei gar nicht in Versuchung zu bringen, meinen Paß zu behalten. Ich konnte mich übrigens nicht beklagen, in Französisch-Guayana von der Polizei viel belästigt worden zu sein, Frauen gegenüber ist man hier nicht so mißtrauisch.

Bei der table d'hôte, auch das klingt großartiger, als es in Wirklichkeit ist, lernte ich die Administration kennen. Beim Mittagessen die Administration? Nun, ich hatte in Französisch-Guayana amtlich nichts zu erledigen, und doch konnte ich ohne Amtsstube durch harmlose Privatgespräche mit Vertretern aus diesen Amtsstuben mir eine genaue Vorstellung von der Administration machen.

Es sind meist liebenswürdige, nette Herren aus kleineren Städten Frankreichs, die man nicht unbedingt auf einer Weltkarte finden muß. Sie bleiben zwei Jahre und zählen die Tage bis zu ihrer Rückkehr, sie haben sehr viel zu tun. Im Amt gibt es ungeheuer viele Akten, sie bringen diese zur Bearbeitung sogar mit nach Hause.

Ich frage sie über die Gefangenenlager, die Hospitäler, aber sie haben ja gar keine gesehen. Wie sollten sie dazu Zeit finden bei der vielen Arbeit und den vielen Akten. Sie kennen nicht einmal die nächste Straße, sie kommen nicht einmal dazu, sich Cayenne anzusehen. Sie sehen nur Akten, immer nur Akten, bis die zwei Jahre um sind und ihr Nachfolger erscheint.

Ein Professor der Universität, Universität klingt eigentlich auch etwas hochtrabend, und sein Freund, ein Goldgräber auf Urlaub, die gleichfalls an der table d'hôte teilnehmen, kennen Französisch-Guayana schon besser.

Sie sind bereit, mir die besten und schlechtesten Seiten von Cayenne zu zeigen.

Die beste Seite ist die Promenade, ja, die gibt es auch. Die gute Gesellschaft von Cayenne, es sind Neger, sitzt auf den Bänken. Die Damen sehen sich die Modejournale an, die eben die »Biskra« mitgebracht hat.

Man hat von hier wirklich einen hübschen Blick auf die Stadt, auf das Meer, auf Felsen und Palmen, auf die farbige Pracht tropischer Blüten und auf eine Insel, die den Namen »Enfant Perdu«, 72 »Verlorenes Kind«, trägt, weil es von zwei größeren Inseln, den Eltern, entfernt liegt.

Der Goldgräber spricht: »Für mich ist Cayenne Nizza. Ich habe vierzehn Monate lang im Urwald gelebt. Sie können sich nicht vorstellen, wie groß, wie wunderbar Cayenne mir schien, als ich zurückkam. Wenn ich wieder nach Paris komme, wird es mir nach Cayenne nicht soviel größer erscheinen, wie Cayenne nach meiner Rückkehr aus dem Urwald. Ich war Flieger, flog zwischen Paris und Straßburg hin und her, bis ich plötzlich genug bekam, nicht nur vom Fliegen, sondern überhaupt von der Zivilisation, von der Stadt, von Paris. Goldgräber zu sein im Urwald, das war für mich nicht nur Abenteuer, nicht nur Abwechslung, sondern überhaupt Rettung aus unserer Zeit. Heute muß ich über mich lachen. Wie konnte ich so naiv, so dumm sein. Gerade in den Urwald wollte ich mich retten. Kein Mensch, der es nicht selbst versucht hat, kann es sich vorstellen, was das heißt, vierzehn Monate lang im Urwald zu leben und zu arbeiten. Ein paar Tage, sogar einige Wochen, das ist etwas ganz anderes. Diese Dunkelheit, diese Abgeschiedenheit, dieses ständig Auf-der-Hut-Sein vor dem Tod. Sie lachen über das elektrische Licht von Cayenne, es ist ja ein bißchen dunkel, ein bißchen rötlich, aber es ist Licht. Als ich zurückkam, konnte ich mich stundenlang damit unterhalten, das Licht einzuschalten. Wenn es regnet, muß ich nicht unbedingt naß werden, ich kann mich mit festen Mauern, mit einem Dach über meinem Kopf vor den Naturgewalten schützen, ich kann jeden Tag frisches Brot essen. Begreift man das, was das heißt, Brot, wenn man es lange Monate entbehren mußte? Ich kann in ein Geschäft gehen und alles kaufen, was ich will. Die armseligen Krämerläden Cayennes erschienen mir märchenhafter als die schönsten Warenhäuser in Paris. Ich kann mit Menschen plaudern, ich kann Zeitungen lesen, ich erfahre, was in der Welt vorgeht, bin wieder eingereiht in die menschliche Gesellschaft. Das, was man bei uns in Europa unter Natur versteht, unsere Ausflugsorte mit Aussichtsbänken, Kaffeegärten, mit schön geordneten Waldwegen, aber auch unsere Dörfer, unsere Äcker haben im Grunde mit der Natur genau so viel zu tun wie die Boulevards oder Paris. Ahnen unsere Naturschwärmer auch nur das geringste von ihrer Grausamkeit?

Ich wollte vor unserer Zeit fliehen, ich habe im Urwald 73 gearbeitet, in einem der wenigen Winkel der Erde, die noch unerforscht sind. Und für wen arbeitete ich? Für Aktionäre, für die Börse, für Generaldirektoren.

Meine Leute bekommen fünfundzwanzig Francs am Tage, das ist, was sie brauchen, um sich die allernotwendigsten Lebensmittel zu kaufen. Sie arbeiten in ständiger Lebensgefahr. Warum tun sie es? Weil sie nicht verhungern wollen. Ich werde, wenn ich meine zwei Jahre Kontrakt abgearbeitet habe, auch nicht reicher nach Paris zurückkehren, wenn ich überhaupt zurückkehre. Die Zeit, die mir bevorsteht, scheint mir viel schwerer und unerträglicher als die, die hinter mir liegt.

Wenn die Goldtransporte nach Cayenne abgehen, geschieht es heimlich mit allen Vorsichtsmaßregeln. Schon zweimal wurden unsere Goldschiffe geplündert, die ganze Mannschaft ermordet.«

Wenn im Sträflingsland ein Mord oder ein Raub geschieht, ein linksstehender Abgeordneter vergiftet wird, was sagen die Leute? Sagen sie vielleicht, das haben unsere Verbrecher getan, wir haben zu viel von ihnen? Nein, sie sagen, das haben sicher Agenten der amerikanischen Banken getan. Seitdem amerikanische Banken die Konzession in Französisch-Guayana bekommen haben, ist an Gerüchten, Befürchtungen, Hoffnungen kein Mangel. Die Amerikaner suchen Petroleum, wird erzählt, sie haben auch genug gefunden, beginnen nur nicht mit dem Bohren.

»Wissen Sie, daß Cayenne auf Bauxit gebaut ist, dem Rohmaterial des Aluminiums?« sage ich. »Ich war vor kurzem auf den Bauxitfeldern Gurinanes, und die Steine sind hier die gleichen.« Ich glaube eine große Entdeckung zu verraten.

»Das wissen wir auch, wir haben überall Gold, Bauxit, das wertvollste Holz, Balata, aber was machen wir aus all unserem Reichtum? Nichts. Wir versuchen es gar nicht, ihn zu heben, wir lassen ihn verkommen. Die Amerikaner sind wenigstens praktisch. Wenn sie irgendwo Geld anlegen, verstehen sie auch Nutzen daraus zu ziehen.«

Der Professor sagt das. In seinem alten, ausgedienten Ford fahren wir auf einer Straße, deren Holprigkeit kaum zu übertreffen ist.

Und doch hat diese Straße von einigen Dutzend Kilometern mehr Menschenopfer gefordert als irgendeine andere in der Welt.

»Man sollte Ihnen eigentlich gar nichts weiter zeigen, Sie sind 74 Ausländerin, Journalistin, es ist nicht unser Interesse, daß über die Zustände hier berichtet wird. Aber, wenn ich es mir überlege, denke ich doch, es ist auch unser Interesse. Es gibt überall in der Welt genügend Dummheit, Grausamkeit, Sinnlosigkeit. Aber vielleicht ist auf einem kleinen Stück Erde sonst nirgends das alles in so vollständiger Reinkultur zusammen wie hier. Sehen Sie diese Straße, das Fahren ist fast unmöglich. Ist es ein Wunder, sie ist ja mit Leichen gepflastert. Die Sträflinge, die diesen Weg gebaut haben, sind ohne Ausnahme gestorben. Verhungerte, an das tropische Klima nicht gewöhnte, kranke, der Sonne schutzlos preisgegebene Menschen haben hier gearbeitet mit den primitivsten Mitteln, als existierten nicht die vielgepriesenen Wunder der Technik.

Kein einziger hat die Anstrengungen, denen ihr Körper nicht gewachsen war, überlebt. Jetzt kann man die Straße nicht weiterbauen, man wartet auf den nächsten Menschentransport, auf die nächsten fünfhundert.«

 


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