Maria Leitner
Eine Frau reist durch die Welt
Maria Leitner

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Kampf um Kleider

»Gut, wir werden Ihre Eignung als Verkäuferin prüfen. Passen Sie jetzt gut auf.«

Ich memorierte schnell gutklingende Sätze, die man von Verkäuferinnen zu hören pflegt: Aber das Kleid sitzt ja wie angegossen . . . Diese Farbe paßt wunderbar zu Ihren Augen – und ähnliches. Indessen sah ich mich in dem mit Kleidern vollgestopften 35 Raum um. Einige Frauen, offenkundig Angestellte, gingen auf und ab und benahmen sich sehr merkwürdig.

»Nun, was ist Ihnen aufgefallen?« fragte mich die Prüfende. Ich wußte nicht, was sie eigentlich von mir erwartete. Aber sie half mir. »Was haben die Frauen vorhin gemacht?«

»Die eine hat über ihr Kleid noch ein anderes angezogen, und die Blonde hat eine Bluse in ihre Handtasche gestopft«, erinnerte ich mich zum Glück.

Damit hatte ich schon meine Eignung als Verkäuferin bewiesen, ich bekam eine Nummer, die ich an mein Kleid heftete, und wurde Verkäuferin. In dem großen Verkaufssaal konnte ich auch gleich meine Karriere beginnen. Ein Kleiderständer, mit Gewändern in allen Nuancen des Blau, wurde mein Revier. Niemanden brauche ich zu einem Kleid zu überreden, ich brauche keine schönen Phrasen zu machen. Sogar zur Kasse und zum Einpacken wird das Kleid von einer anderen Angestellten getragen. Ich muß nichts weiter tun als aufpassen.

Wenn der Betrieb noch nicht sehr groß ist, bleibe ich auf ebener Erde, sobald aber die Käuferinnen zahlreicher werden, muß ich auf einen Stuhl steigen, um einen weiteren Ausblick zu haben. Diese Aussicht ist überaus merkwürdig: nüchtern und doch phantastisch zugleich. Der Verkaufssaal aus Holz erinnert an einen Stall und hat die Dimensionen einer Kathedrale. Wie Blumen auf einer ungeheuren Wiese leuchten Kleider in allen erdenklichen Farben. Die Wände sind mit Ansichten von Gefängnissen, Zuchthauszellen geschmückt; man sieht Gitterstäbe, gefesselte Hände. Zur Abwechslung gibt es Zeitungsausschnitte, die sich mit der Strafe abgefangener Ladendiebe befassen, Mitteilungen, daß Ladendiebinnen deportiert wurden, und ähnliches. Große Plakate raten außerdem in deutscher, englischer, italienischer und jiddischer Sprache von der widerrechtlichen Aneignung der zur Schau gestellten Kleider ab. Andere verherrlichen in poetischer Form die Tugend der Ehrlichkeit und verdammen die schlechte Angewohnheit des Stehlens.

Auf der Balustrade aber steht ein ganzes Heer von Polizisten, unbeweglich, wie Wachspuppen in einem Panoptikum. Sie warten nur auf ein Alarmzeichen, um zum Leben zu erwachen und die Sünder ihrer wohlverdienten Strafe zuzuführen.

Aber nach stundenlangem Stehen auf dem Stuhl beginnen alle 36 diese Bilder wild durcheinander zu tanzen. Die Gewänder und die Frauen, die sich Kleider aussuchen, die Polizisten und die Gefängniszellen. Wenn ich nicht so müde wäre, daß ich fast vom Stuhl falle, könnte ich meinen, ein irrsinniger Traum quält mich.

Ich freute mich nicht wenig, als ich nach einigen Tagen versetzt wurde. Ich wurde nämlich nicht nur bildlich versetzt. Statt auf einem Stuhl zu stehen, konnte ich jetzt den ganzen Tag sitzen. Freilich nicht auf einem Stuhl, so bequem ging es denn doch nicht zu, sondern auf einer Leiter.

Das Schauspiel, das sich mir hier bot, übertraf sogar das vorhergehende. Mein Beobachtungsposten befindet sich über dem großen Anprobierraum. Hier kämpfen die Frauen in krankhafter, fiebriger Gier um einige billige Fetzen. Ohne Scheu enthüllen sich die Körper, schöne, noch junge, aber auch von Arbeit entstellte, durch das Leben schon deformierte, und stolzieren ohne Unterschied vor den Spiegeln. Frauen aus allen Gettos der Stadt, Büromädchen, Arbeiterinnen, die jetzt den schwerverdienten Wochenlohn in Seide, in Hoffnung auf Schönheit, einlösen.

Wir aber, die »Verkäuferinnen«, sitzen auf Leitern mit stumpfen Gesichtern, ungeheuer gelangweilt, Gummi kauend, mit leeren Augen immer das Schauspiel anstarrend.

Wir verdienen wöchentlich zwölf Dollar und haben außerdem die Aussicht auf eine sagenhafte Prämie. Über diese erzählt einmal eine junge, aber schon erfahrene Verkäuferin, während sie den Kaugummi unentwegt im Munde herumdreht, folgendes:

»Einmal habe ich auch eine Prämie bekommen. Das war so. Ich hatte schon ein paar Fälle aufklären helfen, da sagte mir der Manager: ›Wenn Sie nächstens eine richtige Diebin fassen, bekommen Sie eine Prämie von zehn Dollar.‹ Das war schon vor längerer Zeit. Etwas später hat mich ein Bekannter, ein sehr hübscher Junge, zum Tanzen eingeladen. Da stand ich auf meinem Stuhl und dachte darüber nach, was ich anziehen könnte. Vor mir, hinter mir, wohin ich nur geblickt habe, nichts sehe ich als Kleider. Aber ich selbst habe nichts Anständiges anzuziehen. So 'ne Schweinerei! Und Sie wissen, wie die Männer sind, wenn ein Mädchen nicht gut angezogen ist. Und da gerade, wie ich mich so umschaue, sehe ich eine fette Italienerin, in großem Umschlagtuch, gerade bei den teuersten Abendkleidern umherwatscheln. Die ist verdächtig, denk ich mir, die wirst du nicht aus den Augen 37 lassen, und morgen hast du dein Tanzkleid. Und wirklich sehe ich, wie sie sich erst vorsichtig umsieht, das Kleid zusammenknüllt und es hinter ihrem Tuch verschwinden läßt. Geschnappt, denke ich und alarmiere schleunigst die Aufsicht. Wie sie gefaßt wird, weint sie nicht, die alte Italienerin, ihr Gesicht verzerrt sich nur so merkwürdig, und sie blinzelt ganz schnell mit den Augen. Ich bekam meine zehn Dollar, und noch vor Geschäftsschluß habe ich mir ein Kleid ausgewählt für neun Dollar fünfundneunzig Cent, ein wirklich schönes. Tief ausgeschnitten und ganz aus goldenen Spitzen. Man hätte schwören mögen, es wäre mindestens hundert Dollar wert und aus einem Fifth-Avenue-Geschäft.«

»Nun, und haben Sie sich beim Tanzen gut unterhalten?«

»Ach, gar nicht. Das ist gerade mein Pech. Den ganzen Abend rumorte mir die alte Italienerin im Kopf herum. Wie sie so mit den Augen geblinzelt hat. Sicher wollte sie das Kleid ihrer Tochter geben. Aber es gehört sich doch nicht, zu stehlen. Ich war trotzdem schlechter Laune. Und Sie wissen, wie die Männer sind, wenn ein Mädchen nicht lustig ist. Es wurde nichts aus der ganzen Sache.«

»Sie hätten Ihr Glück in dem schönen Kleid noch einmal versuchen sollen.«

»Aber hören Sie doch, was mit meinem schönen Kleid passiert ist. Ich kam ganz wütend nach Hause und wollte mich schnell ausziehen. Und da plötzlich reißt das Kleid entzwei, die goldenen Spitzen, wie Papier. Nur Fetzen hielt ich in der Hand . . .«

»Ihr solltet lieber die Augen offenhalten und nicht soviel tratschen«, sagt uns die Vorsteherin, die gerade vorbeigeht. 38

 


 


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