Maria Leitner
Eine Frau reist durch die Welt
Maria Leitner

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Kleine Aufzeichnungen unterwegs

Wenn ich endlich einmal nicht unter fremden Leuten sein will, in ein Hotel gehe, ein ruhiges Zimmer verlange, finde ich mich in einem Schlafsaal, wo in einer Ecke eine Heilsarmistin laut religiöse Lieder singt, in der anderen zwei Flapper sich Abenteuer erzählen. Ich frage unten, ob man kein Einzelzimmer bekommen 94 könnte. Nein, die hätte man überhaupt nicht. Sie seien zu unbeliebt.

 

Die billigen Hotels sind immer nur männlich oder weiblich. In New York gibt es ausgesprochen männliche und weibliche Straßen. Die Fifth Avenue zum Beispiel ist weiblich. Sixth Avenue männlich. Ich meine natürlich nicht, daß auf der Fifth Avenue keine Männer oder auf der Sixth Avenue keine Frauen gehen, aber sie haben ausgesprochen diesen Charakter. Es gibt viele Restaurants, wo nur Frauen, andere, wo nur Männer essen. In Restaurants, wo man die Aufschrift »Damen willkommen« lesen kann, sieht man nur selten eine Frau. In manchen Tea Rooms am unteren Broadway erweckt das Erscheinen eines Mannes Sensation. In die 5-Uhr-Teeräume der eleganten Hotels darf ein Mann ohne Damenbegleitung überhaupt nicht eintreten.

 

Nirgends gibt es so viele Schaukelstühle wie in Amerika. In jeder guten Stube gibt es mindestens einen. Auf den Veranden natürlich mehrere. Auch Schaukeln sind dort oft angebracht. Abends, während die Fabrikschlote Feuer speien, schaukelt das ganze Dorf.

 

Eine Frau, die ein kleines Geschäft im Bronx hat und bei der ich als Dienstmädchen arbeite, sagt mir: »Sie sagen, in Europa gibt es keine Neger und keine Einwanderer, wie bekommen Sie denn da Dienstmädchen?«

 

Die Amerikaner leben mit Vorliebe bei offenen Türen. Die Küche grenzt unmittelbar an das Speisezimmer und wird nie geschlossen. Versuche, die Tür zuzumachen, sind immer vergeblich. Man macht sich sogar verdächtig. Nur während man serviert und ständig ein und aus muß, wird sie in »feinen Häusern« zugemacht. Auch die Schlafzimmer sind immer offen. In den Hotels muß man oft die Provinzler aufmerksam machen, daß sie, wenn sie sich ausziehen, die Tür zumachen sollen.

 

Arbeiter und Arbeiterinnen speisen in großen Betrieben fast nie im gleichen Raum. Dort, wo sie im gleichen Raum essen, stehen die Tische vollkommen getrennt. In einer Fabrik zum Beispiel 95 waren für die Frauen die Tische weiß gedeckt; an diese durfte sich kein Mann setzen. Es geschieht auch nur in Ausnahmefällen, daß sie in gleichen Räumen arbeiten. Überflüssige Ablenkungen sollen nach Möglichkeit vermieden werden.

 

Einmal ging ich allein in ein Dimekino (Zehncent-Vorstadtkino). Der Platzanweiser kam später zu mir und fragte mich, ob der neben mir sitzende Mann, der sich in keiner Weise bemerkbar gemacht, mich auch nicht etwa angeredet hatte, zu mir gehöre. Als ich es verneinte, mußte er sich sofort einen anderen Platz suchen. Da das Kino ziemlich besetzt war und neben mir zwei Plätze leer blieben, hatte der Platzanweiser beide Hände voll zu tun, keinem männlichen Wesen zu gestatten, sich auf diese Plätze zu setzen.

 

Ein kleiner »shop«, wo künstliche Blumen hergestellt werden. Eine Arbeiterin kommt zu spät. Der Boß sagt: »Hören Sie, wenn Sie schon zu spät kommen, hätten Sie sich noch ruhig Zeit nehmen können, sich zu schminken. Man kommt nicht so käsebleich ins Geschäft.«

 

Ich esse in einem Restaurant und vergesse zu bezahlen. In Amerika bezahlt man immer an der Kasse, die dicht am Ausgang steht, von wo aus man die Gäste am besten kontrollieren kann. Ich merke aber erst bei der Haltestelle, daß ich meine Rechnung nicht beglichen habe. Ich frage den Kassierer, warum er mich nicht aufmerksam gemacht hat, als ich hinausging. »Ich dachte, Sie haben Ihr Geld vergessen.« – »Und wenn ich nicht zurückgekommen wäre?« – »Dann hätte es uns auch gefreut, daß Sie unser Gast waren.«

 

In Amerika kennt man die Ehrfurcht vor der Facharbeit nicht. Man ist gewöhnt, ungelernte oder an ganz andere Methoden gewöhnte Arbeitskräfte abzurichten, und weil sie daran gewöhnt sind, wissen sie, wie man abrichten muß. Durch kurze Erklärungen, schwer erscheinende Handgriffe. Vorarbeiter, Haushälterinnen in den großen Hotels, Bürovorsteherinnen, die sich über die Dummheit der ihnen Unterstellten beklagen wollten, würde man – da sie unfähig sind, Leute anzuweisen – entlassen.

 

96 In den Fabriken wird sehr sachkundig gezeigt, wie man seine Arbeit verrichten muß. Aber es wird nur das gezeigt und erklärt, was man unbedingt wissen muß, um die Arbeit verrichten zu können. Fragen, die sich auf allgemeine Einrichtungen oder auf eine Erklärung des Mechanismus der zu bedienenden Maschine beziehen, werden überhaupt nicht beantwortet. »Kümmern Sie sich man nur um die Arbeit, die Sie etwas angeht.« Das ist die Antwort, die man zu hören bekommt.

 

Ich arbeite in einer der größten Schuhfabriken Amerikas. Der elektrische Strom versagt, und da demzufolge in verschiedenen Abteilungen die Arbeit eingestellt wird, entsteht das Gerücht, ein Streik sei ausgebrochen. Ich nähe Schnallen an die Schuhe. Neben mir arbeitet eine junge Armenierin. Ich frage sie, ob sie die Arbeit einstellen würde, proklamierte man einen Streik. Sie sagt nichts, deutet nur erschrocken mit ihren Augen auf den Vorarbeiter, der gerade vor uns steht. Abends werde ich in das Büro gerufen, und mein Lohn wird mir ausgezahlt mit den Worten: »Sie sprechen zuviel, wir können Sie nicht gebrauchen.« Wenn man »gefeuert« wird, bekommt man den Lohn sofort ausbezahlt. Will man aber selbst gehen, kann man ihn nur am fälligen Zahltag erheben. Die sofortige Auszahlung ist dann technisch unmöglich.

 

Man kann gerade in kleinen Ortschaften die neue Entwicklung in der Landwirtschaft Amerikas beobachten. Man sieht nicht nur, wie der kleine Farmer zugrunde geht, sein Land aufgeben muß und in die Fabrik zieht, sondern auch was mit dem verlassenen Land geschieht. Es wird für billigstes Geld von dem Industrieunternehmen aufgekauft und dann im großen bewirtschaftet. Das Industrieunternehmen hat nicht nur die nötigen Kapitalreserven zu einer intensiven Ausnutzung des Bodens, sondern es findet auch mit Ausschaltung des Zwischenhandels und der Eisenbahn-Transportgesellschaften Abnehmer. In den Verkaufsläden des Industrieunternehmens können so die Arbeiter Landwirtschaftsprodukte zu billigerem Preise erhalten, und das Fabrikunternehmen hat die Möglichkeit, Löhne zu drücken.

 

Der individuelle Einzelhandel kann sich auf dem Lande noch weniger halten als in den Großstädten. Man sieht hier, wie schnell 97 kleine Kaufläden von Großkonzernen verschluckt oder zertreten werden. Kaum hat sich zum Beispiel in einem Dorfe eine kleine Gemischtwarenhandlung aufgetan, so erscheint schon eine Filiale zum Beispiel der A. & P. (der Atlantic und Pacific Company), macht eine Filiale auf und gibt die Ware zu billigeren Preisen ab. Dieser Konkurrenz ist der kleine Händler nicht gewachsen.

 

Sport treibt nur eine kleine Oberschicht. Der gutsituierte Bürger spielt Golf, ist Mitglied eines Countryclubs, manchmal spielt auch seine Frau, aber seltener. Tennis wird nur sehr wenig gespielt. Aber in den großen Städten gibt es kaum Arbeitersportplätze; nur in der Provinz, wo mehr Platz zur Verfügung steht, wird die Jugend in den Fabriken sportlich organisiert. In New York ist die einzige sportliche Leistung des Durchschnittsmenschen das Ein- und Aussteigen in die Untergrundbahn.

 

Im Süden können die Neger das Kino nur bei besonderen Vorstellungen besuchen. Daß die Eisenbahn im Süden besondere Wagen für die Neger hat, ist bekannt. Man sieht auch Bänke, wo die eine Seite für Neger, die andere Seite für Weiße reserviert ist. Restaurants, wo ein Teil für die Weißen bestimmt ist, der andere, durch einen Vorhang abgeschlossen, für »Farbige«. Man sieht Lokale mit der Aufschrift: »Hier werden nur weiße Herrschaften bedient.« In der Elektrischen gibt es schwarze und weiße Abteile. Wenn man sich in das schwarze Abteil setzen will, und sei auch das weiße voll besetzt, gestattet der Schaffner das nicht. Man sieht zwei ländliche Toiletten, nicht WCs, mit den Aufschriften: »Für Weiße«, »Für Farbige«. In Columbia gibt es große Zigarettenfabriken, wo Neger und Weiße im selben Saal zusammenarbeiten. Aber es gibt besondere Eingänge in der Fabrik für »Weiße« und für »Farbige«.

 

In Charleston (South Carolina) hatte ich mein Gepäck zur Aufbewahrung gelassen und wollte es abholen. Als ich meinen Schein dem Schalterbeamten gebe, sieht er mich erstaunt an: »Sie sind doch keine Farbige, Sie müssen sich auf der anderen Seite für die Weißen anstellen.« Nein, den Koffer könne er mir nicht herüberreichen. Ich muß erst zu den Weißen gehen.

 

98 In Atlanta (Georgia) geben mexikanische Sänger ein Konzert. »Nein, es sind keine Karten mehr vorhanden.« – »Ich denke, Sie haben noch billige Plätze.« – »Ja, wir haben noch fast alle billigen Billetts, aber die sind für die Neger. Wir bedauern, an Weiße können wir sie nicht abgeben.«

 

In Charleston ein palmenbesäumter Spielplatz vor einer alten gelben Zitadelle. Nur weiße Kinder dürfen hier spielen, keine schwarzen. Aber man sieht keine weiße Frau, nur Negerinnen. Alle Kinder sind Negerpflegerinnen anvertraut.

 

In Charleston (South Carolina) arbeite ich in der Küche eines großen Hotels. Ein kleiner Küchenjunge ist da, siebzehn Jahre alt, man nennt ihn Kiddy Brown. Da ich mich nach den Tanzveranstaltungen der Neger erkundigte, brachte er mich am nächsten Tage zu einem »Social event« (zu einem gesellschaftlichen Ereignis) der »Farbigen« Charlestons. Es gab eine außerordentliche Jazzkapelle, die »Syncopating Dandies«. Man tanzte nach Negerart, unvergleichlich. Es waren auch weiße Männer da, aber keine weiße Frau. Es ging im übrigen brav bürgerlich zu. Man trank Limonade. Ein weißer Angestellter des Hotels erblickte mich. »Oh, wenn man im Hotel wüßte, daß Sie hier sind, man würde Sie sofort entlassen.«

 

In Birkingham, in einem Frauenhotel, erzählt ein junges Mädchen, sie habe hier in der Stadt in einer anderen Pension gewohnt, aber ihre Eltern erfuhren etwas Schreckliches, sie durfte dann nicht einen Tag länger dort bleiben. Was war denn geschehen? Ihre Eltern haben erfahren, daß in der nächsten Nachbarschaft der Pension Neger wohnten.

 

Im Süden sieht man noch, wie Gefangene in Sträflingskleidern, mit Ketten aneinandergeschmiedet, von Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten zu ihren Arbeitsstätten geführt werden. 99

 


 


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