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Schluß

Und wieder die Stimme:

»Dies irae, dies illa,
Solvet saeclum in favilla,
Teste David et Sibylla.«

Ich weiß nicht, wo ich mich befinde und woher ich komme. Ich weiß nur: ich befinde mich in einem geräumigen Zimmer, das nackt und kahl ist wie die Hand des Todes. Nichts heimelt mich an. Es ist leer und öde um mich wie in der Thebais, wo selbst die Steine nicht wissen, was sie mit ihrem trostlosen Dasein anfangen sollen. Kein Mobiliar, keine Schildereien an den fahlen Tapeten, nichts, was imstande wäre, die Sinne zu erfreuen und eine freundliche Note in die Seelen und die Herzen der Menschen zu tragen. Nur an der mir gegenüberstehenden Wand hängt ein Spiegel, in dessen Scheibe Reflexe wohnen und graue Schatten zu wandeln scheinen.

Ich fühle: Dämmerungen umziehen mich, hüllen mich ein. Bald darauf ist es dunkel um mich, als wäre alles Licht aus dem Zimmer genommen.

Ich möchte dem entsetzlichen Räume entfliehen, bringe aber die Kraft nicht auf, nur ein Glied zu bewegen.

Ich bin wie im Traum, in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Mein Geist ist entangelt, meine Seele formt Bilder und Spiegelungen, denen ich nicht mehr zu folgen vermag, und dennoch sehe ich mit Augen, die alles Gegenständliche deutlich erkennen, und höre mit Ohren, die fähig sind, das Fallen der kleinsten Steck- nadel in sich aufzunehmen.

Ja, trotz des entangelten Geistes, ich sehe und höre. Ich sehe Flammen über Münster. Ich höre das Krachen von Feldschlangen und Wallbüchsen. Ich sehe Heinrich Gresbeck bei emsiger Arbeit ... wie er in der Nacht vor der Geburt Johannes des Täufers den Bischöflichen die richtigen Pfade weist ... wie diese vorbrechen und stürmen. Ich höre sie brüllen:

»Wir zogen in das Feld,
Wir zogen in das Feld,
Da hatten wir weder Seckel noch Geld –
Strampede mi
A la mi presente al vostra signori.
«

Ich sehe Raban von Bischopink, Herrn von und zur Getter, wie er die Fahne gegen die inneren Werke vorträgt, gefolgt von einer Schar verzweifelter Männer, überdrüssig des Tyrannen des neuen Tempels ... wie er die Wälle besteigt, Bresche schlägt und sich mit Heinrich Gresbeck vereinigt, treu der Verabredung gemäß und treu seines Wortes. Ich sehe ein verzweifeltes Ringen zwischen den Schanzen, binnen den Mauern. Ich höre Pferdegetrappel, das Jubeln der Sieger. Ich sehe Franz von Waldeck einreiten mit Troß, Knechten und Stückwerk, mit Fürsten und Harnaschern ... wie er Gericht hält ... wie er Johannes Leydanus, Knipperdolling und Krechting das Leben abspricht, und sehe hoch am Turm von Sankt Lamberti hängen sie in eisernen Käfigen, die Leiber zermartert, die glasigen Augen auf die dunstige Tiefe gerichtet. Aus schwindelnder Höhe fällt eine Krone herunter. Sie zerschellt auf dem Pflaster. Ich höre ...

Nein, ich höre nichts mehr und sehe nichts mehr.

Über meine Seele geht das furchtbare Grausen des Suchens und Sehnens ... und das macht die Augen blind und die Ohren ihres Hörens verlustig.

Und dann wieder ...

Ein aufdringliches, warmes und mattes Scheinen und Leuchten hebt mir die Lider.

Ich kann nicht anders, ich suche den Ort dieses matten Scheines und Leuchtens.

Es drängt aus der Fläche des mir gegenüberhängenden Spiegels.

Schatten und Bilder wechseln in der geheimnisvollen Zauberscheibe, gleich den Reflexen und Bildern in einem Kaleidoskop.

In ihrer Tiefe flämmert eine zehnpfündige Wachskerze, die sich langsam vorwärts bewegt. Sie tritt aus dem Rahmen, wandelt über die Dielen, drängt sich dicht an meine Seite, um dort stehenzubleiben. Ein mattes Licht zehrt am Docht, bringt aber so viel Helligkeit auf, die lähmende Finsternis aus dem grauen Zimmer mit den fahlen Tapeten zu scheuchen ... und dabei klingt mir nochmals die Weise des furchtbaren Thomas von Celano zu:

»Liber scriptus proferetur,
In quo totum continetur,
Unde munde judicetur.«

Meine Starre ließ nach.

Alle die wirren Ereignisse schließen sich mir zu einer einzigen Kette zusammen.

Ich spüre einen heißen Atem über mir, wie mich schmale Fingerspitzen mit Eiseskälte berühren.

Ich hebe den Kopf und sehe in das bleiche und strenge Gesicht des Mönchs, der mich durch den wilden Tobel dieser Geschichte führte.

Er trägt wie immer das weiße Habit, darüber schwarze Kutte und schwarze Kapuze.

Sein Gesicht ist das eines Cherubs, eines Heiliggesprochenen, wenn auch scharf und verzerrt, entstellt von den Schmerzen der Zeiten.

Er sagt: »Hundert Jahre sind mir wie ein Tag. Ich bin mit Sinnen begabt, wie sie die übrigen Menschen nicht haben. Ich sehe Gesichter, die mit Tränen überschüttet sind, vor allem ein Gesicht, schön wie das Gesicht der Jungfrau in ihrem Sternenkranz. Und dieses Gesicht kannte das Weinen. Entzündet wie rote Wunden sind meine Erinnerungen. Sie gleichen den roten Rosen, die schreckliche und rohe Menschenhände zerpflücken. Ich sage dir nochmals: Hundert Jahre sind mir wie ein Tag. Ich ging durch diese Jahre hindurch wie Ahasver ... nur, ich habe den Herrn nicht von der Schwelle verwiesen, als er unter der Last des Kreuzes und der Dornenkrone niederbrach und sich nur mühsam zu erheben vermochte. Schuldlos bin ich durch all diese Jahre gegangen.«

»Wer bist du?«

Er macht eine stumme Bewegung.

Er lächelt. Aber das Lächeln ist nicht von dieser Erde. Ein solches Lächeln wohnt nur über den Sternen.

Er fährt sich über die Augen, um dann weiter zu sprechen: »Ich bin edel geboren, liebte Vater und Mutter wie meinen Augapfel und hatte eine köstliche Jugend. Auch die späteren Jahre waren Jahre voll der Frühlingsfreude, voll des Säens und Erntens, bis die Stunde erschien ... Und diese Stunde war furchtbar. Sie hätte mich zum Mörder gemacht, hätten mich nicht zwei liebende Arme davon abgehalten. Aber die unerbittliche Sense schnitt mir die schönste Lebensblume von der schönsten Blumenwiese herunter ... und so bin ich zu den Jüngern Christi gegangen.«

Er schweigt.

Seine Augen stehen in Tränen.

»So bist du ...?!«

»Ja, ich bin, der ich bin. Ich bin Raban von Bischopink, Erbmann von und zur Getter ... und ich benedeie die Nacht, in deren Fülle und Reinheit mir Seele und Leib einer Gebenedeiten zu eigen wurden durch die Weihe und den Segen des Ewigen im Himmelreich.«

... und das Licht der Kerze erlosch, als hätte es niemals geflämmert.


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