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Viertes Kapitel

»Wo bin ich?«

»Wo du warst«, sagte der Mönch, und der Hauch seines Mundes war bei mir. »An der nämlichen Stätte, wo die drei Wiedertäufer saßen, um für des Reiches Wohl und Wehe Beratung zu pflegen. Aber unseres Bleibens ist nicht lange mehr. Wir müssen bald weiter.«

Jetzt sah ich wieder. Noch immer stand die langgestreckte Tafel in meinem Bereich. Noch immer bemerkte ich die Schreibgeräte, dickleibige Aktenbündel, Babel und Bibel. Sie lagen unberührt an der nämlichen Stelle. Nicht um Haaresbreite hatte eine unbefugte Hand sie verschoben.

Stille umlagerte mich. Nur draußen ging gedämpft die Trommel der Scharwache. Ich hörte ganz deutlich:

»Halliro! dum dirre, dum deine,
Halliro! dum dirre, dum dum ...«

und in dieses monotone Trommeln hinein die wehe Stimme Knipperdollings: »Wandscherer, möge der Herr es anders fügen, aber ich fürchte, du trägst bereits das Totenhemd unter der Ratsherrenschaube. Dir ist kaum noch zu helfen. Lasset uns beten ...«

»Ja, lasset uns beten.«

Der Mönch sprach den schmerzenreichen Rosenkranz mit der Andacht eines Kindes, mit herzzerreißender Inbrunst, und während er die einzelnen Teile zerlegte, die mageren Pockholzkügelchen gegeneinander klingen ließ, schritten wir weiter, die Flure entlang, durch Stiegen und Türen, bis wir uns draußen befanden und schließlich das Kirchspiel über dem Wasser erreichten.

Es war mittlerweile dunkel geworden, aber immerhin so viel an Helligkeit übriggeblieben, jedes Gegenständliche mehr oder weniger deutlich erkennen zu lassen.

Wohin wir gingen, wußte ich nicht. Nur hatte ich das unabweisbare Gefühl des sicheren Geführtwerdens und daß mich der Mönch wie mein eigener Schatten begleitete.

Unauffällig und ungesehen durchmaßen wir die schmalen Gassen und Gäßchen der abgelegenen Leischaft, bis wir schließlich vor einem breitauslagernden Giebel haltmachten.

Der Mönch berührte den Klopfer, ließ ihn dreimal hintereinander fallen, ohne daß sich irgendwelches Geräusch erhob oder sich irgendwelche Schritte im Hause verlautbar machten.

Dennoch öffnete sich die Pforte wie auf ein stummes Geheiß.

Auf weichen Schuhen traten wir ein.

Dann eine Türe ...

Die Abendhelle geisterte plötzlich durch ein getäfeltes Zimmer, das die Fülle des bürgerlichen Wohlstandes aufwies: Truhen und Schränke, flandrische Teppiche, die den Schritt abdämpften, und Schildereien an den dunkel gehaltenen Wänden, von denen es hieß: Ludger tom Ringh habe sie in seinen besten Stunden geschaffen.

Vom Flur her drang das gleichmäßige Pochen einer Standuhr herüber.

Die Abendhelle zersträhnte allmählich.

Schatten liefen über die Szene.

In einer verlorenen Nische wurden Stimmen vernehmbar.

Zwei Menschengeschöpfe, ganz von grauen Fäden umsponnen, drängten sich eng gegeneinander, herzensinnig und herzenseinig, mit heißen Lippen verbunden, die sich nicht mehr loslassen wollten.

»Ich bete die Stunden an, die wenigen Tage, während wir zusammen sein dürfen.«

»Ach – du!« kam es mit scheuen Lauten zurück.

»Wie lange noch, und unsere Wünsche erfüllen sich, bis wir sagen mögen: wir haben nichts mehr zu wünschen.«

»Möge der Himmel es geben.«

»Er wird es.«

»Raban, es wird immer trostloser hier, immer schlimmer in Münster, denn König und Bischof stehen hart gegeneinander.«

»Das weiß ich, und ich dachte mir schon: warum gehen wir nicht? Hier ist kein Heil zu erwarten. Die Wirren und Glaubensspaltungen bedrängen uns täglich. Folge mir. Es haust sich besser auf Getter. In seinem Bering finden wir Ruhe. Auch auf der Getter lassen die Ringe sich wechseln.«

Sie schauerte in seinen Armen zusammen.

Sie fragte unter stillen Tränen: »Auch durch einen anabaptistischen Prediger?«

»Das kaum«, versetzte er schmerzlich. »Wie kommst du darauf? Dort wird keiner sich finden.«

»Raban, ich bin Anabaptistin, und wisse ...«

Sie verschluckte die letzten Worte und warf sich in seine Arme, wie durch einen Sturmwind geschleudert.

»Raban, so müssen wir warten.«

»Das Warten hat Leid im Gefolge«, sagte er ruhig. »Die Dinge spitzen sich zu. Seltsame Gerüchte gehen um. Der Kalender sieht ernste Tage vor. Ob wir ihrer Herr werden, weiß ich nicht. Es heißt wohl: Fromme Kamele klingeln durch die Wüste und tun ihre Pflicht. Tu auch deine Pflicht. Sei ein Kamel und klingele weiter, trage die Last, die dir auferlegt wurde, ohne gegen die Satzung und sonstige Geschehnisse zu murren, so wirst du letzten Endes gesegnet vom Herrn und dein Ziel erreichen. Ich sperre mich dagegen. Ich gehe nicht mit. Duldsamkeit und Opferfreudigkeit sind verschiedene Dinge. Letztere schreitet immer in blankem Eisen einher, erstere nie. Ich weiß, was uns droht. Wir, die Bischopink, sind nicht gut angeschrieben bei Rottmann und Knipperdolling, und wenn ich auch selber die neue Lehre nicht abweise – die Edelsitze und ihre Geschlechter halten zum Bischof und seinen Fahnen, stehen den neuen Propheten und Gewalthabern in Abwehrstellung gegenüber. Elisabeth«, und seine Stimme wurde weich wider Willen, »ich trage Sorge um vieles. Es ist schon ein schweres, über Vater und Mutter hinwegzugehen, der Familiensatzung mehr oder weniger aufzusagen, um dem geliebten Weibe zu folgen, ihm die Pfade eines gesegneten Lebens zu ebnen.«

Ihre Blicke weiteten sich.

»Also Vater und Mutter und Sippe und Satzung...?!«

Die Worte fielen ihr hart von den Lippen.

»Nicht so, Elisabeth! Warum so bitter? wo dich Vater und Mutter, Sippe und Satzung auf Händen tragen?! Sie wünschen nur: komme zur Getter, bevor es zu spät ist.«

»Zu spät?« fragte sie tonlos.

»Wer weiß, was die nächsten Tage uns bringen. Im Widerstreit des Lebens und der Zufälle kann es immer geschehen, daß wir uns sagen müssen: Das Licht will erlöschen.«

Da war es ihr, als hätte sie Blut auf der Zunge.

Sie ließ von ihm ab.

Ihre Blicke gingen ins Leere.

»Soll also heißen«, sagte sie nach einiger Weile, »du gibst den Kampf auf. Deine Liebe ist nicht stark wie der Tod, vielmehr heimlich gesonnen, unser Gelöbnis absterben zu lassen.«

Er fuhr auf, wie von einer Kugel getroffen.

Er starrte sie an.

»Auch das noch...?!«

Mit verzehrender Wut hatte er sie an sich gerissen.

Ein Schrei sprang von seinen zuckenden Lippen.

»Ich liebe dich, und meine Liebe ist heiß wie das ewige Leben. Was willst du? Wie kannst du über mein Heiligstes hinschreiten wie über eine nichtige Sache, wo mein Herz sich nach dir und deiner Liebe verblutet?! Um deinetwillen beugte ich mich mehr oder weniger der neuen Lehre, kam ich in Widerpart mit meinem Gewissen, halte ich dir selbst in der Stunde des Todes den Mund hin, auf daß du mir die letzte Wegzehrung gibst – und nun soll ich kommen, um mein Gelöbnis dem Nichts preiszugeben?! Ich bin ein Bischopink, und ihr Wort gilt ebensoviel wie die Worte, die die Wundmale des Herrn predigen.«

»Raban, das weiß ich!«

»Dann mußt du auch wissen: rollt selbst der Kopf eines Erbmannes in den Sand – er hält noch die Treue zwischen den Zähnen.«

»Ach Raban ...!«

»Ja du – so ist das. Ich will nur: um deinetwillen – wir müssen zur Getter.«

»Um Sion aufzugeben?«

Ihr Haupt stand bleich zwischen Dielen und Decke.

»Nein – du, aber um dein Leben zu retten.«

»Warum das?«

»Weil du schön bist, und Schönheit erregt die Gier derer, die die Macht haben, sie zu betasten, sie ihrem Gelüst willfährig zu machen. Auf Getter ist gute Hut.«

Sie schüttelte unmerklich ihr Haupt mit dem Medaillengesicht: »Ich sagte dir schon: ich bin Anabaptistin.«

»Willst also dartun: ich bleibe?«

»Ja, Raban, ich bleibe.«

»Mein Gott und mein Heiland!«

Er warf sich zurück. Seine Arme schnürten fester und fester. Ihm war so, als würde eine ferne Totenglocke geläutet.

»Gut denn, so bleibe auch ich. Dein Leben ist mein Leben, dein Sterben das meine. Ich wüßte nicht, was ich sonst anfangen sollte.«

Er wollte noch mehr sagen.

Aber seine Worte erstarben.

Sie erstarben wie die letzte Helle in einem Fensterrahmen zerfasert, geruhsam, mit dem langsamen Hinwegnehmen durch Gespensterhände. In diesem Ersterben, in diesem Zerfallen stand ihr weißes Gesicht wie eine preziöse Erscheinung.

Sie schwiegen, zwei Schatten zu einem einzigen Schatten vereinigt.

»Raban«, fragte sie endlich, »hast du mir nichts mehr zu sagen?«

»Nein, ich habe dir nichts mehr zu sagen.«

Er machte eine hoffnungslose Gebärde.

»Und wenn ich es täte, es würde nicht fruchten.«

Sie drängte sich an ihn, weinte still an seiner Schulter und strahlte eine so warme Herzensminne aus, daß, wenn sie Rosenknospen berührt hätte, solche eher in Duft und Blüte stehen würden denn andere, die nicht die Gnade empfingen, von dieser warmen Herzensminne berührt zu werden.

»Es ist ein banges Leben auf Erden«, sagte sie endlich.

So standen sie lange.

Dann vernahmen sie Schritte.

In der Tiefe des Raumes begann es zu flämmern.

Sie sahen: im Nebengemach stellte die Schaffnerin des Hauses einen vierarmigen Leuchter auf die freistehende Tafel, bestellte sie mit einer Kanne Burgunder und einigen Spitzgläsern, um dann so geräuschlos, wie sie gekommen, wieder den Flur zu gewinnen.

Eine wohltuende Helle winkte herüber.

»Gehen wir«, sagte Elisabeth. »Josepha weiß, was sie tut. Wir erwarten den Vater.«

Sie traten aus ihrer Unruhe heraus und begaben sich in das matte Scheinen und Leuchten.

Hand in Hand standen sie vor dem gespreiteten Tuch.

Jetzt sah er: ihre Schönheit war reifer und strahlender geworden, ein Weib wie aus den Chören der Thronen genommen, in die blühende westfälische Heide gestellt, mit schwerer Flechtenkrone, von der Farbe des reifen Weizenkornes, mit Augen wie die der Blassen im Lande, wenn sie am Hellweg stehen, Gesichte haben und die kommenden Tage und ihre dunklen Geschehnisse absuchen, um wissend zu werden. Das stille Licht der weißen Kerzen hüllte sie ein, umkleidete jede Einzelheit ihres Leibes mit einem goldigen Flaum, mit dem Geflimmer von Myriaden winziger Sternchen, und als Rottmann ihr eines Tages im Hause des Vaters in ihrer ruhigen Schönheit begegnete, da brach der finstere Prediger in die Worte aus: »Komm, meine Freundin, laß uns auf das Feld hinausgehen und auf den Dörfern bleiben, auf daß wir sehen, ob die Granatäpfel ausgeschlagen sind und der Weinstock blühet, denn du verdienst es, reichlich Trauben zu lesen und Granatäpfel einzuheimsen, wenn sie in die Reife getreten. Gesegnet bist du unter den Anabaptistinnen und gebenedeit unter den Jungfrauen, denn du bist eine Blume zu Saron und eine Rose im Tal, o Fürstentochter, und das Ebenmaß deiner jungen Glieder vermeldet die Kunst des Meisters, der sie bildete.«

So der ernste Wiedertäufer, und auf seinem düsteren Gesicht spiegelte sich das Leuchten eines sacht dahingehenden Sommerabends.

Seit dieser Stunde war sie Rottmann und seiner neuen Lehre verfallen.

»Ja, du bist schön unter den Töchtern des Landes«, sagte auch Raban, »denn du bist eine Blume zu Saron und eine Rose im Tal, o Fürstentochter«, und er fügte hinzu: »Deine Wangen stehen lieblich in den Kettlein und dein Hals in den Schnüren. Die Turteltauben auf Haus Getter würden aufs neue ihr Turteln aufnehmen, wenn sie dich sähen, wie ich dich in dieser Stunde sehe«, und seine Falkenlichter umgriffen die Fülle ihrer Jugend, die Reinheit ihrer ausgeglichenen Seele, und er hätte sie im Sturme des Herzens wild an seine Brust gerissen, um mit heißen Lippen und vollen Zügen ihre stolze Anmut zu trinken, hätte sich nicht draußen ein leichtes Hüsteln erhoben.

Gleich darauf ging die Tür in den Angeln, und siehe: so wie er das Gemach Knipperdollings verlassen, erhobenen Hauptes, wenn auch mit blutleeren Lippen, trat Hermann Wandscherer über seine eigene Schwelle.

Sein zerquältes Antlitz heiterte auf.

»Raban und Elisabeth«, sagte er mit erzwungenem Lächeln, »so friedlich beisammen? Ein Vorrecht der Jugend. Kommt, setzt euch«, und er warf sich schwer in den Sessel, fast mit der Unrast eines kranken und alternden Mannes.

Trotz des laulichen Abends begann er zu frösteln.

»Vater, was habt Ihr?«

»Eigentlich nichts von Bedeutung, mein Kind.«

Er winkte ab.

»Lassen wir das. Vieles muß man hinnehmen, ohne dabei die nötige Freude aufzubringen. Das Herz muß sich geben, sich den Geschehnissen anpassen, sonst bleibt es verwaist und ein Gefäß sonder Inhalt und Erquickung. Es gibt schlimmere Dinge. Nur nicht gleich mit dem Kopf ins Karnickelloch. Im Zwölfer-Ausschuß machen zuweilen die Ratten Spektakel.«

Er ekelte sich. Seine Worte zerstückelten: »Zumal Ratten und Schermäuse zu den widerlichsten Geschöpfen rechnen. Pfui über diese Biester! Man sollte das Gezücht in die Dawert verweisen. Also fort damit ...« und seine Hand legte sich schwer auf den Tisch. »Wenn die Könige bauen, haben die Kärrner zu tun, und wenn der Herr mit Blitzen und Wetterleuchten durch die Wolken redet, meint Pfaffheit und Antichrist, es ihm beim Kegelschieben gleichzutun, und bleibt doch nur ein Stammeln zwischen den Brettern der Rollerbahn.«

Er stieß einen abgerissenen Schrei aus.

»Jehova und Menschheit ...?! Zum Lachen! Es ist ja, um sich auf dem Blutanger mit dem krummbeinigen Pharisäer Schickme begraben zu lassen. Aber nur Ruhe, mein Kind. Es geht schon vorüber. Manchmal müssen die Säue getrieben werden, sonst ersticken sie an der Eichelmast, und das wäre doch ein leibhaftiger Jammer, auf die delikaten westfälischen Schinken und Mettwürste verzichten zu müssen. Carne vale« und er zog das › Carne vale‹ langsam und mit einer gewissen Bitternis durch die Zähne.

Dann lachte er still vor sich hin, aber dieses Lachen war ein häßliches Lachen. Er streckte die Hand und sagte: »Elisabeth, gib mir zu trinken. Mich dürstet. Die bei Knipperdolling und Rottmann verlebten Stunden machten Gaumen und Kehle trocken. Es waren Stunden des Leides und der Gegensätze. Sie gefielen mir nicht. Man hatte manches hinter Schaube und Wams zu schlucken, das einem den Atem versetzte. Aber wie schon gesagt: Lassen wir das. Es gibt schlimmere Dinge. Ihr Lieben, tut mir Bescheid. Das Morgen hat vielfach ein anderes Gesicht wie das Heute. Man soll das Kind nicht mit dem Bade verschütten, nicht gleich Feuer und Mordio rufen, wenn sich unter dem Buchenscheit irgendein mißliebiges Fünkchen erhebet. Die Himmelslichter sind noch nicht aus ihren Bahnen gerückt, und über Sion leuchtet noch die Sonne des Ewigen.«

Er schwieg und spielte mit dem Fuß seines Kelchglases.

Sie verstanden ihn nicht, Elisabeth nicht und Raban nicht; vielmehr war ihnen so, als hätte sich mit dem sonst so ruhigen und besonnenen Mann etwas Unheimliches in die Stube geschlichen.

Um das Herz der Tochter legte es sich mit eisernen Ringen.

So hatte sie ihren Vater noch niemals gesehen.

Sie suchte in seinen Augen zu lesen, fand aber nicht, was sie suchte. Dann sagte sie leise: »Ich weiß es nicht, aber es ist alles so seltsam um dich und uns. Sonst waren unsere Zusammenkünfte Feste, voll des Genießens und der Heiterkeit. Natürlich nicht immer. Aber sie waren doch voll des Friedens und der Zuversicht.«

Er hörte über sie fort und wollte nicht hören.

Dafür ergriff er den Becher und meinte: »Tut mir Bescheid. Ich trinke auf das Glück meiner Kinder.«

Die Spitzgläser klinkten sacht gegeneinander. Aber trotz des harmonischen Klingens, das ersehnte Behagen wollte nicht aufkommen.

Der Tucher und Beisitzer des Zwölfer-Ausschusses wandte sich jählings.

»Raban«, sagte er heiser, »gut, daß Ihr hier seid; denn wäret Ihr nicht gekommen, ich hätte noch heute zur Getter geschickt, um Euch holen zu lassen.«

Über das scharfgeschnittene Bronzegesicht des jungen Edelmannes lief es wie Wetterleuchten. Er kannte das, wenn der stolze Tucher so redete.

»Ist Gefahr im Verzuge?« fragte er hastig.

In seinen Augen zuckte ein fernes Licht auf, das immer näher rückte.

»Ja und nein«, gab der Alte zurück. »Glaubt Ihr, der politische Staat sei bedroht, der Bischof sei in seiner Heeresmacht stärker als wir, seine Stellung sei gefesteter als die Wälle und Schanzen des neuen Jerusalems, dem Könige gebräche es an Mut und Zuversicht – dann ist keine Gefahr im Verzuge, denn jegliches ist aus starrem Granit gebaut. Aber sie ist es, fährt der Satan in das reine Herz des Propheten, um giftig Gekräut auf den fruchtbaren Acker der reinen und unverfälschten Lehre zu streuen, sie ist es, wenn die Sehenden blind werden und die Hörenden in Israel das Hören vergessen. Ich bange um die Sehenden und Hörenden in Israel, denn die Schwalbe, die den alten Tobias heimsuchte, bedroht auch sie, und ich weiß nicht, ob ein Engel erscheint, ihnen die angehende Blindheit aus den Lichtern zu nehmen.«

Er schwieg, um dann langsam zwischen den Zähnen zu mahlen: »Es wird dunkel in Sion und auf Moria. Ihr Antlitz verhüllt sich, denn das Herz der großen Seher hat sich verkehret und ihre Zunge spricht durch die Zunge der Unlauterkeit.«

»Vater, Ihr irrt Euch!«

Elisabeth war dicht an seine Seite getreten.

»Ich irre mich nicht, denn das Grauen legt mir die Hand auf die Schulter.«

Mit weitaufgerissenen Blicken stierte er die gegenüberliegende Wand an. In ihren Tiefen brannte es mit dem Flämmern von Holzmulm in alten Weidenstämmen.

Langsam wuchtete er sich aus dem Sessel. Das hagere, glattrasierte Gesicht stand hoch im Raum, ohne Bewegung, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken.

»Es ist ein Schatten im Zimmer«, sagte er mit zerbrochener Stimme. »Er reckte sich auf im Hause Knipperdollings, als die Verstörung einsetzte und der sonst so nachdenkliche Rottmann dem Träger des Schwertes Beifall zusprach. Und dieser Schatten – er wanderte mit mir, drängte sich hier über die Schwelle. Dort steht er, und sein Anblick ist furchtbar.«

Er machte eine abwehrende Geste.

»Ich will ihn nicht sehen und darf ihn nicht sehen, denn in diesem Schatten zerfällt die Wahrheit und die Reinheit der Ehe, die Würde des Herdfeuers, die seelische und fleischliche Gemeinschaft zwischen Mann und Weib.«

Sie sahen ihn fassungslos an.

Auch Raban war an die Seite des Erregten getreten.

Der Alte sprach weiter: »Ich schlage mein Lebensbuch auf. Es geschieht mit ruhigem Gewissen, denn jede Seite ist eine lautere Seite, jede Zeile eine Zeile des Unumstößlichen und der Selbsterkenntnis. Ich fehlte in kleinen, aber niemals in großen und ernsthaften Angelegenheiten. Ich suchte die Wahrheit und fand die Wahrheit. Eine Reform an Haupt und Gliedern tat not. Kleriker und Laien waren des leibhaftigen Gottes überdrüssig geworden. Statt Hora und Mette läutete in allen Kirchen und Klöstern die Sauglocke. Der Antichrist stand auf und lief gegen die Tagwacht an, gegen die heilige Stadt, gegen die Sauberkeit in Gedanken, Worten und Werken. Da hörte ich Rottmann«, und über das Antlitz des Sprechers lief es mit dem warmen Scheinen eines hohen Erinnerns, »ja, da hörte ich Rottmann, und mir war es, als schritte einer vor mir her in kamelhärener Schur, den Stab in der Rechten führend, ein Rufer in der Endlosigkeit der Wüste, von Gott gesetzt und angewiesen, den Unflat aus den Kirchen zu fegen, die Hallen zu säubern, männliches und weibliches Pfaffentum aus ihren Höhlen und Palästen zu schwefeln ... und siehe: der also daherkam, war Rottmann, und der also fegte und ausschwefelte, war gleichfalls Rottmann, und sein Wort kam aus dem Himmelreich und ging zu den Menschen.«

»Und ging zu den Menschen«, wiederholte die Anabaptistin, »und lehrte im Namen des dreieinigen Gottes und taufte wieder im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, auf daß die Abwegigen, die krank an Haupt und Gliedern, wieder gesundeten, auferstünden aus dem Pfuhl ihrer Leidenschaften und Anfechtungen«, und sie streckte die Arme zur Decke wie in Verzückung, als käme der Geist über sie, als müßte sie noch einmal die Stunde erleben, da sie den Scheitel beugte und unter dem kühlen Tau des gespendeten Wassers erschauerte.

»Ja«, fuhr sie fort, »durch Sion habe ich meinen Seelenfrieden und meine Ruhe im Herrn gefunden.«

»Und Rottmann ...?« fragte der Tucher.

Sein Antlitz war eisig geworden.

»Ich schulde ihm Dank bis an das Ende der Tage«, sagte sie leise.

»Auch dann noch, wenn sein Schatten wider dich aufsteht?«

»Vater ...!«

»Auch dann noch, wenn ich dir sage: Es wird Leid und Jammer über uns kommen – durch ihn und die Gesichte des Königs?«

»Vater, was hast du?«

»Ich sage dir, Kind, ich habe noch um Vieles Sorge zu tragen, noch manches zu ordnen und mein Haus zu bestellen, bevor der Tag mir zwischen den Fingern zerrinnt; denn ich irre mich nicht: bevor ich mich von Rottmann und Knipperdolling trennte, hat der Tod mich gezeichnet.«

»Jesus ...!«

Sie warf sich ihm abwehrend entgegen.

Ein verhaltenes Schluchzen, und Vater und Tochter standen zusammen, gleichsam von einer einzigen Fessel umschlungen.

Er glitt ihr sacht über die Flechtenkrone, die schwer war wie die Fülle einer tiefgoldenen Weizengarbe.

»Nur keine Unrast«, sagte er nach einiger Weile. »Der Herr ist unerforschlich in seinem Tun und Lassen. Wir haben die Stunde zu nutzen und noch Tage zu durchmessen, die das Kainsmal an sich tragen. Vom Sauhirten bis zum römischen Kaiser ist ein weiter Weg, aber der aus der Wirrsal des Erdentales bis zur goldenen Pforte des Paradieses noch weiter und dornenvoller, dazu noch mit kantigen Steinen und Glasscherben gepflastert. Auch du, Raban, hast die Stunde zu nutzen, denn wir wissen nicht, wie die Vorsehung über dich und Elisabeth beschließt, ob sie euch trennt oder bindet.«

»Was soll das?«

Über der Nasenwurzel des jungen Erbmanns steilte sich eine eherne Rune.

»Sie kann nur binden«, versetzte er schartig. »Ich gehe über Vater und Mutter, über Sippe und Satzung, über Irrung und Wirrung, um dem Weibe zu folgen, es in meine Arme zu schließen, es zu erkennen und nicht mehr zu lassen.«

»Warten wir ab«, sagte der Tucher. »Die Gestirne wechseln. Zwischen ihrem Aufgang und Untergang kann sich vieles begeben. Auch das Wort ist wandelbar. Es ist weder in Erz gegraben, noch auf Felsen gebaut. Was heute gilt, wird morgen vielleicht zu den ungängigen Münzen geworfen. Solche Münzen sind Spreuicht. Aber setzen wir uns. Was mich bedrängt, fordert Ruhe des Leibes und völlige Rast der Seele, um sachlich zu sprechen ...« und sie setzten sich wieder.

Wandscherer jedoch, der, als der Gerechtesten einer, Sion und die neue Lehre durchpilgerte, der die Hälfte seiner Habe und seines Gutes dahingab, um an das harte Gestein der Erkenntnis zu gelangen, aus ihm, gleich Moses, den lauteren Quell der ewigen Schaubrote und des Mannakornes zu schlagen, dazu der Nächstenliebe zu dienen, legte die Hände zusammen und sagte: »So wisset: Knipperdolling gefiel sich in Seltsamkeiten, in heißen Betrachtungen, denen ich nicht zu folgen vermochte, obgleich er sprach durch den Mund des Herrn der Erde und aller Fürstentümer und Grafschaften.«

Er legte sich in den Sessel zurück. Seine Blicke umschleierten sich.

»Johannes Leydanus«, also fuhr er fort, »hatte in der verflossenen Nacht seine Gesichte. Er empfing, wie er kundgab, Botschaft von dem himmlischen Vater, der da ist vom Anfang bis zum Ende, von Ewigkeiten zu Ewigkeiten. Ein Engel erschien ihm, von Hoheit umgeben, von Flammen und ihren Garben umzüngelt, schöner denn alle, die an der Bundeslade die Wache halten. Der redete ihn an und sagte: Höret auf mich, auf den Engel des Lichts und den Cherub mit den siebenfältigen Schwingen, denn dieses ist der Wille des Allerbarmers, und also gebietet der Herr über Leben und Sterben, über Blühen und Fruchttragen, über Tod und Verwesung.«

Er unterbrach sich und warf leise dazwischen: »Alles und jedes, was ich jetzt bringe, liegt mir so klar auf der Zunge, als hätte es die Offenbarung bei mir lebendig erhalten, damit ich nicht Falsches berichte und mich in einer Salzwüste verliere. Drum höret. Der Entsandte aber redete dieses zum König: Die Ähre des Feldes gibt alljährlich eine dreißigfältige Ernte, das menschliche Weib ihre Frucht nur einmal im Jahre, und deshalb spricht der Herr über den Wolken: Ihr sollt den Acker einer gottwohlgefälligen Ehe besser und ausgiebiger bestellen, die Scholle emsiger umbrechen, ihr eine reichlichere Betätigung abgewinnen, sonst ist jegliches ein müßiges Tun, ein inhaltloses Spiel mit Kieselsteinen. Die Wiedertaufe tut es allein nicht. Sion muß wachsen, muß den Erdkreis sättigen. In einspänniger Liebes- und Leibesgemeinschaft geschieht dieses nimmer und niemals. Viertausend streitbare Männer halten Tag- und Nachtwacht dahier, aber zehntausend mannbare Weiber harren noch immer eines gesegneten Leibes und ersehnen mit heißem Blut die gebenedeiten Worte: Ego conjungo vos in matrimonium. In nomine patris et filii et spiritus sancti ... und da sich nur viertausend wehrhafte und streitbare Männer in Münster befinden, Sion aber wachsen soll gleich den goldenen Bienenschwärmen unter der Hut des großen Zeidelmeisters, so sei auch den beweibten Männern bei Leibes- bis zur Todesstrafe geboten, das ›Ego conjungo vos in matrimonium – In nomine patris et filii et spiritus sancti‹ mehrfältig über sich ergehen zu lassen, auf daß das Reich sich mehre und Frucht trage bis an das Ende der Tage. So das Gesicht des Königs und die Botschaft des Cherubs mit den siebenfältigen Schwingen.«

Die Anabaptistin erhob sich.

Ihr Medaillengesicht war bleich wie das des Herrn auf dem Kalten Stein geworden.

»Und Rottmann ...?« fragte sie mit verkrampften Händen, die keine Ruhe mehr fanden.

»Er sagte«, kam es mit verhaltenem Schmerz zurück, »nun triumphiere, mein Sion, nun freue dich, du Stadt der Auserwählten, denn nunmehr ist dir das Brot des Lebens und das Schwert der Stärke gegeben für ewiglich. Deine Feinde werden dahingehen wie ein Rauch vor dem Winde, deine Tempel werden das Opfer bringen mit Flammen, die die Sonne berühren.«

»Also auch Rottmann ...?!« und ein Lächeln umspielte die Mundecken der Anabaptistin, das an das Lächeln einer Sterbenden erinnerte. »Und ich ...?!«

Sie umgriff ihre Brust mit dem kurzabgerissenen Schrei einer Verzweifelten.

»Und ich...?! ich hätte Mannesgunst und Mannesliebe mit anderen Weibern zu teilen ...?!«

Der Tucher nickte. Sein Haupt fiel nach vorne.

»So und nicht anders. Die Botschaft brennt wie ein tiefes Wundmal.«

Sie warf sich herum.

»Raban, wie ist das?!«

»Her zu mir – du!«

Mit mächtigen Armen riß er sie an sich, und seine Stimme flackerte: »Meine Hand soll absterben, sollte es ihr beikommen, Unlauteres zu begehen, sich um den Nacken eines anderen Weibes zu schmeicheln.«

Der Tucher winkte ab: »Das hilft uns nicht und kann uns nicht helfen. Die Gesichte des Königs stehen wider uns auf.«

»Es sind falsche Gesichte! Der Satan war mächtiger denn der Engel des Lichtes. Aus der reinen Lehre stieg die babylonische Metze ...«

»Tat sie!« sagte der Alte mit bleierner Zunge, schwer und fast unverständlich, »denn das Weib auf dem rosinfarbenen Tier, mit Scharlach umkleidet, dazu voll der Lästerung und Unzucht, reitet durch Münster, auf daß sie die Menschheit verderbe und die Glorie von Sion hinwegnehme.«

»Und das sagtest Du Rottmann und Knipperdolling?« fragte das junge Weib in tiefster Verstörung.

»Ich tat es. Ich ließ nicht ab, mein Wort in die ungleiche Schale zu werfen. Es fruchtete nicht. Ich wurde mit dem Siegel des Todes gezeichnet. Aber ich hoffe noch immer: ein falsches Bild betörte den König, und dem babylonischen Weib wird das Gesicht in den Nacken gesetzt, auf daß es verdorre.«

»Wohl«, sagte Raban, »aber das hindert mich nicht, Liebe und Herzenseinfalt zu sichern und ihnen ein geruhsameres Herdfeuer zu bieten.«

Der Alte lächelte.

»Und mich auf der Strecke zu lassen«, sagte er gefaßt und ruhig.

»So nicht!« schrie Raban. »Auch Ihr ...«

Er verstummte vor den Blicken des Mannes, der seine irdische Sendung auffaßte, wie es die Blutzeugen Christi taten.

»Mit Herz und Mund«, sagte dieser, »und aus tiefster Seele habe ich auf die neue und schöpferische Lehre geschworen, so wahr mir Gott helfe. Das Verkehrte an ihr lasse ich hinter mir wie einen Stein in der Sandgrube. Dem Heiltum gehe ich nach, auf daß es mir Segen bringe ... und wäre mir durch falsch geleitete Zungen schon das Urteil gesprochen: es möge über mich kommen mit der Schärfe des Schwertes – ich harre der Stunde und empfehle meinen Geist dem himmlischen Vater, denn ich werde nicht fahnenflüchtig an Sion.«

 


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