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Fünfzehntes Kapitel

Der Morgen graute.

Wohl selten graute ein so furchtbarer Morgen wie der heutige über Münster.

Er kam fröstelnd gegangen, mit Stab und Muschelhut, dem Pilger gleich, der nach langer unseliger Fahrt die geliebte Heimat aufsucht und sie öde und leer findet wie die Stätten am Toten Meer, wo das Grausen wohnt und die Sodomsäpfel einem in der Hand zu Moder und Asche zerfallen.

Das Grauen wuchs in den Morgen hinein. Der Morgen in das junge Leuchten des Tages, das sich vergeblich abmühte, dem Hause im Kirchspiel Über dem Wasser ein Stück seines jungen Leuchtens zu geben.

In allen Kammern und Gängen herrschte ein Schweigen, das man mit Ohren hören, mit Augen sehen, mit Händen greifen konnte.

Die alte Josepha ging auf weichen Sohlen durch die vereinsamten Räume, ordnete dieses und jenes und wußte nicht, was sie eigentlich tätigte. Bald war sie an der Treppe und horchte hinauf, ob droben noch keine Stimmen laut würden, bald sah sie ins Freie hinaus, ob es Zeit wäre, die Türe zu entriegeln, um den Geschäften des Tages, dem Ein- und Ausgang der Menschen Rechnung zu tragen.

Sie wurde dieses Wandelns nicht satt und ähnelte der Wallfahrerin, die an Stelle des ersehnten Wunders mit leeren Händen und abgetretenen Schuhen heimkehrte. In ihren wehen und verlorenen Sinnen sprach sie die Worte, die sie schon tags zuvor in heißer Erregung gesprochen hatte: »Eine Hand voll Kirchhofserde wäre hier schon das Beste. Die leben vom himmlischen Tau, von Tränen, die nicht alle werden. Das kann doch nicht ewiglich währen ... nicht ewiglich währen ... denn so was hören die Toten, und wenn die Toten es hören ...«

Sie verschluckte die letzten Worte und trat an die Standuhr, den regungslosen Perpendikel wieder in Bewegung zu setzten.

Sie tat es mit zagem Finger, mit einem Stoßseufzer auf den Lippen.

»Im Namen des Vaters ...«

Und also geschah es.

Das Pendel machte auch einzelne Gänge, blieb dann aber stehen, um mit einem leisen Schrei aus seiner Angel zu stürzen.

»Christus ...!«

Dann ging sie ihrem Kämmerlein zu, mehr tot als lebendig.

Über ihrem Haupt zitterte die Flügelhaube mit ihrem weißen Stirn- und Kinngebände.

Gleich darauf lag das Haus wieder in seiner kirchenstillen Ruhe, als hätte sich die Hand des Todes darüber gespreitet.

So vergingen die Stunden, und diese Stunden waren leblose Stunden.

Und droben ...!

Sie hatten schon wohl eine Zeitlang miteinander gesprochen, denn was sie gesprochen hatten, brannte noch in ihren trostlosen Augen.

Jetzt schwiegen sie.

Sie hatte aufgehört zu weinen und saß in dem großen Sessel am Kamin, auf dem sie schon am verflossenen Abend gesessen hatte, bevor sie den Mut fand, von dem heiligen Mysterium den Schleier zu heben und das Opfer darzubringen.

Die Glut im Kamin war dem Erlöschen nahe. Nur dann und wann leckten die Flämmchen aus der Asche hervor, züngelten aufwärts, um aus den verkohlten Scheiten noch etliche Nahrung zu holen. Es blieb ein vergebliches Mühen, und so sanken sie denn in ihr eigenes Nichts zurück, matt und hinfällig, mit einem kaum vernehmbaren Knistern.

Elisabeth Wandscherer stierte in das feine Glumsen und Glosen. Ihr Gesicht beherrschte den Raum. Es ähnelte einer Friedhofsrose, war aber stark und starr wie aus Marmor gehauen.

Sie trug schwarzes Gewand, das goldblonde Haar zu einer stolzen Krone geflochten.

Raban lag vor ihr, den Kopf ihr im Schoße, ihre Hände umschlingend, sie mit heißen Küssen bedeckend.

»Fasse dich, Raban. Sei doch nicht ganz so verzweifelt, denn wisse ...«

Sie beugte sich vor und berührte mit heißem Mund seinen Scheitel.

Dann hob sie sich wieder, indem sie ihm ihre Rechte entzog und sacht damit seine Schläfe umschmeichelte.

»Nach meinem Fortgehen«, begann sie zu sprechen, »wird jegliches hier seine alte Stelle behaupten. Nichts soll sich ändern. Raban, auch du nicht. Du wirst diese Stätte beziehen, hier deine Tage verbringen. Herrenfaust hält den Pflug blank. Alles wurde dir erb- und eigentümlich gegeben.«

Er warf den Kopf in den Nacken.

»Was – mir?!« lachte er höhnisch, »wo ich dich selber nicht habe!«

Seine Augen waren blutunterlaufen.

»Ja – dir«, sagte sie lächelnd und drückte sein Haupt wieder in die Falten des Schoßes, »es wird dir zu treuen Händen gegeben. Ich hab's in langen und bangen Nächten niedergeschrieben. Du hast ja alles von mir, meinen Leib und mein Magdtum – warum denn nicht dieses? Mit dem kärglichen Rest mag sich Johannes Leydanus abfinden. Ich habe ihm nichts mehr zu bieten. Tröste dich, Raban. Und wenn du auch fern bist, ich spüre dein Nahesein. Du bist bei mir zu allen Stunden der Tage, zu allen Stunden der trostlosen Nächte. Du siehst in meine Träume hinein, wie ich in deine Träume hineinsehe. In diesen Träumen – du wirst zu mir kommen, wenn ich allein bin. Dann werden wir von den Stunden reden, während welcher ich in deinen Armen empfing, was nur ein Weib zu empfangen vermag an Wundern und Hingebung, und wir werden aufs neue durchleben, was wir schon einmal durchlebten, Mund auf Mund, in seligem Geben und Nehmen bis zum restlosen Vergessen ... und so ein Traum kann zur Wirklichkeit werden.«

»Er wird es«, stöhnte er auf.

»Ja, er wird es, Geliebter. Und dann wirst du mir von der Getter erzählen, von der münsterischen Heide, wenn sie anhebt zu grünen, von ihren lichten Birken, die wie Königskinder anmuten, von deinen Jugendtagen, von Vater und Mutter und wie du dich einstellst, in meinem Sinn und in meinem Angedenken weiterzuleben. Und die Lampe wird brennen, uns beide umleuchten mit dem sanften Licht des Friedens und einer makellosen Gemeinschaft.«

Und sie hob ihre Arme, die weich und weiß waren wie der Schnee da draußen, auf den Dächern und den toten Straßen, und ließ diese weißen Arme wieder in den Schoß fallen.

Ihre Augen aber begannen zu leuchten.

Ihr Mund blühte ihm noch einmal zu, schöner denn früher.

»Küsse mich, Raban, und versprich mir um meiner Ruhe und Seligkeit willen: Stark will ich sein und nicht am Dasein verzweifeln.«

»Elisabeth ...!«

Er riß sich empor, hob sie fast gewalttätig auf und preßte seinen Mund auf den ihren.

Mit dem Schnitt und Pfiff einer Peitsche fuhr es über ihn hin.

»Geliebte ...!«

Er drückte sie an sich und starrte sie an mit dem erfrorenen Ausdruck einer verzerrten Maske.

»Du ...!« schrie er auf. »Ich habe doch auch ein Herz im Leibe. Soll ich es den Hunden zum Fraß vorwerfen, auf daß es Ruhe findet vor seinem eigenen Pochen und Rasen?! O du ...! Gott helfe mir, Amen.«

Er ließ von ihr ab.

Sie aber sagte ihm leise, erschütternd, mit stammelnden Worten: »Raban, ich bin am Ende meiner Kraft. Ich sagte dir alles, was ich dir zu sagen hatte. Sieh doch, wie elend ich bin, wie ich dulde und leide ... oder willst du, daß ich im Wahnsinn dahinleben und mich selbst und dich nicht mehr finde?«

Sie lächelte.

»Nein, das kannst du nicht wollen. Du wirst Barmherzigkeit üben um meinetwillen.«

Da wurde er still, als wäre der Odem Gottes über seine Stirne gegangen und hätte seine Seele beruhigt.

Sie aber streichelte ihm sacht über die Schläfen.

»Da nimm ...!« und zum letzten Male bot sie ihm ihre Lippen, jetzt farb- und blutlos, die er küßte, als küßte er die bleiche Hostie des Altarsakramentes.

Dann sank sie zurück, die Lehnen umfassend, die Augen weit auf den Eingang gerichtet, denn plötzlich ...

Draußen erhoben sich eilige Schritte, die stockten, um jählings weiterzuhasten.

Die Tür klinkte aus ...

»Herrin ...! Ach Herrin ...!«

»Was bringt Ihr, Josepha?«

Ein stoßweises Röcheln: »Ach Herrin, da draußen ...! Das Haus wurde umstellt ...«

»Was weiter, Josepha?«

»Der Verweser des Königs, der Kanzler ... und dann noch ...«

Die Alte versagte.

Zwischen Stirn- und Kinngebände war das schmale Gesicht zu einem hilflosen Elend geworden.

»Herrin, wie soll ich das nehmen ...?«

»Als eine unabweisbare Fügung. Seid stark. Ich möchte Euch stark sehn, wenn Ihr mir die letzten Dienste erweiset. Ich bitte den Kanzler.«

Da wankte die Alte hinaus, als hätte sie ihr Höchstes und Heiligstes auf den Kirchhof zu tragen.

Raban war ans Fenster getreten.

Ein feiner Blutstropfen sickerte ihm von den Lippen herunter.

»Gebt Raum dem Kanzler!«

Zwei Spießknechte in den Farben des Königs besetzten den Eingang.

Gleich darauf erschien der gefürchtete Krechting, barhaupt mit rötlichem Spitzbart, schwarz gekleidet, den Wiedertäuferpfennig auf dem geriffelten Wams, eine königliche Order in der Rechten tragend.

Ihm folgte Dusentschuer, verwehten Angesichtes, in Anschauung des Geistes, der ihn völlig beherrschte.

Zwei Kammerfrauen und etliche Mägde, die Gewandkästen und sonstiges trugen, verhielten sich bei den Spießknechten und tuschelten heimlich.

Elisabeth Wandscherer saß wie ein Steinbild.

Ihre weitaufgerissenen Augen waren in Totenstarre auf den Gesandten gerichtet.

Keine Wimper zuckte in dem weißen Medaillengesicht.

Nur ihr Mund blühte auch jetzt.

»Mein Haus ist ein friedliches Haus im geweihten Sion«, sagte sie zu Krechting gewendet, da dieser keine Anstalten machte, das Wort zu ergreifen, »und so hoffe ich denn, der Friede dieses Hauses leidet nicht Not oder wird sonstig gefährdet.«

Der also Angeredete verneigte sich tief.

»Herrin, ich habe eine Botschaft des Königs zu übermitteln. Wollt Ihr sie hören?«

»Es geschehe nach dem Willen des Herrn.«

Da entrollte Krechting das Pergament und las mit einer Stimme, die an die Schärfe von Kardendisteln erinnerte: »Wir Johannes Leydanus, König des Tempels im neuen Jerusalem, bringen der ehrsamen Jungfrau Elisabeth Wandscherer Unseren königlichen Gruß. Wir wollen das Schöne, Gerechte und Gute, wollen es schirmen mit starker Hand, bevor die Heimlichen und Schleicher kommen, es biegen und brechen oder mit ihren schmutzigen Händen besudeln. Ich bin wie Jakob, der seine Füße hob und mit reicher Karawane durch das Land klingelte, das gegen Morgen liegt. Dort wohnte Laban, und seine Tochter hieß Rahel. Und Jakob diente sieben Jahre um sie, und sie deuchten ihn, als wären es einzelne Tage, denn Rahel war schön, so schön, daß Wir mit Salomo sprechen: Weißt du es nicht, wie lieblich du bist unter den Weibern, so gehe hinaus auf die Fußtapfen der Schafe und weide deine Zicklein bei den Hirtenhäusern. Dort wird man's dir sagen. – Wir nun haben auch eine Rahel gefunden, dienen aber keine sieben Jahre darum, sondern bieten ihr mit Willen und Wissen des allwissenden Geistes die Brautgeschmeide, so ihr Werber ihr darbringet. Das Weitere liegt beim Amte des Kanzlers.

In Gnaden
Gegeben zu Münster. Johannes Leydanus.«

Krechting hob langsam den Kopf mit dem rötlichen Spitzbart und den schmalen zusammengekniffenen Lippen, die nur sprachen, wenn sie es für richtig hielten, im übrigen schwiegen wie die toten Steine in einer Grabkammer.

Er sah auf das Weib mit dem kalten Medaillengesicht.

»Herrin, dieses die Botschaft des Königs.«

»Und was begehrt der König von mir?«

»Daß Ihr Euch schmücket mit frohen Kleidern ... daß die Kunst des Propheten Euch ziere und erhebe über alle Weiber des Landes ... daß die entsendeten Kammerfrauen und Mägde Euch hilfreich zur Hand stehen ... daß Ihr dem Kanzler folget, gemäß der Sitte und dem preislichen Anstand einer Anabaptistin, und Ring und Krone empfanget im Namen dessen, der Euch hierzu berufen. So Ihr hierzu gewillt seid, so sagt es. Die Zeit ist bemessen und die Stunde nicht fern, wo sich im Hause des Königs die Psalter und Harfen erheben, um der neuen Gebieterin, dem Kern aller Herzen, den Lobgesang darzubringen.«

Und wieder die Antwort, kalt und frostig wie der Schnee in den Straßen von Münster: »Es geschehe nach dem Willen des Herrn, denn es ist doch nicht zu ändern.«

Da wandte sich Krechting und gab den Kammerfrauen und Gürtelmägden ein Zeichen.

Die nun traten vor und geleiteten die Gekürte in das Gemach nebenan, woselbst noch die Seufzer und Liebkosungen der verflossenen Nacht die verschwiegenen Wände umgeisterten.

Nur eine der Gürtelmägde blieb zurück.

Zwei mit Silber beschlagene Kästlein in den Händen, stellte sie sich neben Dusentschuer, den Goldschmied und großen Propheten.

Von ihren schweren Wimpern tropfte es mit heißen Tränen.

Die Spießknechte harrten noch immer am Eingang, unbeweglich wie die Sonnengläubigen im fernen Osten, wenn sich das Morgenlicht erhebt über dem Meer, das sie das Kaspische nennen.

Die Zeit ging still ihres Weges, während Krechting das Zimmer durchmaß, mit brennender Stirn, das fahle Gesicht am Boden, als sei ihm auferlegt worden, die einzelnen Dielen zu zählen.

Dann blieb er stehen.

Ihm war so, als stände einer nicht fern, der dem Grabe entstiegen.

Seine Blicke fielen auf Raban.

Eine steile Falte grub sich ihm tief in die Stirne.

Etwas Herbes und Wehes wollte ihm die Kehle verschnüren.

Insonsten machten seine Augen nicht froh. Jetzt aber waren sie warm und gütig gegen Wollen und Wissen geworden.

»Erbmann, wollt Ihr nicht gehen?«

»Warum das?«

»Um Euch Leid zu ersparen.«

»Ich habe schon so vieles erduldet und kann auch dieses noch tragen.«

»Erbmann, es wäre besser, Ihr ginget. Ihr versäuert Euch nur das Brot, das Ihr noch zu essen habt.«

»Mag es versäuern. Es verschlägt nicht weiter. Ich befinde mich doch auf der Straße des Verfalles und der Nichtigkeiten.«

»Ihr werdet Euch diese Strecke nur noch grausiger machen.«

»Dann paßt sie zu meinem Leiden und Lieben. Drum laßt mich. Ich bleibe.«

Der Kanzler zuckte die Schultern.

»Ich kann es nicht ändern. Es ist ein Leben, das an Drähten zappelt. Ein solches Leben geht nicht durch einen Geigen- und Flötenreigen. Es barmt mich. Ihr solltet Euch diese Stunde nicht zumuten, denn solche Stunden schmecken nach der Speise der Abgestorbenen.«

Raban machte eine wehe Bewegung.

»Das soll nicht vergessen werden. Ich danke Euch, Kanzler. In Euch habe ich einen Menschen gefunden.«

Ein sanftes Rascheln und Rauschen erhob sich.

Elisabeth Wandscherer trat wieder ins Zimmer, in milchweißer Seide – in demselben Gewand, das sie zu Rathaus bei dem großen Reigen getragen hatte, als die mörderischen Wirren noch nicht Stadt und Menschen umlagerten. Ein Purpurmantel, in dessen Geweb goldene Flämmchen aufzüngelten, fiel ihr von den Schultern herunter. Brust und Nacken wuchsen aus Purpur und Weiß mit dem zarten Schmelz von lichtfarbigen Rosen.

Zwei Gürtelmägde trugen die Schleppe.

Die Kammerfrauen geleiteten die Herrin an die frühere Stätte.

Dort ließ sie sich nieder.

Mit geschlossenen Augen, heilig und hehr saß sie zwischen den Lehnen, eine königliche Frau aus längst vergangenen Tagen, die keinen Odem mehr hatte und die man schmücken wollte für die kurze Reise zum Grabe ... und dennoch: in dieser verstorbenen Frau wohnten Gedanken, schlimmer als vergiftete Messer, trostloser als die unermeßliche Ode der Thebais, wo die Stimme sich in sich selber verzehrt, als wäre sie niemals eine Stimme gewesen.

»Was geschieht mit mir?« fragte sie aus ihrem quälenden Schweigen heraus.

»Was der König in seiner Weisheit gebot«, versetzte der Kanzler.

»So geschehe es nach seinem Willen. Ich warte.«

Von draußen her kam in diesem Augenblick das Summen von Glocken, das sich merklich verstärkte und immer ernster und feierlicher wurde. Die hohe Domkirche begann den tönenden Lobgesang. Die aus den benachbarten Kirchspielen schlossen sich an. Schließlich war es ein gemeinsames Klingen und Singen ... und doch schien es, als würde unter diesem Singen und Klingen eine selig-unselige Frau zur letzten Ruhestätte getragen.

»Es eilt«, sagte der Kanzler.

»Herrin ...!« und Dusentschuer kniete nieder und küßte vor ihr den Boden.

Die Gürtelmagd reichte ihm eines der Kästchen.

Die Augen des Künstlers und Propheten verdrehten sich, begannen zu flackern. Seine gelben Raffzähne wurden lang, zeigten sich zwischen den gewulsteten Lippen.

Seine Stimme war rauh wie die Schur eines Wolfes, obgleich er versuchte, mit dem Säuseln eines Blütenbaumes zu sprechen.

Er sagte: »Gebenedeite! Was den Geist des himmlischen Vaters beseligte, beseligte auch meinen Geist. Er hieß mich schaffen und werken und das vollbringen, was eine höhere Gewalt mir eingab. Spieglein, Spieglein ...! Herrin, Ihr sollt von nun an schreiten in den Schuhen des Unbegrenzten, auf Schuhen, gesponnen aus Ophirgold und Wunderbarkeiten ...« und mit erregten Händen streifte er die Goldpantoffeln an die silbernen Füßchen.

Am Fenster wollte einem das Herz auseinander.

Und abermals: die Augen des Künstlers und Propheten verdrehten sich, begannen zu flackern, zu kriechen. Gleich Weinbergschnecken krochen sie aufwärts, immer höher und höher, bis sie am warmen Fleisch des Halses und dem der Schulter haften blieben.

Dann erhob er sich.

Die Gürtelmagd reichte ihm das zweite Kästchen, mit lauterem Schmelz versehen, das Wappen des Königs auf der Silberschließe: die Weltkugel, durchstoßen von zwei zierlichen Schwertern.

Diesem entnahm er ein Halsjuwel, dessen Kunstfertigkeit und Glanz die Umwelt blendete und den Mund verstummen ließ.

Die leere Kassette übergab er der Gürtelmagd.

»Was geschieht mit mir?« fragte zum andern die selig- unselige Frau, indem sich ihre Blicke erschlossen und wiederum zufielen.

»Was Johannes Leydanus in seiner Weisheit gebot«, versetzte der Kanzler.

»So geschehe es nach seinem Willen. Ich warte.«

Neben ihr war ein verhaltenes Schluchzen.

Die Kammerfrauen konnten ihres auferzwungenen Amtes nicht froh werden.

Sie weinten still vor sich hin.

Die Glocken verstummten und begannen nach einiger Weile aufs neue zu läuten.

Die Raffzähne Dusentschuers zeigten sich häßlich und abstoßend.

Seine Stimme wurde noch rauher als die Schur eines Wolfes, obgleich er versuchte, mit dem Säuseln eines Blütenbaumes zu sprechen.

Das preziöse Kleinod funkelte zwischen den brutalen Fingern, deren Gelenke gelbliche Haarbüschel aufwiesen.

Er sagte: »Gebenedeite! Was den Geist des himmlischen Vaters beseligte, beseligte auch meinen Geist. Er hieß mich schaffen und werken, Wochen hindurch, Monde hindurch, und das vollbringen, was eine höhere Gewalt mir eingab. Spieglein, Spieglein ...! denn der himmlische Vater gebot mir in seiner Weisheit und seiner ewigen Erleuchtung: Du sollst dem Weib unter den Weibern güldene Kettlein machen, innig verflochten, mit silbernen Pünktlein dazwischen, voller Türkise, mit edlen Smaragden durchsetzt, lieblicher denn das Bündel duftiger Myrrhen zwischen den jungen Zierden, denn wisse: du bist schöner als Thirza, dein Hals ist wie der Turm Davids errichtet, mit Brustwehr gebauet, daran tausend Schilde hangen und allerlei Waffen der Starken.«

Er wiegte das Geschmeide zwischen den Händen und ließ es im einfallenden Schneelicht aufleuchten.

Seine Augen schlichen sich näher heran, kniffen sich ein, wurden zu spinnwebdünnen grünlichen Seidenfäden, die den Schmuck mit den sanften Linien des Halses und denen der Schultern verglichen.

»Spieglein, Spieglein ...! und dieses Angebinde – ich formte es bei heiterem Sonnenlicht, beim spärlichen Scheinen der schwelenden Nachtlampe ... und brachte es zum Herrn des neuen Tempels ... und er und die Königin und alle Kebsweiber lobeten es und sprachen: Nie wurde Höheres erschauet! Drum trage es zu dem Weib aller Weiber, füge es ihm um Nacken und Schultern, auf daß sich davon die Brüste vergolden, zum Wohlgefallen des Königs und zur heiligen Schau aller Reinen in der Stadt der ewigen Gnaden und der Barmherzigkeiten ... und sein Glanz wird sich in ihren Augen widerspiegeln, wie die Teiche von Hesbon vor den Toren der Stadt den Glanz des neuen Jerusalems widerspiegeln. Und somit verstatte mir, Herrin ...«

So der Prophet, und seine Hände, die den Prunk umfaßten, streckten sich aus, willens, ihn um das blonde Fleisch zu schmiegen und das Schlößlein springen zu lassen.

Die selig-unselige Frau zuckte zusammen.

Sie wollte sich der Berührung entziehen, aber die Finger griffen schon zu, gespensterten mit dem langsamen Behagen einer düsteren grauhaarigen Spinne über die gerundeten Schultern, ordneten und nestelten die einzelnen Schaken zurecht, tasteten an den Steinen herum, um sie dem künstlichen Gefüge des Ganzen einzureihen, während die wieder geöffneten Augen aus den Höhlen traten und die gelben Zähne zu Raubtierzähnen wurden.

Dann knackte die Schließe.

Der Prophet trat zurück.

»Gebenedeite ...!«

Zum letzten Male erhob er die Stimme.

Heiser und gleichsam auf rauhen Wollsocken durchirrte sie die sterbensbange Kammer: »So geschehen im Namen des Königs und des himmlischen Vaters. Ihr aber, lebet fortan in Scheu vor Seiner Majestät, dem vergeltenden Richter, und denket daran: ihm wurde gegeben das Schwert und die Palme der Freude und die des Friedens ... in Ewigkeit, Amen.«

Eine furchtbare Handlung neigte sich ihrem Ende entgegen. Krechting und Dusentschuer gaben ein Zeichen.

Eine der Kammerfrauen neigte sich vor.

»Königin, wollt Ihr geruhen ...« Dabei führte sie ihr Mundtüchlein gegen die Augen.

Das Weib des Schmerzes erhob sich.

Von den Kammerfrauen und Gürtelmägden geleitet, trat sie den bitteren Weg an.

Kanzler und Prophet beschlossen den Zug.

Noch einmal verhielt sie den Fuß.

Ihr letzter Blick fiel auf Raban.

Zwei weiße Gesichter begegneten sich, ohne sich wirklich zu sehen.

Ein grauer, undurchdringlicher Schleier senkte sich nieder und trennte zwei sich verblutende Herzen.

Unten im Hausflur stand die Alte und schluchzte. Sie nahm den Kleidersaum der Scheidenden und küßte ihn innig.

Dann warf sie die Arme zur Decke.

»Ach Herrin ...!«

»Ihr sollet nicht weinen um mich. Gehet zu Raban, Josepha. Er ist mehr der Sorge bedürftig als ich.«

Dann ging sie.

Draußen harrte viel Volk, das ihr zujubelte unter dem Geläut aller Glocken.

Sänften standen bereit.

So verließ Elisabeth Wandscherer das Haus ihrer Väter, aber sie hörte nicht mehr den furchtbaren Schrei, der hinter ihr hergellte.

 

Und der sechste Engel posaunete.

Und als er posaunete, da erschauerte das Land Westfalen zum andern, auch die Hauptstadt in ihm, die Stadt mit den vielen Kirchen und Kapellen, mit der neuen Königin in ihren Mauern und mit der blutenden Wunde in ihrem Herzen, die nicht zu stillen war und immerzu tropfte. Auch das Lager des Bischofs erschauerte, aber es war ein frohes Erschauern, denn sein Heer hatte an Zuwachs gewonnen, die Spießknechte mehrten sich, zumal die Gunstbezeigungen der benachbarten weltlichen und geistlichen Machthaber reichlicher ihre Subsidien zuströmen ließen.

Über Münster aber ging eine Stimme.

Die war die des Jesajas, des obersten aller Seher und Zeichendeuter, und also lautete sie: »Es kommt eine Zeit, da wird der Herr die Scheitel der Töchter Sions kahlmachen, ihnen ihre Spangen nehmen, den Schmuck an den köstlichen Schuhen, die Hefteln, die Gürtel, die Kettlein und Flitter, die Bisamäpfel und die Glöckchen an den rosigen Ohrläppchen. Höret, ihr Himmel! Ich habe Kinder erzogen, sie erhöht und erhoben, und sie sind von mir abgefallen. Das Haupt ist krank, und das Herz ist matt geworden. Was aber noch übrigbleibt von der gefeierten Tochter, ist wie ein Häuslein im Weinberge, wie eine Nachthütte in den Kürbisgärten, wie eine verheerte Stadt.«

So die Stimme Jesajas, des obersten aller Seher und Zeichendeuter.

Und die Posaune verstummte.

Der Chroniste im Kirchspiel des heiligen Lambert aber schob sich ein frisches Papier unter die Hand und erzählte mit krauser und oftmals stockender Feder, denn sie sträubte sich vielfach, den Geschehnissen in der umlagerten Stadt Rechnung zu tragen und der Wahrheit die ihr zustehende Ehre zu geben.

»So verließ Elisabeth Wandscherer das Haus ihrer Väter. In aller Feier und Form wurde sie eingeholt und zum Palast des Königs getragen. Johannes Leydanus empfing sie, umgeben von seinen Großen und Vertrauten des Reiches. Sein Antlitz war froh, seine Sinne verklärten sich, denn sein Herz war krank geworden aus Liebe und aus Neigung zu dem schönen Weibe. Nun war jegliches behoben, das ihn kränkte und härmte, und die Psalter und Harfen huben ihr Spiel an in der goldenen Halle des Mächtigen.

Er sagte: ›Meine Zunge ist stumm. Nur die Augen sehen und sprechen, wie diejenigen sehen und sprechen, die das Licht des fernen Ostens erschauen: Du bist wie ein Weidenzweig an den Bächen des fruchtbaren Tales, und deine Wunderbarkeiten stehen nebeneinander wie Granatäpfel in voller Reife‹, und er führte sie in die goldene Halle, wo bereits Divara und die Kebsweiber in durchwirkten Kleidern ihrer warteten und sie empfingen, als wäre sie bereits ihresgleichen geworden.

Nur um die Mundecken Divaras zuckte ein trauriges Lächeln, denn sie sah das Leid und die wilde Not, die das Herz der Zugebrachten durchzitterten.

Eine Glocke schlug an. Mit hellem Wohllaut durchirrte sie die weiten Räume des königlichen Hauses.

Ein hoher und schmalgesichtiger Mann trat zu den übrigen.

Der trug das schwarze Kleid eines Gesalbten, und nannte sich Egbert Reimarus, angestellt als Prädikant im Kirchspiel des heiligen Ludgerus.

Der sollte die Trauung vollziehen, denn Rottmann hatte sich geweigert, die heilige Handlung vorzunehmen, aus Gründen, die seiner Anschauung zuwiderliefen. Als der König solches vernahm, befahl er ihn zu sich, legte ihm die Hand auf und sagte, nicht ohne einen bösen Hohn in der Stimme: ›Rottmann, gedenket des Tages unter den Linden. Wäret Ihr nicht der Getreuesten einer, wäre nicht die Dreieinigkeit in Euch, das Heil der Wiedergetauften, Pfäfflein, Pfäfflein, Ihr säßet wie der lauthalsige Apostel auf der blutigen Erde, den Kopf zwischen den Füßen.‹

Da verfärbte sich Rottmann, begab sich in sein Kämmerlein, den verstörten Blick in die kommenden Tage gerichtet.

Statt seiner vollzog Egbert Reimarus die anberaumte Trauung, legte beiden die Hände auf und gab sie zusammen im Namen des ewigen Vaters, der über den Sternen wohnt und die Welten regieret, als wären sie Federbälle oder sonstiges Kinderspiel.

Johannes Leydanus aber führte sie an der Hand zu den hohen Thronen, die sich in der goldenen Halle befanden.

Dort wies er ihr einen der Sitze an.

Sie gehorchte mit dem Gehorsam einer Verlähmten, mit dem blinden Handeln einer Gezeichneten, die in lichten Mondnächten die Firste der Häuser überschreitet, auch sonstiges tut, was die Kraft des Menschen nicht wagt zu vollbringen.

›Herrin des Tages ...!‹

Da brachte ihm Krechting das goldene Krönlein zu, das er begehrte.

Das nahm er mit spitzen Fingern und krönte damit das weizenblonde Haupt der Auserwählten und stand lange in stummer Verzückung und Geistesabwesenheit.

Dann sprach er: ›So kröne ich dich, Herrin des Tages, und sitzen sollst du mir zur Linken, wie Divara zu meiner Rechten sitzet. Nichts soll dir mangeln. Meine Hände lege ich unter deine Füße, auf daß du siehst: ihr beide seid mir gleichwertig an Ehre und Ansehen ... und ich preise die Stunde, die meinen Todestag vor den deinen setzet. Also geschehe es dem Fleische und dem Geiste nach.‹

Hierauf drückte er der jungen Königin einen Kuß auf die blutleeren Lippen, die wie abgestorbene Lilien waren.

Dann wieder die vorige Stille.

Johannes Leydanus wandte die Blicke zur Seite.

Nun hing in der goldenen Halle, neben dem Eingang, eine Tafel von Ebenholz. Die hatte Dusentschuer in heißer Arbeit gefügt, sie reichlich umsilbert und mit den Namen aller Weiber beschrieben, darunter ein Grübchen also zugerichtet, daß man ein elfenbeinernes Zäpfchen hineinstecken konnte. Gelüstete es nun den Herrscher, mit einer seiner Frauen allein zu verweilen, sie sacht in die Arme zu nehmen, brachte er das Zäpflein an die Stätte seines Willens und Wunsches. War die Auserkorene behindert, so stand ihr das Recht zu, das elfenbeinerne Zeichen weiterzugeben, nach Einsicht und bestem Ermessen. Die also Gekürte wurde von kundigen Gürtelmägden mit köstlichen Essenzen besprühet, mit zarter Leinewand und Purpur gekleidet und also zum Herrn des neuen Tempels geführet, auf daß er sich ihrer Gegenwart und ihrer Schönheit erfreue.

Auf diese Tafel nun deutete er mit umwölkter Stirn und halbgeschlossenen Augen, die wie Irrlichter aufbegehrten.

›Königin und Herrin des Tages, siehe die Tabulatur meines Hauses! Sie ist für alle gesetzt, ist heilig, heilig und lauter wie der Hauch meines Mundes. Wer dagegen fehlet, dem zuwiderhandelt, dem ergeht es wie den widerspenstigen Zicklein, die da weiden auf den sanften Wiesenränften des Berges Gilead. Ihm wird das weiße Hälslein durchschnitten, weil er sündigte wider den Geist, der Sion umschauert ... Wein her ...!‹ und als ihm dieser zugebracht wurde, ließ er die neue Fürstin leben im Purpurstrom der Burgundertraube.

›Die Königin lebe ...!‹

Diese aber senkte das Haupt und drohte vom Throne zu fallen.

Da sprangen die Kammerfrauen zu und brachten die Ärmste in die Gemächer der Leiden und der düsteren Schatten.« – – –

Der Chroniste von Sankt Lamberti legte die Feder beiseite. Die Hand wollte nicht mehr. Die Arbeit erlahmte zwischen den Fingern, denn es war ein Herbes und Trostloses, was er niedergeschrieben hatte.

Allein die Zeit drängte.

Die Geschehnisse reihten sich dicht nebeneinander, legten Masken an, um die Greuel, die sie bargen, weniger furchtbar und abschreckend zu machen, denn das Trauerspiel in Münster ging mit den Schritten eines Riesen seinem letzten Ende entgegen.

Dem braven Erzähler blieb der Atem stocken.

Er dachte an Publius Virgilius Maro.

Er fühlte: der sah ihm über die Schulter und flüsterte ihm aus seiner Aeneis die Worte zu: ›Obstipui steteruntque comae et vox faucibus haesit. Ich erstarre, die Haare sträuben sich mir, und die Zunge verliert ihre Geschäftigkeit.‹

Aber er zwang sich, und so schrieb er denn weiter:

»Die Könige aus Morgenland waren längst ihres Weges gegangen. Sie kehrten zurück in das Reich, das jeglichem zugewiesen war. Mit ihnen wanderte der große Stern und nahm alle Helligkeit mit sich in die Gegenden des tiefen Ostens.

Dafür begann es auf der Roten Erde zu grünen, zu schmeicheln und Knospen anzusetzen. Die Wiesenbächlein gluckerten stärker, die Vögel mit den rückfliehenden Lichtern und den langen Stechern pfuizten über die Schneisen und Gestelle der Gehölze, die die Loddenheide nach allen Richtungen hin durchquerten, und an den Uferränften der stehenden Gewässer und Gräften war es blau von Veilchen geworden.

Sonnige Freude zwischen Himmel und Erde.

Nur die in Münster wurden ihres Lebens nimmer froh. Alles und jedes zerrieselte ihnen zwischen den Händen. Der Bischof, reicher an Knechten und Subsidien, wenn auch nicht stärker an Mut und Tapferkeit, zog seinen Gürtel immer enger um Außenwerke und Wassergräben. Die Läger wurden näher gerückt, die Feldschlangen und Viertelskartaunen vorwärts in Stellung geleitet. Trotzdem hielt sich die Stadt durch den heroischen Mut ihrer Verzweiflung, und als um Okuli ein wütiger Angriff seitens der Belagerer scheiterte, schrie Franz von Waldeck, der Bischof, wie ein gereizter Kardinal, dem man aller Juwelen aus Mitra und Krummstab beraubt hatte. Aber den Anabaptisten gebrach es an Zufuhr. Ihr größter Feind, der Hunger, gesellte sich als Bundesgenosse den Spieß- und Troßknechten des hohen katholischen Priesters. Immer bedrohlicher stierte er über die Bollwerke, tastete in die Straßen und Häuser hinein, erwürgte die Breßhaften, ließ die Frucht im Leibe der Mutter rettungslos absterben. Zwischen Mauern und Lägern irrten Weiber und Kinder, gruben die Wurzeln des Unkrautes aus, fingen Schnecken und Feldmäuse, um damit ihre leeren Mägen zu stopfen. Letzten Endes erschienen ihnen die Fladen, so Ochsen und Kühe auf Felder und Wiesen hingeklatscht hatten, als Manna und eine Speise des Himmels. Ratten und sonstiges Ungeziefer wurden gesalzt und eingepökelt, wobei die Herzen verloren aufschrieen: ›O du entsetzliche Züchtigung! O du Pest des jüdischen Volkes!‹ Selbst im ›Halben Mohrenkopf‹ war Schmalhans Küchenmeister geworden. Keine Speckseiten mehr, keine gesulzten Schweinsohren mehr. Schulte Flintrup in Roxel stellte seine Lieferungen ein, und so hing denn auch hier in der gefeierten Kneipe der einst so ergiebige Knappsack außer Reichweite der gierigen Mäuler. So der Jammer im heiligen Münster. Aber das Bitterste! Es mangelte an Blei und Lot, an Pulver und Werkzeug, den Metzen und Wallbrummern die tägliche Nahrung zuzuführen. Sogar ›Jans Pumpernickel‹ und ›Männe Ungeschlacht‹ standen öfters müßig zwischen den Schanzkörben, waren müde und marode, während die Teufelskanone im gegnerischen Lager sich über die Maßen sättigte, als wären über sie die fetten ägyptischen Jahre gekommen.

Sie schwamm in Blei und Lot, in Pulver und im Übermaß der ihr zugebrachten Stein- und Eisenkugeln, so da jede mit einem Zentnergewicht aufwarten konnte.

Fritze Lampadius' Stückmeisterherz tat einen Hopser, war eitel Wonne und Seligkeit.

Der stumpige Mann mit dem roten Haarschopf unter der rostigen Kesselhaube freute sich der jetzigen Tage wie ein kurzbeiniger Mistfinkenhahn sich seiner willigen und duckenden Weiber erfreute.

Alle zwölf Minuten ein Knall und ein Schuß, wobei er jedesmal einen Wind wehen ließ, dem seine Gesellen Reverenz erwiesen.

Tage- und nächtelang stand er im Feuer, bedachte Wälle und Torburgen mit seinem Teufelskraut, daß Breschen sich öffneten, Erd- und Ziegelbrocken nur so abschnurrten, als wäre der leibhaftige Satan in ungezählte Rebhuhnketten gefahren ... und eines Tages, als ihm ein besonders gutes Meisterproblem gelang, indem er ein gegnerisches Pulvermagazin auf der Kreuzschanze, dicht beim Buddenturm, in Gottes freien Himmel hineinpochte, daß die Wolken barsten und mit den Polenwölfen heulten, stand unversehens der Bischof hinter ihm und legte ihm die eisenumringte Hand in die Stückmeisterpfote.

Er rasselte mit Kacheln und Schienen.

›Wenn Ihr nicht wäret, mein Lieber ...!‹

Zwei runde Schermausäugelchen blinkten ihm zu.

›Wir machen's, Herr Bischof, oder ich will nicht mehr Fritze Lampadius heißen. Gottes Erbarm und Gottes Arm sitzen hier in der Teufelskanone, und ich bin ihr Fürspruch und Zuhälter.‹

Da lachte der Bischof sein herzlichstes Lachen.

›Brav so, mein Söhnchen‹, und er drückte ihm fünfundzwanzig Golddublonen in die vom Pulverschleim umkleisterte Pratze.

Dann ging er.

Hinter ihm her wehte ein abermaliges Windchen, das nicht aus der Hand Gottes gekommen, vielmehr ihr Dasein den Zipollen verdankte, die der struppige Mann gern bei seinem ersten Frühstück als bekömmliche Zutat zu verspeisen pflegte. Aber dieses Windchen benedizierte den geistlichen Würdenträger vom Scheitel bis zu den güldenen Sporen herunter.

›Sankt Barbara hilf!‹ und abermals krachte die Teufelskanone.

Die gute Stadt Münster schütterte davon bis in ihre Grundfesten hinein, als wäre mit dem heutigen Tage der Tag des Gerichtes und des Zornes gekommen.

Aber Gottes Erbarm und Gottes Arm, wie Fritze Lampadius sagte, hielten auch bei den Wiedertäufern aus, geboten ihnen, die Zähne zusammenzubeißen, das zerbröckelte Ziegelwerk aufs neue zu errichten, den Hunger bis auf den letzten Hamster- und Rattenschwanz zu erdulden, auf den Herrn zu warten – auf ihn und seine himmlischen Geleitschaften.

Dazu beteten Rottmann und die Prädikanten aller Kirchspiele feuriger denn an sonstigen Tagen. Gefesteter standen Krechting und Knipperdolling auf Posten, unheimlicher waltete Meister Hans aus der Grünen Stiege seiner Obliegenheiten. Sein Schwert trank sich satt, fast überdrüssig des hingegebenen Blutes. Dazu raste Dufentschuer mit größerem Eifer seines Weges daher, voll der Anweisungen, mit Augen, die eine Strohmiete hätten anzünden können.

›Tut Buße‹, schrie er durch die Straßen von Münster, ›und ehret den König, den Stellvertreter Gottes auf Erden! Werft euren Geifer auf den schwarzen Fasanen, den Bischof, da draußen – auf diesen falschen Ansager und Frauenschänder, auf diesen Allesfresser und Blutzapfer. Wo immer nur die Sauglocke läutet, da wird sie von diesem Pfaffen und Hurenweibel geläutet. Kreuziget ihn, oder noch besser: legt ihm des Meisters Strick um den fetten Hals und henkelt ihn an der größten Linde in Sion, im Angesicht des Domes. Tut Buße, tut Buße und ehret den König!‹

Seine rauhe Stimme erlosch, um auf einer anderen Stätte weiter zu rasen.

Ja, ehret den König!

Johannes Leydanus wankte und wich nicht.

Unter seinen Augenbrauen flackerte noch immer die Lohe von früher. Er sprach mit der Stimme der Gewaltigen. Er glaubte mit dem heißen Glauben der Märtyrer, die ihr Alles für ihr gestabtes Ziel dahingaben. Er litt weder an Furcht, noch an Saumseligkeit. Er ähnelte dem Judas Makkabi und seinen Söhnen, so auch den Namen Hasmonäer führten und groß waren in Israel. Er trug sein Blut seinem Gott und seinem Volk entgegen, gesättigt mit Zuversicht und eisernem Willen, und unterfing sich, die Geschosse der gegnerischen Kammerbüchsen mit eigenen Händen aus den hohen Lüften herunterzuholen. Er übte Gerechtigkeit nach dem Gesetz der Anabaptisten und seiner Gesichte, richtete aber auch mit der Strenge des apokalyptischen Reiters, der da saß auf einem roten Tier, anzusehen wie ein Tier mit Scharlach übergossen. Er sprach mit den Worten Johannis auf Patmos: ›Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme höret und auftuet, zu dem werde ich eingehen und mit ihm das Abendmahl halten.‹ Aber er sah nicht den Hunger des Volkes oder wollte nicht sehen. Seine Kornkammer blieb voll, in den hintersten Gefächern seines Kellers lagerten noch Weine, die Herz und Zunge beseligten, ehemaliges Gut des schwarzen Fasanen da draußen. Er tafelte noch froh mit seinen Königinnen und Kebsen, erfreute sich ihrer, wie sich Salomo seiner schönen Weiber erfreute. Und das war sein großes Verhängnis, sein bitteres Elend und sein trostloses Sterben.

Herr erbarme dich seiner!«

So der Chroniste von Sankt Lamberti. Er legte die Feder beiseite und wartete auf größere Dinge, denn über dem Himmel stand längst die Pflugschar des Herrn, bereit, die Wolken zu durchschneiden, aus ihnen die Blitze zu holen, sie auf die Erde zu schleudern. Auch vernahm er die Worte: »Wehe der prächtigen Krone der Trunkenen von Ephraim, der welken Blume ihrer lieblichen Herrlichkeit, welche stehet über einem fetten Tal derer, die vom Weine taumeln!«

 

Der Mönch und ich betraten die goldene Halle, ausgestattet mit flandrischen Tapeten, eingelegten Stühlen, umsilberten Truhen und sonstigem Gerät, wie man es nur in den Häusern der Standeserhöhten vorfindet.

Fünf siebenarmige Leuchter standen auf der königlich gespreiteten Tafel, jeglicher von einem Cherub getragen, einstmals die besten Schätze der Kurie und Adelshöfe.

Selbst Dusentschuer fand sie wohlgebildet, der Hand eines ernsthaften Künstlers würdig.

Diese nun verbreiteten eine warme und wohltuende Helle durch die gegurtete Halle.

Das Mahl sollte beginnen.

Trabanten und Kammerdiener standen bereit, dem Wink des Hofmarschalles zu folgen.

Divara und alle Nebenfrauen harrten des Königs, reich geschmückt in ihren Kleidern, die wie Spinngewebe erschienen, in ihren Kettlein und Spangen, gefaßt mit Chalcedonen, Moostopasen und sonstigen Steinen. Als Johannes Leydanus erschien, begann ein gedämpftes Spiel von Flöten, Harfen und Psaltern, lieblich zu hören, gleich dem anmutigen Säuseln von Erlen an Wiesenbächen. Weihrauch kräuselte auf und erfüllte alle Dinge mit seinen Wohlgerüchen.

»Ehre sei Gott in der Höhe!« sagte der Herrscher und ließ sich am Tafeltuch nieder ... mit ihm die anderen, ihrer Würde und ihres Ranges gemäß ... und als er sich niederließ und zur Seite blickte, da sah er: der goldene Stuhl zu seiner Linken war leer.

Über seine Stirne züngelte ein hastiges Blitzen.

»Was soll mir dies?« fragte er heiser.

Divara verfärbte sich.

Sie neigte sich zu ihm: »Du weißt doch – sie leidet.«

»Wie lange soll dieses Leiden noch währen?«

»Bis die Zeit sich erfüllet.«

Mit halberloschener Stimme gab er zurück: »Bis die Zeit sich erfüllet? Das geht schon so Tage um Tage und Wochen um Wochen.«

Der aufsteigende Zorn schnürte ihm die Kehle zusammen.

»Das dauert so lange, bis ich zwei Harnascher schicke und sie an die Tafel befehle.«

»Die Harnascher wissen nicht, was einer Königin ziemet.«

›Aber ich ...!«

Und mit häßlichen Augen, die Unheil ansagten und drohten: »Besonders ihr gegenüber.«

Sein Blick fiel auf die ihm gegenüberhängende Tafel mit dem silbernen Zäpflein.

»Man weiß sie zu zwingen, denn Könige zürnen machen, heißt den Kopf von den Schultern verlieren.«

Johannes Leydanus erhob sich.

Herrischen Schrittes durchmaß er die Halle, betrat ein Nebengemach und krachte die Tür hinter sich zu.

Gleichzeitig verstummten die Psalter und Harfen.

Divara aber folgte ihm und trat ihm in ihrer ganzen Frauenschönheit entgegen.

»Es ist nicht wohlgetan, was du soeben getan hast.«

»Schweige. Könige sind Almoseniere im reichlichsten Ausmaß. Sie geben, wollen aber auch dankbare Kärrner. Der Große im fernen Osten, der den Tempel erbaute, hatte moabitische, ammonitische, edemitische, sidonische und hethitische Weiber, und keine unter ihnen verwehrte ihm die Stunde der Andacht und die einer zusprechenden Erbauung. Aber ein Weib unter den meinen ...«

Die Wut verschloß seine Lippen.

Divara schmiegte sich an ihn und sagte: »Sei milde. Laß es behoben sein.«

Er aber fuhr fort: »Frauen hat's satt und genug, aber die, die mir aufsagt und meine Tage verdüstert, eine solche hat's nur eine in meinem Weltenreich. Ich fürchte, Meister Hans aus der Grünen Stiege muß sich bemühen und ihr ein Andreas Vesalius werden.«

»Wer ist dieser Andreas Vesal?«

»Leibarzt Seiner Kaiserlich Römischen Majestät.«

»Du liebst es, grausam zu scherzen.«

»Keineswegs. Ein Medikus wie Meister Hans kuriert alles von Grund aus. Vornehmlich widerspenstige Köpfe. Er verweist sie kurzerhand in das Reich mit den Totengesichtern. Dort lernen sie beten.«

»Hör auf – du! Deine Rede ist furchtbar. Du weißt doch: sie leidet und kann die Stunde nicht finden. Sättige dich an meiner Nähe. Auch sie kann dir Erbauung und Andacht geben. Dann merkst du vielleicht, daß Divara noch in der Blüte des Sommers steht.«

Er lachte mit dem Lachen eines Mannes, dem der Grimm zwischen den Zähnen schäumte: »Bist du eine Abisag von Sunem, von der man verkündet: ihr Wuchs ist hoch wie ein Palmbaum und ihre Prunkstücke gleichen den Weintrauben, voll des Weines und der üppigen Fülle?!«

Ihr Antlitz wurde aschengrau.

»Ich war es bisher. Drum laß mich an deiner Seite verweilen. Folge mir und erfreue dich des gerichteten Mahles.«

»Nein«, sagte er eisig.

Da rauschte sie hinaus in ihrem beleidigten Stolz und ihrer gekränkten Hoheit und Würde.

Er stierte ihr nach mit den Lichtern eines guten Hirschen, der vergrämt seiner abtrottenden Hirschkuh nachäuget.

Hierauf trat er wieder in die Halle zurück.

Er sah in weiße Gesichter.

Hätte eine Fliege gesummelt, ihr Summeln wäre nicht verborgen geblieben. Es war, als kröche eine tote Hand über den Boden.

Die brennenden Leuchter schrumpfelten ein, die köstliche Tafelspreite wurde zu einem Leichentuch.

»Löschet die Kerzen!« gebot er. »Das Mahl ist beendet.«

Da erloschen die Lichter, eins nach dem andern, wie sie am Tag Allerseelen auf den Gräbern erlöschen.


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