Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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XIX.
Und dann ...?

Feierliche Glocken läuteten den Sonntag ein. Fröhlich spiegelte sich die Morgensonne in den noch feuchten Ziegelpfannen, und die Leute gingen so ruhig zur Kirche, als wäre nichts geschehen, als hätte sich kein großes Trauerspiel an den Wassermühlen begeben. Sie wußten es noch nicht. Nur einzelne Männer waren unter Führung Pittje Pittjewitts und des Herrn Polizeidieners Brill hinausgegangen, die Verunglückten zu suchen. Erst gegen die zehnte Morgenstunde begannen verschiedene Gerüchte ihren Umlauf zu nehmen, die anfangs in der ungeheuerlichsten Form auftraten, weit über das Ziel hinausschossen, schließlich aber zu der Tatsache zusammenschrumpften, daß der fremde Maler und der Puppenspieler aus irgendeinem noch unaufgeklärten Grunde ihren Tod bei den Wassermühlen gefunden hatten. Viele neigten sich der Ansicht zu, Ull Koßmann habe sich bei seinen Studien und weiten Spaziergängen vom Gewitter überraschen lassen, sei vom Sturm gegen das morsche Brückengeländer getrieben und habe Jan Peerenbom, der angetrunken von Wissel über den Leedeich gekommen und zu seiner Hilfe herbeigeeilt sei, mit sich ins Verderben gezogen. Andere munkelten von einem vorhergegangenen Streit, von verhängnisvollen Differenzen zwischen dem Puppenspieler einerseits, dem Maler und Nikodem anderseits, die folgerichtig die ungeheuerliche Katastrophe herbeiführen mußten, aber niemand dachte daran, Kathje mit dem furchtbaren Schicksal der beiden Männer in Verbindung zu bringen und sie für ihr Verschulden haftbar zu machen. Kathje selber hatte jegliche Anteilnahme verloren – und als das Unglück vor ihrem Hause beschrieen wurde, als Männer und Frauen kamen, ihr die Kunde von dem schrecklichen Begebnis mitzuteilen und alles aufboten, so schonend wie möglich vorzugehen, da saß sie da, wie sie schon seit vielen Stunden gesessen: teilnahmlos, die Hände im Schoße, ohne Bewegung, mit geschlossenen Augen und einen harten Zug um die blutleeren Lippen.

»Sie hat ihr Geheimnis,« sagten die Leute, als sie Kathje verließen.

Das, was sie gestern abend durchlebt hatte, was über sie gekommen war mit der Wucht eines elementaren Ereignisses, hatte sie gelähmt und stumpf gemacht gegen die Trauerbotschaft des heutigen Tages. Sie erinnerte sich aber an die verflossenen Tage und Wochen – an die Stunden der vergangenen Nacht. Ja, sie erinnerte sich ... und die Worte traten ihr in den Sinn, die sie in der Christenlehre gelernt hatte, und die da lauten: Laß deine Kleider immer weiß sein, und laß deinem Haupte an Salbe nicht mangeln. Bei diesem Rückwärtsdenken legte sich ein herzzerreißendes Lächeln um ihre Mundwinkel, das plötzlich erlosch. Keine Träne hatte bis jetzt ihre Wangen gefeuchtet. Kathje Peerenboom erinnerte sich ... Sie saß auch jetzt noch, wie sie schon seit mehreren Stunden gesessen. Ein wildes Verlangen ergriff sie, alles wieder gut zu machen, was sie gefehlt hatte, um gleich darauf einzusehen, daß ein abgestorbener Baum nicht mehr zu blühen und zu grünen vermag, geschweige denn Früchte zu tragen. Da ließ sie die Hände matt in den Schoß sinken. Ihr Gesicht entstellte sich, und die blaugraucn Ringe, die ihre Augen umrahmten, nahmen eine noch intensivere Färbung an.

Ein feiner Goldfaden des Tageslichtes fiel durch das verhangene Fenster ins Zimmer. Es war ein Gruß des fonnigen Lebens da draußen. Allein Kathje verstand nicht mehr, was Leben war und Leben bedeutete. Der Gedanke an den Tod hatte sie ergriffen.

Still ging die Tür auf.

Und etliche Männer brachten den Puppenspieler ins Zimmer. Seine eisgrauen, spärlichen Haare fielen wirr ins Gesicht. Schilfpartikel und Wasserlinsen klebten darin. Schlaff und leblos schleppten die Arme am Boden. Auch im Tode hatte Jan Peerenboom seine Genossen nicht fahren lassen. Mit ihren Stielaugen und Wollperückcn baumelten sie am Tonnenreifen vom Halse. Sie trieften wie die Großkarierten und die Sammetjacke ihres Herrn und Gebieters, der, seinen Neigungen und Ideen getreu, sich mit einem dramatischen Abgang von der irdischen Bühne weggetrotzt hatte.

Nur Golo fehlte. Der war weiter stromabwärts geschwommen. Armer Jan! – Der große Marionettenspieler dort oben hatte den Vorhang unverhofft und unerwartet über die Puppenkomödie seines kleinen, irdischen Kollegen fallen lassen. Aus – nichts mehr! Der Temperamentsmensch, der prächtige Kerl mit dem Kindergemüt und der glühenden Liebe im Herzen, der Held der Schnapsflasche und der burlesk-dramatischen Pose hatte seine Bude für immer geschlossen. Geht nach Hause – ich habe meine Arbeit geleistet. Anch' io sono...! – Es war einmal...! – Aus!

Jantje Klaas – Jantje Klana...!

Noch war kein Laut über Kathjes Lippen gekommen; jetzt stieß sie ihn aus.

Es war ein gellender Wehschrei und klang so entsetzlich, als hätte ihr das Grauen selber die Zunge geliehen. Eine lähmende Starre ging über sie hin.

Sie stierte die Männer an, die inzwischen den Verunglückten auf ihr Bett gelegt hatten und jetzt ihre Mützen verlegen in den Händen drehten.

Sie wußten nichts zu sagen und zuckten die Achseln.

Da warf sie die Arme nach oben. Noch bevor sie sich klar machen konnte, was eigentlich um sie geschehen war, war sie in sich zusammengebrochen. Mit kurz abgestoßenem Wimmern, das nicht mehr aufhören wollte, lag sie am Boden.

Die Männer gingen und verließen scheu und auf leisen Schuhen die Stube.

Jantje Klaas – Jantje Klaas...! – – –

Zwischen Salweiden hängend und in Höhe des Fingerhutshofes, räumlich nur wenig voneinander getrennt, waren Ull Koßmann und Jan gefunden worden. Ungefähr eine halbe Wegstunde hatte sie das Wasser stromabwärts getrieben. Pittje Pittjewitt stieß zuerst auf die beiden. Dann gab er Order. Langsam bewegte sich der traurige Zug über den Leedeich und an den Wassermühlen vorüber der Stadt zu. Was sterblich von Ull Koßmann war, wurde den barmherzigen Schwestern auf der Grabenstraße gelassen. Und der arme Puppenspieler...

Und draußen lag so ein friedlicher Sonntag gebreitet. Die Landschaft feierte. Silberlicht hingen glitzernde Perlen an Gräsern und Rispen, kreisrunde Kolke blenkerten gen Himmel, bunte Kühe standen im Grase, und der Widewal sang und flötete in den Pappeln des Bowenholts, dessen Wiesengelände unter einem farbigen Duft lag, der an die zarte Tönung von Reseda gemahnte. Ein Wiesenweih stand geraume Zeit und ohne Bewegung über der majestätischen Fläche, bis er lautlos dahinstrich und als Punkt im goldigen Äther verschwebte. –

Pittje hatte sich in die Wohnung seines Freundes Wilm Henseler begeben. Jetzt saß er in der vorderen Stube. Ein Bogen Papier lag vor ihm. Mit angefeuchtetem Bleistift und übernächtigten Augen rechnete er die voraussichtlichen Kosten über das Begräbnis seines Schwagers zusammen. Und als er damit fertig geworden, da machte es für Mutters und Mielkes Trauerkleider, für den Pastor und den Küster, für Nählohn und Leinen zum Totenhemd, für die Träger, Likör und Zigarren und für die sonstigen unvorhergesehenen Ausgaben in Summa 35 Taler 5 Groschen.

Außerdem für Sarg und Transport... Ach, Gott ja – das wurde gestundet, das blieb in der Freundschaft, aber da waren noch die Kosten für den Satz und den Druck der Totenzettel, und dann hatte er auch noch den Leichenbitter vergessen. Na, der war allerdings ein Kollege von ihm, und unter Kollegen ... Mit der Druckerei stand das aber auf einem andern Bogen. Hierfür mußten wenigstens 5 Taler angesetzt werden – und Pittje zählte in Summa Summarum 40 Taler 5 Groschen zusammen, die unbedingt aufgebracht werden mußten. Und als er darüber nachdachte, als dann noch die verschiedenen Sorgen, mit denen er zu rechnen hatte, ins Zimmer spazierten, sich dicknäsig und wie vollgemästete Protzen mit schweren Uhrketten und Hängebäuchen in die Erscheinung brachten, sich ihm einzeln präsentierten und sich dann schwerfällig und mit heiserem Lachen auf die Binsensitze warfen, daß die Stühle zu krachen begannen, da war es ihm so, als wenn ein unheimlicher Gast hinter ihm stände, ihm über die Schulter fort auf den Papierbogen schielte und sagte: »Na, Pittje, Du Haft für nichts auf dieser Erde gelebt und gerungen, Deine Werke sind für die Katze gewesen – zieh Dir das Totenhemd über die Ohren und laß Dich auch man begraben.«

»Und laß Dich auch man begraben ...«

Mechanisch sprach Pittje Pittjewitt die Worte nach, die ihm in den Sinn traten, und die er zu hören geglaubt hatte. Er hätte sich ein Leid antun mögen, bezwang sich aber, stützte den Kopf in die Hände und grübelte still vor sich hin. –

Trotz des heiligen Sonntags knirschte der Hobel in der Werkstatt Wilm Henselers. Lange Späne kräuselten sich unter dem gestoßenen Eisen, drehten sich spiralförmig auf und hoppelten dann in kurzen Sätzen von der Werkbank zu Boden. Mit Schnur und Winkelmaß wurden hierauf die gehobelten Tannenbretter gerichtet.

»Sechs Fuß un fünf Zoll, zwei Fuß un acht Zoll,« zählte Wilm, »aber ein bißchen völlig; wir müssen hier den Maxusstandpunkt vertreten.«

Und dann begannen die Sägen zu schnarchen; sie stöhnten und ächzten und brachten die einzelnen Borten in die gehörige Länge und Breite. Die Arbeit ging hurtig von statten. Als um die Vesperzeit die Sonne schon schräger durch die mit Spinnwebnetzen verhangenen Fensterscheiben in den kleinen Arbeitsraum hineinsah, da war der Sarg im Rohen fertig geschreinert. Auf zwei Holzböcken stand er inmitten der Werkstatt.

Wilm Henseler, sein Priemchen und seine beiden Gesellen hatten schon in aller Sonntagsfrühe mit ihrem Tagwerk begonnen. Jetzt ließ Wilm eine Pause eintreten, spendierte einen ›Nuß‹ aus Jülleckes Destille und nötigte in zuvorkommender Weise seine Angestellten zum Kaffee. Nach demselben wurde weiter gearbeitet.

»Nu kommt's mit die Feinheit,« meditierte Wilm, ließ Längs- und Schmalseiten mit Leisten verkröpfen und schraubte eigenhändig die vom Drechslermeister Pollmann gelieferten Füße an den Boden der Kiste. Hierauf wurde alles geglättet und sauber hergerichtet. Aus Sparsamkeitsrücksichten blieben die verzinnten Beschläge in Fortfall. Nur auf dem niedrigen Deckel wurde ein sehr einfaches Metallkreuz befestigt. Dann kam der Anstrich. Es duftete nach Firnis und Harzen – und als hierauf die Gesellen noch Hobelspäne in das Innere füllten und die beiden Längsseiten mit je drei Handgriffen versehen hatten, da ging Wilm Henseler still und geräuschlos in die vordere Stube, praktizierte das Priemchen in die Arbeitsweste hinein, nahm die Hacken zusammen und meinte: »Pittje, ich melle gehorsamst...«

»Ich danke Dir, Wilm,« sagte Pittje und streckte ihm beide Hände entgegen.

»Ich hab' der Sache 'ne gehörige Auslage nach Längde un Breite gegeben,« erklärte der Schreinermeister, »denn ich habe mir zurecht simuliert, Dein verstorbener Mjinheer Schwager könnte un müßte sich doch bequemer un völliger in seinem letzten Häuschen umtun können, wie er es jemals in seinem miserablichten Leben gekonnt hat – un da habe ich nach Längde un Breite vier un drei ordentliche Zolldaumens zugeben müssen. Nu kann er doch, was er früher nich konnte: sich gehörig strecken – das kann er jetzt. Er hat's kommod zwischen den Brettern. Du verstehst mir doch, Pittje?«

Ob er ihn verstand ...?!

Pittje stand am Fenster und sah stocksteif auf die Straße hinaus.

»Gott sei gedankt, daß ich ihn bald unter der Erde hab',« sagte er mit verhaltener Stimme, »denn er hat sich selber danach gesehnt wie die durstige Scholle nach Wasser. Du hast ihm das Beste zusammengeschreinert, was Du ihm zu geben vermochtest. Wilm, Wilm, Wilm – wie kann ich Dir danken ...?!« »Mit gar nichts,« erwiderte dieser und schob sein Priemchen wieder in die Backentasche hinein, »allens für gratis.«

Die beiden Männer standen zusammen und hatten sich bei den Händen genommen. Unausgesprochen, aber um so fester wurde die alte Freundschaft erneuert, die sie nie wieder loslassen sollte fürs Leben und noch das Grab überdauerte.

Drüben, auf den weißgekalkten Giebeln und Ziegeldächern der Häuser spielte es in rosigen Farben. Lange, violette Schatten fielen quer über die Straße. Aus einer nahegelegenen Wirtschaft kam ein rollendes Geräusch, als würden dort Kegel geschoben. Plötzlich drang ein lautes Gepolter und eine helle Knabenstimme ins Zimmer.

»Alle neun!« sagte Wilm.

»So purzelt alles im Leben zusammen,« erwiderte Pittje.

»Schön – aber für Dir nich, wenn Du meinst, ›Holz‹ geben zu müssen, un ich rate Dir, Pittje: zieh' Dir den Rock aus un stelle Dich hemdsärmelig un forsch auf die Rollerbahn hin. Du bist lang genug Kegeljunge gewesen; jetzt nimm mal selber die Kugel, spuck' in die Hände un schiebe, aber dann: alle neune. Du verstehst mir doch, Pittje?«

Pittje nickte.

Draußen wurden die Schatten immer breiter und länger.

Es war Abend geworden. –

Eine Stunde später hielt Tally Süßkind mit seinem Schimmelpferdchen und dem vierrädrigen Korbwägelchen vor der Henselerschen Wohnung. Etliche gaffende Kinder fanden sich ein. In aller Ruhe wurde der noch nasse und klebrige Sarg auf das Hinterteil des Wagens geschoben, in die Quere gelegt und mit Strohseilen befestigt. Hierauf bestieg Pittje den Bock. Sally, mit einer Trauernelke zwischen den Lippen, hatte inzwischen die Leine ergriffen und begann leise zu schnalzen, bei welcher Gelegenheit er gleichzeitig mit dem Peitschenstiel an Jettes Schwanzrübe herumkitzelte.

»Hi, hi, hi!« machte das Schimmelpferdchen; dann trabte es vorwärts.

»Adjüs!« rief ihnen Wilm Henseler nach.

Die Leute blieben auf der Straße stehen.

Eins, zwei, drei – vier, fünf, sechs...!

Der Dreischlag verklang.

Der Sarg, Pittje und Sally ratterten über die Kesselstraße dem Markt zu, passierten das Hanselaertor und gewannen die breite Landstraße, die über Hönnepel nach Rees führte. Die beiden Männer sprachen nur wenig; das besorgten die Stare, die mit ihrem schillernden Wams in den Chausseebäumen saßen oder in hellen Scharen dem wackeren Pferdchen vorauszogen, um zeitweilig und mit fröhlichem Lärmen in die benachbarten Wiesen zu fallen.

Nach einer guten Wegstunde wurde der Rhein auf einer schwerfälligen Ponte gequert. Melancholisch gurgelten die tiefgrünen Wasser unter den Planken des Fahrzeugs. In Rees brannten schon die Lichter, die Läden an den meisten Kramgeschäften waren bereits geschlossen, als das Korbwägelchen mit seiner traurigen Fracht vor einem sehr bescheidenen Häuschen anhielt. Unter Beihilfe etlicher Nachbarsleute wurde der Sarg in das Sterbezimmer getragen. Sally Süßkind empfahl sich und kutschierte wieder nach Hause. Das schwarze Ding war abgeladen, allein das Gewicht, das noch immer auf den Achsen lastete, schien größer denn vorhin geworden. Immer neue Fahrgäste stellten sich ein, machten sich's im Wagen bequem und streckten die Beine. Und als Sally sich auf dem Bock umkehrte, da grinsten ihm häßlich lachende Gesichter entgegen – und diese lachenden Gesichter fielen ihm schwer auf die Seele, denn die Passagiere, die das Alleinsein auf die Sitze gerückt hatte, waren grimme Verpflichtungen mit Rattmausvisagen, ekle Patrone, die, ohne Platzgebühr entrichtet zu haben, nicht wankten und wichen. Mit ihnen kariolte Sally Süßkind bekümmerten Herzens durch die einsame Landschaft. Die Trauernelke baumelte betrüblich zwischen den Lippen.

Eins, zwei, drei – vier, fünf, sechs...!

Pittje Pittjewitt war inzwischen über die ausgeleierte Schwelle in den matterleuchteten Flur getreten. Eine feuchte Luft wehte ihn an. Die Nachbarsleute kamen aus dem ersten Zimmer zur Linken. Sie hatten bereits die Totenlade an die richtige Stelle geleitet. Als Pittje sich bedankt hatte, traten die Kinder seiner Schwester auf ihn zu, das älteste dem Anschein nach etwa fünf- und das jüngste zweijährig, die ihm fast freudestrahlend erzählten, daß morgen ein Feiertag sei, denn morgen würde Vater begraben.

»Wo ist Mutter?« fragte sie Pittje. Das älteste Mädchen deutete auf das Sterbezimmer und meinte: »Da – die Lichtjungfer ist auch schon gekommen.«

»Und Großmutter?«

»Da hinten,« sagte das Mädchen von eben.

Da ging Pittje am Sterbezimmer vorbei durch den kalten, unwirtlichen Gang der Küche zu.

»Ich muß erst mit Mutter sprechen,« stöhnte er auf, aber die Worte klebten ihm fast an der Zunge, als er sie aussprach.

Als er eingetreten war, schnappte die Klinke mit einem scharfen Geräusch wieder ein. Nur eine schwelende Kerze erhellte dürftig den niedrigen Raum. Bevor der Eingetretene sich entschließen konnte, seine Blicke auf die seitwärts des Herdfeuers hockende und in sich niedergebrochene Gestalt zu heften, ließ er Augen und Gedanken erst unstet umherirren.

Mutter Pittjewitt hob langsam den Kopf.

»Pittje, Du bist lange geblieben.«

»Ja, ich bin lange geblieben.«

»Und ich hatte schon Bange um Dich, denn ich will jetzt schon immer die Tür zuhalten, damit kein frisches Unglück hereintritt.«

»Mutter...!«

Was war das? Der Ton, mit welchem Pittje gesprochen, befremdete sie. Die Züge ihres harten Gesichtes waren noch härter geworden. Sie reckte sich auf und richtete ihre stahlgrauen Blicke fragend auf Pittje. Im Schummerlicht der trübe brennenden Kerze schien ihre hagere Gestalt bis an die Decke zu wachsen. Sie war zu ihm getreten, faßte die linke Hand ihres Sohnes und fragte: »Was hast Du?«

Eine plötzliche Angst hatte sich ihrer bemächtigt.

Er wandte den Kopf ab.

»Was hast Du? – Da muß was passiert sein!«

»Ja, Mutter, es ist was passiert.«

»Um Gottes willen – was ist denn?!«

»Mutter, Mutter...!« stammelte Pittje.

»Also doch ...« sagte die Alte mit einer entsetzlichen und fast fatalistischen Ruhe. »Angtree! – auf daß es hereinkömmt – das Unglück. Na, los denn – ich höre.«

Herbe und bitter war Mutter Pittjewitt damit fertig geworden. Sie hatte schon genug erduldet im Leben – auf eine Handvoll mehr oder weniger konnte es auch nicht mehr ankommen.

»Angtree! – auf daß es hereinkömmt – das Unglück!« sagte die Alte noch einmal, scheinbar mit einer diabolischen Lust behaftet, sich selber zu quälen.

Pittje sah sich verlegen um und um.

»Nicht hier,« meinte er stockend, »wenn Mielke käme, wenn die übrigen kämen... Die erfahren es noch früh genug, was alles passiert ist.«

»Dann komm,« sagte Mutter Pittjewitt, ergriff den Kerzenleuchter und knarrte die Stiegen einer windschiefen Treppe hinauf, die von hier aus nach den Dachkammern führte. Von Pittje gefolgt und oben angelangt, trat sie durch die mittlere Tür ein und legte lautlos das Schloß vor. Mutter und Sohn waren allein in der verlorenen Kammer. – Im Erdgeschoß kamen und gingen die Leute. Der Küster brachte Leuchter und Wachskerzen, der Kaufmannslehrling von nebenan eine funkelnagelneue Zipfelmütze und das Linnen zum Sterbehemd, und als Mielkes Kinder schläfrig die Augen fallen ließen und ins Bett gebracht wurden, stellte sich die Nähterin ein, die die Trauerkleider für Mutter Mielke und Großmutter Pittjewitt anpassen wollte – und alle, die kamen und gingen, gingen und kamen auf Zehenspitzen, auf daß sie die Andacht und den heiligen Frieden im Hause nicht scheuchten. Nur noch etliche Male rasselte die umwickelte Klingel an der Haustür. Dann kam niemand mehr und ging niemand mehr. Nur die Nähterin saß noch immer da unten. Sie wartete mit ihrem Trauerkleid und ihrer großen Schachtel auf Großmutter.

Im Hause war es still geworden, so still wie der Tote, der anderen Tages aufgebahrt und zum Kirchhof gebracht werden sollte. Man wußte kaum, was es an der Zeit war, denn die Lichtjungfer hatte den Perpendikel der Standuhr angehalten, daß sein lautes Geräusch die Ruhe des Abgeschiedenen nicht störe.

Frau Mielke nahm sich das Taschentuch von den verweinten Augen.

»Wo Großmutter nur bleibt?« sagte sie mit träuenerstickter Stimme.

»Ich komme lieber zu morgen wieder,« meinte die Nähterin, »ich muß noch anderwärts ... und ich habe doch schon 'ne halbe Stunde gewartet.« »Da will ich doch lieber mal nachsehn,« schluchzte Frau Mielke und ging in den Flur hinaus und von hier in die Küche, und als sie dort ihre Mutter nicht fand, von oben her aber Stimmen zu hören wähnte, tappte sie die Stiegen hinauf, und als sie bis in die Mitte derselben gekommen, da lief es über sie hin wie eine plötzliche Ohnmacht. Nur mit knapper Not hielt sie sich am alten Geländer.

Das war ja ein jämmerlicher Schrei – und wer da geschrien hatte...

Gleichzeitig rutschte ein schwerfälliger Körper die mittlere Tür entlang; dann schlug er unter leisem Wimmern zu Boden.

Frau Mielke stand wie gelähmt; aber da drinnen hatte Mutter Pittjewitt alles erfahren. –


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