Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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V.
Im Stadtrat

»As't üh belieft, Mjinheer Bürgermeister, ich melle mir zu's Wort,« sagte der Schreinermeister Wilm Henseler und zog dabei seine rotgepunktete Sammetweste einige Zoll breit über die Hosenborte herunter.

»Genehmigt,« sagte der Bürgermeister Backer, lehnte sich in seinen Plüschsessel zurück, kniff die Augen ein und begann mit einem schmalen Lineal taktmäßig auf den mit grünem Tuch überzogenen Ratstisch zu trommeln.

Alle Augen richteten sich auf Wilm Henseler, der mit stoischer Ruhe und unter Zuhilfenahme seines zölligen Daumens das obligate Priemchen aus der linken Backentasche hervorholte, es auf seinem Düffelrock abtrocknete und hierauf in die rechte Westentasche hineinpraktizierte. Es war so eine althergebrachte Gewohnheit von ihm, eine Gewohnheit, die aber auch mit Opportunitätszwecken einherging, denn um eine ordentliche Rede zu halten, um gründlich betonen und den gehörigen Nachdruck geben zu können, mußte unbedingt das saucierte Priemchen aus dem Munde entfernt werden. Als dieses geschehen war, konnte es immerhin losgehen – aber es ging noch nicht los.

Wilm Henseler hatte noch eine zweite Gewohnheit.

Bei allen Gelegenheiten, wo er zu sprechen hatte, sei es bei seinen Gesellen in der Werkstatt, sei es beim Holzhandel, im Hause seiner diesbezüglichen Kunden oder bei den geheimen und öffentlichen Sitzungen des Stadtrats, stets vor Beginn seiner Ansprache ließ er eine geraume Zeitlang die Blicke wie musternd über die Gesichter seiner Gesellen und Lehrlinge, seiner Kunden und Zuhörer gleiten. Und so auch hier. Die Inhaber aller Ratsherrnstühle, vom Herrn Bürgermeister über Pittje Pittjewitt fort und bis zum Schellfisch herunter, wurden mit diesen sondierenden Blicken begnadet – und dann erst begann er die Präliminarien des Redens in die Wege zu leiten. Er räusperte sich. Mit einer unnachahmlichen Breitspurigkeit pflanzte er seine Daumen auf die Tischplatte, stützte sich auf die Knöchel der Hand und zog den breiten Mund auseinander.

Eine erwartungsvolle Stille ging um. Bis jetzt waren allerlei städtische Fragen, die bei jeder Stadtratssitzung zur Tagesordnung gehörten, zur Debatte gekommen, nichtssagende Dinge, wie Baugesuche, Flurberichtigungen, Anbringen von neuen Straßenlaternen, Bittgesuche um freien Nießbrauch von Weiden, Wieswuchs und dergleichen mehr – die entweder in Bausch und Bogen angenommen wurden oder kurzerhand in die Versenkungen der bestaubten Aktenschränke spazierten. Man hatte sich in aller Güte geeinigt, und kein scharfes Wort war in unliebsamer Weise gefallen; jetzt aber, und zwar mit dem Auftreten Wilm Henselers, wehte ein anderer Wind durch das Ratszimmer, der mit scharfem Hauch die Herren Stadtväter hinsichtlich ihres Verhaltens auseinander wirbelte, zwei Lager schaffte und über das eine den Odem des Freidenkerischen, über das andere den Geist des Klerikalen hinwegblies. Eine nervöse Unruhe hatte sich aller bemächtigt, als der Schreinermeister sich von seinem Sessel erhob; eine Totenstille ging um, als er den breiten Mund auseinander faltete.

Der Herr Bürgermeister Backer hatte die Beine gestreckt, die Lider gesenkt und etliche Male das schmalrandige Lineal durch die Hände gezogen, als Wilm Henseler zu Wort kam.

»Mjinheer Bürgermeister,« begann er in seinem breiten niederrheinischen Idiom, »ich habe mir zu's Wort gemolden von wegen die Prozession un von wegen die Birken.«

»Hahaha!« unterbrach ihn der Schellfisch, wobei ein spöttisches Licht in den bleigrauen Augen aufblitzte.

»Mjinheer Aloys Pierentrecker,« donnerte ihm Wilm Henseler entgegen, »ich bitte darum, mich nich unterbrechen zu wollen. Ich bekümmere mich nich um Ihnen, also bekümmern Sie sich nich um mir – aber ich habe hier im Interesse der Allgemeinheit zu reden, indem ich mir vorgenommen habe, die Sache vom fachmännischen Standpunkte aus unter den richtigen Hobel zu bringen.«

»Dann man zu,« höhnte der Schellfisch.

» Silentium strictissimum!« fuhr der Bürgermeister dazwischen und warf mit einer unwirschen Geste das Lineal auf die Tischplatte, daß es einen Hopser machte und jenseits des grünen Tuches über die Kante voltigierte. »Mjinheer Bürgermeister,« dienerte Wilm, »ich bedanke mir für gütigen Zuspruch un melle mir weiter zu's Wort. Also – die Sache is die. – Am Sankt Marientage, den wir im gemeinschaftlichen Leben ›Mariä Heimsuchung‹ benennen, geht die große Prozession von hier nach Marienbaum akkurat in derselben Weise wie sie musmaßlich schon seit Methusalems Zeiten gegangen is – un ich bin der letzte in diesen von alters her geheiligten Räumen, der diesem christlichschönen Gebrauch einen unchristlichen Knüppel zwischen die Beine zu schieben die unmoralische Absicht zu haben vorhätte. Hingegen jedoch: ich bin als Bürger un christkatholischer Glaubensbekenner von jeher der Ansicht gewesen, daß es bei allen Dingen zwei Standpünkter gibt, von denen ich den einen den Minus-, den anderen den Maxusstandpunkt benenne. Un somit bin ich denn auf diese zwei Standpünkter gekommen.«

Der Herr Schreinermeister schwieg für einige Augenblicke, atmete tief auf und ließ den Blick zu Pittje Pittjewitt hinübergleiten, um an dessen Mienenspiel den Eindruck und die Schlagkraft der einleitenden Worte seiner Rede zu beurteilen.

Pittje Pittjewitt, ein Mann in den dreißiger Jahren, mit einem glattrasierten, gutmütigen Gesicht, aus dem Intelligenz und Schaffensfreude hervorleuchteten, war seines Zeichens Barbier, Leichenbitter und Schweinestecher im Kirchspiel, besaß die Liebe und das Vertrauen seiner Mitbürger in hohem Maße, trug an Sonn- und Feiertagen und bei sonst wichtigen Gelegenheiten einen Zylinder, führte eine mustergültige Wirtschaft und hatte sich im Laufe der Jahre eine Herzens- und sonstige Bildung zu eigen gemacht, wie man sie bei Männern seines Schlages und Standes für gewöhnlich nicht findet. Seinen blankgestriegelten Zylinder hatte er vor sich auf die Tischplatte gestellt, die Hände daneben gelegt und war mit sanftem Kopfnicken den Ausführungen seines Freundes und Altersgenossen Wilm Henseler gefolgt, eine Geste, die soviel bedeutete als: »Man weiter so, Wilm; der richtige Dreh ist gefunden – Du wirst die Sache schon machen!« und die den Redner denn auch bestärkte, sein oratorisches Rößlein in obiger Weise anzuspornen und voran zu tummeln.

»Hm!« räusperte sich Wilm und steckte dabei den breiten Zimmermannsdaumen zwischen den zweiten und dritten Knopf seiner rotgepunkteten Weste, »ein altes Sprichwort besagt: man soll dem Kaiser geben, was des Kaisers – un der Kirche, was der Kirche! – aber ich frage die Herren, was haben die städtischen Birken mit die Kirche zu wollen? – Meine Herren! ich frage Ihnen, was haben die Birken mit die Prozessione zu schaffen?«

»Oho!«

»Mjinheer Aloys Pierentrecker, ich spreche zu die übrigen Herren. Um Sie zu belernen, da muß einer kommen, der noch nich geboren is; musmaßlich ein zukünftiger Advokat bei die Assisen zu Kleve – un deshalb sind Sie mir Zichorienkaffee, obschon ich denselben trotz der schlechten Zeiten mit echtem vermische.«

»Bravo!«

Herr Pittje Pittjewitt hatte gerufen. Wilm winkte ihm dankbar zu, dann erhob er die Stimme. »Meine Herren!« begann er, »ich komme nu auf meine beiden Standpünkter zu sprechen. Den Minusstandpunkt lasse ich aber von vornherein fallen, weil er garnichts bedeutet zur heutigen Tagesordnung – aber den Maxusstandpunkt, den halte ich fest, un das sind die Birken, un diesen Maxusstandpunkt vertritt Herr Aloys Pierentrecker mitsamt seinen Konsorten, denn sie wollen allens haben, sie wollen die Birken haben, un da prostituier' ich dagegen, denn zuviel is zuviel bei die heutigen Zeiten, un da sag' ich nichts anders als: Hand von die Kiste!«

»Bravo!«

»Meine Herren! – ich frage Ihnen, wozu hat unser lieber Herrgott die Bäume un in diesem besonderen Falle die Birken gepflanzt un wachsen lassen? – Etwa dazu, um jung un dünn für die Prozessionen geschlagen zu werden, daß die weißgekleideten Jungfrauen auf die staubige Landstraße hindurch triumphieren? – Das is ja schön un pläsierlich mit anzusehn, aber ich sage vom fachmännischen Standpunkt nein un abermals nein, un unser lieber Herrgott weint Tränen über die verunglückten Bäumchen, denn er hat sie erschaffen, damit sie stark un proper gedeihen, um später als tüchtige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu Nutzholz verwendet zu werden, als da sind Wagner- un Stellmacherwerks, Lattierbäume an Deichseln, denn dieses Holz hat den richtigen Schwunk un die richtige Schwänke un bringt der städtischen Kasse Geld ein, un darum bin ich vom fachmännischen Standpunkt aus einfach gegen die Sache un prostituiere gegen den Antrag des Kirchenvorstandes. – Mjinheer Bürgermeister, ich melle gehorsamst – ich habe gesprochen.«

Mit dem Selbstgefühl eines Mannes, der sich bewußt ist, eine verzweifelte und verfahrene Sachlage kraft eigener Machtvollkommenheit wieder in Schick und Richte gebracht zu haben und nunmehr getrosten Mutes das weitere abwarten kann, ließ sich Herr Wilm Henseler in seinen Ratssessel zurück, griff in die Westentasche und brachte das für die Dauer der gehaltenen Rede emeritierte Priemchen wieder an die richtige Stelle.

»Ich danke,« sagte Herr Backer.

»Keine Ursache,« wehrte Wilm Henseler ab und zwinkerte selbstgefällig seinem Freunde Pittje Pittjewitt zu.

Ein feines Lächeln glitt über die Züge des Bürgermeisters. »Ich bitte nunmehr die Gegenpartei,« sagte er nach einiger Weile. »Herr Aloys Pierentrecker, der Antragsteller in besagter Angelegenheit, hat's Wort.«

»Nach mir?« höhnte der Schreinermeister vor sich hin. »Den Düwel noch mall – der Mensch is wohl drehkrank geworden.«

Aber da stand der Schellfisch schon, ließ seine verschwommenen Augen perlmuttern, legte die Hände zusammen und meinte: »Mein geehrter Herr Vorredner hat von Minus- und Maxusstandpunkten gesprochen und hierdurch gezeigt, daß er nur für liberale Ideen zu haben ist, aber für fromme und kirchliche Dinge kein Herz hat.«

»Mjinheer Pierentrecker ...!« warf Wilm Henseler energisch dazwischen. »In die Brusttücher von schöne Frauensmenscher zu kucken – das is wohl kirchlich Benehmen?!«

» Silentium!« rief der Bürgermeister mit Stentorstimme Wilm Henseler zu, »Herr Pierentrecker hat's Wort.«

»Und darum«, sprach dieser unbeirrt weiter, »ist es eine pure Notwendigkeit, daß gläubige und christkatholische Menschen wie wir sind dafür Sorge tragen, daß das kirchliche Fest, die heilige Prozession, in althergebrachter Weise mit Birken und allem was drum und dran hängt vor sich gehen kann, und zwar genau so, wie wir es in hiesiger Kirchengemeinde schon seit Spanjardszeiten gehalten. Aber uns mit liberalen Ideen zu kommen! Was sind überhaupt die Liberalen?! – Beispielsweise nur solche, die sich von Juden an der Nase herumführen lassen, die glauben, daß sich die Erde bewegt und die Sonne stillsteht, obgleich Herr Pastor Knaak, wie der Liboriusbote vermeldet, das konträre Gegenteil deutlich bewiesen hat – und solche, die meinen, vom Affen abzustammen und an die Auferstehung des Fleisches nicht glauben.«

»Mjinheer Bürgermeister,« gestikulierte Wilm Henseler in lebhafter Weise und mit allen Zeichen des Unwillens, »Mjinheer Bürgermeister, ich melle gehorsamst: er hat uns in öffentlicher Sitzung beschumpfen, un das brauchen wir uns als freidenkerische Männer nich gefallen zu lassen.«

Ein zustimmendes Gemurmel folgte dieser Auslassung Wilms, als auch schon der Vorsitzende eingriff und sagte: »Herr Referent, ich ersuche dringend darum, alle Spitzen beiseite zu lassen, die Gefühle und Überzeugungen Andersdenkender schonen und nur zur Sache reden zu wollen.«

Aloys nickte.

»Und darum,« ergänzte der Schellfisch, »stelle ich als Mitglied des Kirchenvorstandes nochmals den billigen und dringlichen Antrag, uns zur Ehre Gottes und der allerseligmachenden Jungfrau die angeforderten Maien unentgeltlich und zu Lasten der städtischen Kasse überkommen zu lassen. Auch bitten wir freundlichst um Gestellung der zuständigen Arbeiter und Deckung der Abfuhr. Der liebe Herrgott wird's lohnen.«

»Hm!« sagte eine höhnische Stimme.

»Wer sagte da ›Hm‹?!« meinte der Schellfisch.

Über das schwammige Gesicht lief der Abglanz verbissenen Grimmes, bei welcher Gelegenheit der kurze Hals vergebliche Anstrengungen machte, sich aus der schwarzen Krawatte und den schmalen Schultern zu recken.

»Ich!« warf Pittje dazwischen.

»Konnte mir's denken,« versetzte der Schellfisch. »Was so 'n waschechter Liberaler ist, der glaubt nicht an Herrgott und Teufel. Aber wenn die letzte Stunde gekommen, wenn das heißt: ins Gras beißen müssen, dann kriegt das einen andern Dreh und schreit nach dem Heiland, dem Herrn Kaplan und den Tröstungen der alleinseligmachenden Kirche; aber dann – basta!«

»Gottdomie noch mal!«

»Das ist ja ... da soll ja ...!« kam es aus dem Lager der Gegenparteiler.

»Pittje, wir ...?!« rief Wilm Henseler über den Ratstisch. »Wir ohne die Tröstungen der Kirche?! Mir un die übrigen Herren für Türken un Heiden zu halten ...! Der Kerl hat wohl den lieben Herrgott für sich allein in Pachtung genommen! – Mjinheer Bürgermeister, ich melle gehorsamst ...«

»Ich ersuche den Herrn Referenten noch einmal,« entgegnete dieser, »die Ansichten seiner Meinungsgegner respektieren zu wollen, widrigenfalls ich mich veranlaßt sehe, ihm kurzerhand das Wort zu entziehen.«

»Wie es Ihnen beliebt, Herr Bürgermeister,« sagte der Schellfisch.

Pittje blieb stumm wie ein Fisch, aber die Erregung kochte bereits bedrohlich in ihm. Im Unmut frisierte er mit der Rechten seinen feinen Zylinder gegen den Strich, daß er igelartig sich sträubte. Noch schluckte er den Ärger herunter; seine Stunde war noch nicht gekommen, aber sie kam bald.

Aloys Pierentrecker fuhr fort: »Na – denn mag es sein wie es sei, da beispielsweise der liebe Herrgott seine Sonne scheinen läßt über Gerechte und Ungerechte, und so bitte ich denn mit aufgehobenen Händen darum, den Antrag genehmigen zu wollen, zumal ein bedeutsamer Mensch sich erbötig gezeigt hat, den diesjährigen Prozessionsweg aus purem christlichen Wohlwollen und zur höheren Ehre Gottes mit seinem künstlerischen Wissen, beispielsweise mit Girlanden, Maibäumen und Ehrenpforten, auf das Sinnlichste und Allerfeinste zu schmücken.«

»Und wer ist dieser bedeutsame Mensch?« fragte Herr Backer.

»Er schreibt sich Uli Koßmann.« »Und was betreibt fraglicher Herr?«

»Er ist Künstler mit's Malen,« sagte der Schellfisch. »Er war mit dem Herrn Kaplan Nikodem Peerenboom auf Gaesdonk zusammen, dann hat er in Düsseldorf auf der Akademie gelernt, hat beispielsweise unter Ittenbach und Deger gearbeitet und soll nun die Gnadenmutter für die Kapelle in Marienbaum aus dem Handgelenk machen, denn er ist mittlerweile ein Koriphäer mit's Bildermalen geworden – und darum beantrage ich im Namen des Kirchenvorstandes tausend junge Maibäume, Holzung und Abfuhr auf Rechnung der Stadt, wie es immer gewesen, auf daß wir mit Anstand wallfahren können im Herrn und mit gläubigen Herzen. Die Sache muß heute entschieden werden, und ich hoffe zu Gott, daß wir keine Nebukadnezare und Holofernesse unter uns haben, die mit heidnischen Gebräuchen und Sitten es wagen sollten, gegen die gerechten Ansprüche hiesiger Kirchengemeinde zu opponieren. Dies ist mein Antrag.«

Der Schellfisch hatte sich niedergelassen und die Beine übereinander geschlenkert.

»Das geht noch über den Maxusstandpunkt!« schrie Wilm und schlug auf den Tisch, als Pittje sich räusperte und den Bürgermeister ansah.

»As't üh belieft, Mjinheer Bürgermeister,« rief der Schreinermeister noch einmal, »mein Freund un Stadtratkollege Herr Pittje Pittjewitt hat sich zu's Wort gemolden. Er scheint sich hören lassen zu wollen.«

»Genehmigt,« sagte Herr Backer und vergrub seine Nase in ein Aktenbündel, in dem er lächelnd herumblätterte. Pittje war aufgestanden.

»Meine Herren! – Mein lieber Freund und Bundesgenosse Herr Wilm Henseler hat die auf der Tagesordnung stehende Sache mit richtigem Blick und vom fachmännischen Standpunkt aus des näheren beleuchtet; ich aber spreche hier im Namen des städtischen Beutels und des Verschönerungsvereins, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Gegenden unseres engeren Vaterlandes nicht durch frevelhaften Holzschlag verschimpfieren zu lassen.«

»Bravo!« klang es ihm von verschiedenen Seiten entgegen.

Pittje fuhr fort. »Mitbürger!« begann er, »von der schimpflichen Unterstellung des Herrn Aloys Pierentrecker, indem er uns mit dem verruchten Holofernes in den nämlichen Topf geworfen hat, will ich hier nicht reden, obschon er wegen dieser infamen Verleumdung 'nen zölligen Hasel verdient hätte.«

»Bist mein Mann, Pittje!« winkte ihm Wilm zu.

»Herr Pittjewitt,« verwarnte der Bürgermeister, indem er den Kopf aus dem Aktenbündel hervorbrachte und die Hornbrille zurückschob, »Exkursionen auf das Gebiet der Polemik widerlaufen der gesetzlichen Ordnung.«

»Dann streiche ich den zölligen Hasel,« lenkte der Redner ein, »und erkläre hiermit klipp und klar und rundweg, daß meine Gesinnungsgenossen und ich den Antrag des Kirchenvorstandes nicht billigen können und absolutemang mit Haut und Haaren verwerfen. Wir leben in einer Stadtgemeinde, die's nicht übrig hat, aus dem vollen zu nehmen und ihren Besitzstand verkümmern zu lassen. Die Bäume sind jung, müssen noch in Saft und Kraft kommen, gen Himmel wachsen und ins Geld schießen, denn dafür sind sie gehegt und gepflegt und nicht aus dem Grunde, um als Kinder geschlagen zu werden und den Launen des Kirchenvorstandes und denen eines schiefgewickelten Malers zu dienen.«

»Sie dienen dem Herrgott!« rief der Schellfisch dazwischen.

»Sie dienen dem Popanz!« hielt ihm Pittje mit flammenden Blicken entgegen, »und wenn sie in ihrem jetzigen Zustand geschlagen werden, dann« – und Pittje streckte beide Arme gen Himmel – »dann, so wahr ich atme und lebe, ist's Baumfrevel, Gottesfrevel!«

Eine Totenstille ging für einige Augenblicke durch die Gemeinderatssitzung.

»Baumfrevel, Gottesfrevel!« wiederholte der Sprecher noch einmal, »und bevor ich hierzu Hand und Stimme hergebe, lege ich lieber mein Amt als Leichenbitter in die Hände des Kirchenvorstandes zurück und lasse mich streichen aus der Liste der ehrlichen Menschen. Gottes freie Natur, Luft, Licht und Bäume sind fürs Leben so nötig wie Wasser und Brotschnitten, und wer für das Wachsen und Gedeihen in der Natur kein Verständnis unter Schemischen und Weste trägt, wer keinen Sinn für das Herzerfreuliche hat, wenn's im Frühling grüngoldig von den schwanken Birkenzweigen herabrieselt, wenn sie mit ihren weißen Stämmen so prächtig im Busch stehn, schlank, kerzengrade und silbern und wie Mondlicht das Kleinholz durchleuchten – und wer dann noch den traurigen Mut hat, diese pflanzlichen Gottesgeschöpfe für ein Garnichts und noch dazu in ihrer zarten Kindheit mit der Axt über den Haufen zu werfen, der hält's mit den Duckmäusern und Dunkelmännern, der ist lebend ein Toter und gehört moralistisch auf den Kirchhof da hinten.«

»Den Düwel noch mal!« warf der Schreinermeister dazwischen, »das geht an die Nieren.«

»Bravo Pittje!« klang es ihm von einer anderen Seite entgegen.

»Ich danke den Herren! – Wir haben es nötig! – Hier in der Gegend, wo alles so flach ist wie 'n Teller und die Binnenseite der Hand, da soll man Bäume pflanzen und abermals pflanzen und zum drittenmal pflanzen und keinen einzigen Baum für Firlefanzereien aus dem geheiligten Tempel des Waldes rausschmeißen. Der Mensch soll wachsen und gedeihen, auf daß er dereinstmals etwas Ordentliches prästiert in der Welt, desgleichen der Baum, daß er was Liebliches sei für den menschlichen Anblick und den menschlichen Nießbrauch, wenn er groß und kräftig geworden, und darum, zugleich im Namen des Verschönerungsvereins, den ich die Ehre habe in Person zu vertreten...«

»Was ist überhaupt der Verschönerungsverein!« lachte der Schnittwarenhändler und ließ geringschätzig seine Schellfischaugen flanieren.

»Der Verschönerungsverein ist eine humanitäre Bestrebung...«

»Ach, was mit humanitärer Bestrebung!« schrie der Schellfisch dazwischen. »Der ganze Verein ist nichts weiter als ein Hümpel von Klugen, die sich zusammengetan haben, um bei Dores Küppers 'ne Bouteille mit Rotspon zu stechen, auf Gott und den Papst zu skandalen – von Lutherschen, Juden und Judengenossen, von Sally Süßkind und solchen, die Sonntags die heilige Messe versäumen und schlimmer sind wie die Ferkel, in welche der Teufel gefahren.«

Er sprach nicht weiter. Die Wut schnürte ihm die Krawatte zusammen.

»So 'n Rindvieh ...!«

Wilm Henseler hatte gerufen und sah sich veranlaßt, das Priemchen wieder in die Westentasche zu bringen, um in einer Gegenrede den groben Klotz mit einem ebenso groben Keil zu verbolzen.

»Ruhe, Ruhe...!«

Aloys Pierentrecker fuchtelte wie besessen mit seinen Armen über den Ratstisch und schnappte nach Luft.

»Zurücknehmen, zurücknehmen!«

»Kein Spänchen, kein Spänchen! – Gar nichts, gar nichts! – Mit der Bruderschaftsfahnenstange sollte man die ganze liberale Blase verhauen! – Heiliger Christus von Bentheim...!«

Aloys schlug in den Sessel zurück, umkrampfte die Lehnen und kroch mit dem Kopf in die Krawatte hinein, wie die Schnecke ins Schneckenhaus. Aber aus den bleigrauen Schellfischaugen waren Rattenaugen geworden. Giftig huschten sie von einem zum andern und blieben schließlich auf Pittjewitt haften, der, von seinen Freunden umringt, sich anschickte, das Schlußsiegel unter seine fulminante Rede zu drücken.

Die klassische Ruhe seines Gegners brachte Aloys Pierentrecker von neuem ins Rasen. »Ohne Prozession – keine Birken, ohne Birken – kein Glaube, ohne Glauben – die Hölle ...! – Halt, ich wollte sagen ... ich hab' mich versprochen ...! Heiliger Christus von Bentheim ...!«

»Aus!« sagte Pittje. »Jetzt hab' ich noch zu sprechen und sage noch einmal: alles der Kirche, was ihr rechtlich zukommt und zusteht, aber – Gottdomie noch mal! – in beantragter Sache bewilligen der Verschönerungsverein, meine Freunde und ich, als ehrliche Bürgersleute nicht Strunk und Stiel, weder Bast noch Borke und nicht soviel wie ein Mannsmensch mit beiden Fäusten zu grapsen vermag. Und wer gegen uns ist, der fiedert dem Satan die Bolzen! – Baumfrevel, Gottesfrevel! – Mitbürger! – ich verdefendiere die Sache und habe gesprochen.«

»Hurra!«

»Bravo!«

Ein wildes Durcheinander entstand.

Wilm Henseler hatte sein Priemchen in die Westentasche spediert.

»As't üh belieft, Mjinheer Bürgermeister,« ließ er sich los, »ich melle gehorsamst, daß nu die Birkenkiste fachmännisch furniert un geleimt is. Herr Pittje hat den richtigen Standpunkt vertreten, drum sage ich: Schluß – un bitte um Ballitage.«

Der Bürgermeister erhob sich, blickte sich um und stellte die Frage: »Meldet sich noch einer der Herren zum Wort?«

Keiner meldete sich.

»Na also,« triumphierte Wilm und trommelte den Dessauer Marsch auf den Ratstisch. Herr Bürgermeister Backer setzte die Klingel in Bewegung. »Ich bitte um Abstimmung. Den beiden mit Entschuldigung fehlenden Herren: Theodor Küppers und Doktor Heinrich Schnapp wird das Resultat derselben auf schriftlichem Wege vermittelt. Also – ich bitte.«

Weiße Zettel wurden verteilt und, nachdem sie beschrieben, durch den Polizeidiener Brill, der bislang mit seinen blankgeputzten Augen erwartungsvoll in einer Fensternische gestanden hatte, dem Vorsitzenden zu Händen gebracht.

Eine bedeutsame Stille ging um.

Der Bürgermeister zählte die Stimmen.

»Acht gegen sieben,« sagte er nach einiger Weile. »Somit sind die Birken abgelehnt. – Ich danke den Herren – und schließe die Sitzung.«

»Herrgott von Bentheim ...!«

Der Schellfisch war aus seinem brütenden Ingrimm gefahren.

»Das ist ja gerade,« schrie er mit verhaltener Stimme, »als wenn sie die heilige Prozession nackt herumlaufen ließen; das ist ja gerade, als wollten sie die Gebräuche der Kirche schimpfieren, das ist... Mord und Gewalttat...!«

Im Tumult gingen die ferneren Worte des fanatischen Schnittwarenhändlers verloren, er drang aber vor und hielt Pittje Pittjewitt die geballte Faust unter die Nase.

»Hand von's Gesichte!«

Er fühlte sich auf die Finger geschlagen.

»Melle gehorsamst, daß ich Ihnen gekloppt habe, un das, as't üh belieft, stecken Sie sich gefälligst als freundliches Andenken von mir hinter den Spiegel.«

»Das tu ich, das will ich!« schrie der Schellfisch seiner Sinne kaum mächtig, streckte zum zweiten die Faust, aber dieses Mal gegen den ganzen Stadtrat und drehte sich schrittweise der nahegelegenen Tür zu.

»Das wird angekreidet – die Herren!« rief er zwischen Tür und Angel zurück, »angekreidet – die Herren! – Das ist ja Rebellion, pure Rebellion gegen die Kirche, gegen Gott und die Menschheit! – Liberale Package...!«

»Fertig!« sagte Pittje, nahm seinen Zylinder und verließ, von seinem Freunde Wilm Henseler begleitet, das Rathaus.

Draußen machte sich unter den Leuten, die den Schluß der Sitzung abgewartet hatten und denen das Resultat der Sitzung bereits von dem wütigen Schellfisch in die Ohren geschrieen worden, eine zwiegeteilte Stimmung bemerkbar. Hie die Liberalen – hie die Kirchlichgesinnten! Tuschelnde Gruppen standen umher, bei denen der Nelken-Sally gestikulierend vorsprach und mit seiner ganzen Beredsamkeit eindrang, um der gegnerischen Stimmung das Wasser abzugraben und die Vorzüge der betätigten Ablehnung in die rechte Beleuchtung zu stellen.

»Bedenken die Herrens,« also machte er sich bei den einzelnen Gruppen zu schaffen, »welches Wohl für die Stadt, welche Fetierung for Sie, meine Herrens! – Sie sind fetiert, meine Herrens! – Bedenken Sie die frische Luft mang die liebreichen Birken, um drin zu gehn spaßieren am christlichen Schabbes. Un wenn's kommt ßu Ostern – nu, da ßiehen Sie hinaus mit Ihre Damens un Kinders un spielen ›Blindekuh‹ un ›Wechselt die Bäumchens‹ – nu, was weiß ich? – un singen ›Christ is erstanden!‹ un so was ... un das is doch liebreicher, as zwischen die toten Birken ßu gehn spaßieren nach Marienbaum mit dem Schweiß un die Transtiebeln un die fliegenden Fahnen. Bin ich meschugge die Herrens! – Un denn is Pfingsten gekommen – un da gehn wir hinaus mit's Kaffeegeschirr un die geschmierten Butterbröter ins Grüne un spielen auf die Ziehharmonika un tanzen un machen 'ne allgemeine Fetierung ßusammen – un denn ...«

Sally hatte plötzlich eine Kehrtwendung gemacht, schwenkte den Strohhut und schrie dabei aus Leibeskräften: »Fifat un abermals Fifat – un zum letztenmal Fifat!«

Pittje Pittjewitt war in diesem Augenblick auf den höchsten Stufen der Rathaustreppe erschienen, nahm den Hut ab und grüßte, wobei der Zylinder derart die fröhliche Junisonne zurückstrahlte, daß Sally die Hand vor die Augen schieben mußte, um nicht geblendet zu werden.

Wilm Henseler, der neben seinem Kampfgenossen stand, drückte diesem bewegt die Hand und meinte: »Pittje, Du hast Dir tapfer gehalten; das imposuiert mir.«

»Ich danke Dir, Wilm.«

»Nichts zu danken, wo Dir Sally Süßkind un die andern schon zujubilieren. Musmaßlich, wenn der Herr Bürgermeister Backer mal selig geworden, kannst Du Dir als neuer Bürgermeister aufstellen lassen. Sie können mir aufhängen, wenn Deine Ballitage nich durchgeht.«

Und der Nelken-Sally schrie: »Fifat un abermals Fifat!« ging Pittje entgegen und gratulierte ihm mit herzlichen Worten, trotz des Murrens der Andersdenkenden, im Namen des Verschönerungsvereins, für dessen Interesse er sich unsterblich gemacht habe.

»Das kommt Dir zu,« sagte Wilm, als Pittje lächelnd den auf ihn eindringenden Redeschwall von sich abzulenken versuchte. »Den Düwel noch mal! – un nu gehn wir, Du, Sally Süßkind un ich, zu Deiner Mutter, un erzählen ihr, wie Dein Maxusstandpunkt die anderen Standpünkter besiegt hat. – Komm, Pittje.«

Und die drei gingen über den Großen Markt der Kesselstraße entgegen. Blendendes Licht umgab sie und warf kurze Schatten auf die mit Gras durchwachsenen Steine. Ehrwürdig paradierte die alte, breitausgelegte Linde inmitten des Marktes. Bienengesumme war in den Zweigen, die, über und über mit rahmweißen Blüten bedeckt, sich anließen, als wäre sie mit flandrischen Spitzen umsponnen. Mohnblaue Tauben trippelten auf dem Pflaster umher, rucksten und pickten Körnchen um Körnchen. Mehlschwalben huschten vorüber, kreischten und lärmten und häkelten sich an ihre Nester fest, die fast alle spanischen Giebel des Marktes zahlreich bedeckten. Um den Kirchturm von Sankt Nikolai war Dohlengeflatter. –

»Meinetwegen können wir jetzt gehn,« sagte Wilm Henseler, als die Begrüßung mit der überglücklichen Frau Tamina Pittjewitt ihr Ende erreicht hatte. »Seien Sie stolz auf Ihrem Sohne, un behalten Sie ihm in Ehren, denn er hat sich wie ein König gehalten. – Pittje, heut abend bei Dores Küppers im hintern Stäbchen. Ich spendiere 'ne Bouteille ›Schwärt Water‹. Adjüskes.«

Dann gingen die beiden.

Aber Mutter Pittjewitt geleitete ihren Sohn in das Nebenzimmer, wo es noch traulicher und einsamer war wie in der Stube nach vorne. Sie sprachen lange zusammen und vergaßen darüber die Essenszeit. Und was dort zwischen Mutter und Sohn, bald lächelnd, bald unter Tränen verhandelt wurde, das war so heilig und schön, wie aus wahrhaft frommem Herzen ein Gebet in der Kirche und ist einschneidend für das ganze Leben des braven Pittje gewesen. Und die Hypothek kam darin vor und die drohende Auktion, der Puppenspieler und Kathie. Und die große Standuhr im Nebenzimmer tickte dazu, und die Leute, die im Geschäft Pittjewitts vorsprachen, um sich von ihm bedienen zu lassen, mußten unverrichteter Sache wieder fortgehen, und wenn sie auch riefen: »Komm vor!« – keine menschliche Seele erschien, und nur die Fliegen fummelten in der Geschäftsstube hemm, rieben ihre Gazeflügel an den Hinteren Beinen und freuten sich des warmen Sonnenscheins, der wohlig durch die blankgeputzten Fensterruten hereinflutete.

»Sonderbar!« meinten die Leute.

Erst als die vierte Mittagsstunde vom Rathaus ertönte, traten die beiden wieder in das vordere Zimmer – und zwar Hand in Hand und mit glücklichen Mienen. Und als Pittje bald darauf zum Fenster auf die ruhige Straße hinaussah, da mußte er lachen, lachen aus Herzensgrund, denn aus dem oberen Giebel des zweifenstrigen und mit grünangestrichenen Jalousien ausgestatteten kleinen Hauses wehte zweifältig Tuch: schwarz und weiß, und an dem Fahnenstangenknauf war ein mächtiger Strauß von Bandnelken gebunden.

Sally hatte zur Ehre des Tages geflaggt.


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