Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XV.
Das Wetter steigt

Der folgende Morgen zwinkerte herauf – und mit ihm war der Tag der Wisseler Kirmes gekommen. Als die frühen Spatzen alsdann in die geöffneten Fenster des Puppenspielerhäuschens hineinschilpten, fanden sie Jan Peerenboom schon in voller Tätigkeit, alert und mit dem Zusammenpacken seiner Utensilien beschäftigt. Die frische Morgenkühle saß ihm aber noch in den Fingerspitzen. Mit klammen Händen bastelte er an seinen Puppen herum, suchte die geeigneten aus seinem Vorrat heraus und verknüpfte sie mit einem schmalrandigen Tonnenreifen, der gerade das richtige Maß hatte, über den Kopf gestreift zu werden, um so auf den Schultern ruhen zu können.

»Fertig!«

Jan genehmigte sich einen herzhaften Schluck aus der Flasche.

»Nur um die Geister aufzufrischen,« meinte er zu seiner eigenen Rechtfertigung und mit kregelen Augen.

Er war bereits mit Schuhen, Strippen und den Großkarierten bekleidet. Jetzt kam das Sammetjackett an die Reihe. Mit bedeutsamer Geste fuhr er hinein, stellte sich vor den Spiegel, hinter dem eine Pfauenfeder steckte, strich sein Zickenbärtchen zurecht, stülpte sich den Hut auf den Kopf und wandte das Gesicht der halbgeöffneten Tür zu.

»Kaffee!« rief er mit befehlender Stimme.

Die Fensterscheiben begannen leise zu klirren. Die Bäckerjungen, die verschlafen von Haus zu Haus über die Straßen trotteten, mußten es hören, denn Jans Lungenmaterial hatte im Laufe der Jahrzehnte sich derart verstärkt, daß schon eine geringe Anstrengung es zum mächtigen Dröhnen brachte, genau wie eine Baßgeige an Klangfülle zunimmt, je länger auf dem alten Rumpelkasten gespielt wird.

»Schilp, schilp, schilp!«

Ein ausgefärbtes Spatzenmännchen hatte sich neugierig auf das Brett des geöffneten Fensters niedergelassen. Das kurze Schwänzchen gestelzt, mit hängenden Flügeln und in schiefer Richtung hüpfte es dort auf und nieder.

»Murrgen!« sagte Jan Peerenboom und winkte dem Spatz zu.

Er liebte die Spatzen, denn er sah in diesen Bummlern der Vogelwelt den Abglanz seines eigenen vagabundierenden Lebens.

Jan hatte einen grandiosen Tag vor sich. Bedeutende Triumphe standen in Aussicht; Lorbeerzweige schickten sich an, aus dem Boden zu wachsen, immer höher zu werden und sich schließlich in zierlichen Windungen um seine Künstlerstirne zu flechten – aber trotz allem, ihm war so, als sei ihm etwas in die Quere gekommen, das ihn am Arbeiten verhindern könnte. Unter ›Arbeiten‹ verstand Jan die Ausübung seines Berufes als Puppenspieler und nicht etwa die seines gewöhnlichen Handwerkes, ein Fachausdruck, dessen sich auch andere Künstler, wie Seiltänzer, Akrobaten und Feuerfresser bedienen. Jan legte auf diese Auslegung und Bedeutung des Wortes stets den größten Wert und sorgte ängstlich dafür, daß unter keinen Umständen eine andere Auffassung Platz greifen konnte. Drechslermeister?! – Na, ja – nicht übel für alltägliche Menschen, für gewöhnliche Sterbliche, das konnte schließlich jeder sein – aber er schätzte sich höher. Er war Künstler, ausübender und bildender Künstler: Ventriloquist, Puppenspieler und Dichter und daher berechtigt, obigen fachtechnischen Ausdruck auch für seine Tätigkeit in Anspruch zu nehmen.

Unruhig ging er im Zimmer auf und nieder; endlich sah er zum Fenster hinaus. Das konnte heute ein schöner Tag werden. Die Sonne stand noch tief hinter den Häusern, aber um die höchsten Ziegelpfannen spielte schon ihr verheißendes Glitzern und Blinken. So prächtig leuchtend wie Wäschebläue legte sich der Himmel darüber hin, und die riesigen Pappeln, die jenseits des Tores standen, tauchten ihre Blätterspitzen säuselnd in diese erquickende Frische.

Der Tag ließ sich gut an, aber Jan konnte sich nicht helfen: die richtige Künstlerstimmung, die er doch unbedingt nötig hatte, wollte noch immer nicht kommen. Die Verhaftung des Schellfisches regte ihn nicht weiter auf. Der Mann, der ihn so unmenschlich gepiesackt hatte, war seinem gerechten Schicksal verfallen. Wilm Henseler und der Herr Polizeidiener Brill schienen doch ausbündige und geschickte Kerle zu sein. Ihr ganzes Verhalten in der verzwickten Sache nötigte ihm seine Bewunderung ab. Allein – was war das gestern abend gewesen? Noch spät hatte die Haustür geklinkt; dann waren leise trippelnde Schritte gegangen. Himmel Sapperment noch einmal! – Jan Peerenboom ging eine pfundige Wachskerze auf. Er hatte ja noch mit Kathje ein fettes Suppenhühnchen zu pflücken – das war's ja.

»Kaffee ...!«

Jan gab sich einen energischen Ruck, stellte das rechte Bein vor und schob die Linke zwischen Sammetjacke und Weste. Wie ein Geront stand er auf seiner schofelen Dielung. Er wollte doch mal sehen, ob er nicht befehlender Herr in seinem eigenen Hause sei.

Kathje brachte den Kaffee.

Sie war barfüßig und nur mit Unterrock und einem groben Hemdchen bekleidet. Mit kurzer Begrüßung stellte sie das Geschirr auf die Anrichte.

»Murrgen,« sagte der Puppenspieler, gab sich einen zweiten Ruck, schlug die Augen nieder und meinte mit tragischer Pose: »Wo bist Du gestern abend gewesen?«

»Mit Pittje und Mutter, die ich ein Stück Wegs begleitet. Sie gingen nach Rees, wo es schlimm aussehn soll bei Mielke. Ihr Mann hat 'ne Überfahrung bekommen.«

»Weiß ich,« meinte der Puppenspieler, »der wird bald futü sein. – Wann kommt Pittje zurück?«

»Wenn's besser gehn sollte – heute; sonst im Laufe des morgigen Tages.«

»So?«

Mit einem schweren Seufzer schlug Jan Peerenboom die Augen auf.

»Schön; das kann bis gegen acht gewesen sein. Und dann?«

»Dann bin ich zu Threschen Olbers gegangen.«

»Dem Schneider Olbers die seine?«

»Ja.«

»Na – und?«

»Wir machen gemeinsam eine Arbeit für den Paramentenverein.«

»Und wenn dieser Pergamentenverein sich nun als Schwindel herausstellt,« donnerte Jan los, »und wenn sich diese Theresia Olbers, dem Schneider Olbers die seine, als männliches Individibum herausmustern sollte ...?! – Flausen, verdammte! – Wenn Dir das als die Tochter eines bedeutenden Künstlers passierte! – Himmel Sapperment noch einmal! – ich habe auch meine Ehre im Leibe, ich weiß was sich schickt, ich weiß was mir zusteht. Wir sind Pittje verpflichtet, wir sind Pittje und seiner großmütigen Seele bis in das innerste Mark unserer Knochen verpflichtet – und darum will ich kein Auge zutun, wenn dieser Schmierhahn von Maler sich in unser heiliges Familienglück hineindrängen wollte. Meinst Du, ich hätte auf meinen klaren Blicken gesessen? Kathje, paß Achtung! – Wenn der sich unterstände, in meinen häuslichen Tempel zu dringen – meine Freunde und ich, mit Einschluß von Sally Süßkind, wir schlagen diesem Tempelschänder die Knochen im Leibe zusammen. Aber ich kann's auch allein – und tu's, wenn ich diesen Kerl so nebenher mal unter meine Finger bekomme. Kathje, paß Achtung!«

Dabei machte Jan ein Gesicht, als wenn's seinetwegen gleich losgehen könnte.

»Das wollte ich mir nur vom Herzen heruntergebracht haben – und da ich's getan, bitte ich um eine dampfende Mokka.«

Mit einem fast trotzigen Mienenspiel hatte Kathje die Worte ihres Vaters über sich ergehen lassen. Dieser aber legte seine richterliche Würde beiseite, setzte seine jovialste Künstlervisage auf, schlürfte aus einem Unterschälchen den heißen Kaffee herunter und machte sich fertig; dann griff er nach seinem Knotenstock.

»Adjüs, Kathje. Halt Gott vor Augen und den Riegel verschlossen. Bis morgen. Ich mache auf Arbeit. Es lebe die Kunst! Addio!«

Und da ging der großzügige Mensch hin, der Mann mit dem Kindergemüt und dem heiligen Zorn auf der Stirne, der grotesk-pathetische Mime, in dessen Seele die heterogensten Gefühle sich mengten, der schnapsdurchtränkte Bombastikus mit dem grobknochigen Körper und vieler Liebe im Herzen, und ließ sich die frische Morgenluft um das würdige Künstlerhaupt wehen. Mit dem Tonnenreifen um den Hals, an dem Genoveva, ihr erlauchter Gemahl, der schlimme Golo und die übrigen Puppen einträchtig baumelten, schritt er zum Tor hinaus, folgte dem Wasser, das an seinem Hause vorbeifloß, und stolzierte geradeswegs auf die alten Wassermühlen zu, die blitzende Perlen verstäubten. Etliche Kinder, die zur Frühmesse gingen, riefen ihm nach.

»Jantje Klaas! – Jantje Klaas ...!«

»Murrgen!« donnerte ihnen der Puppenspieler zu und hob drohend den knorrigen Krückstock.

Kreischend stob die kleine Gesellschaft von dannen.

Jan war weiter gegangen. Er passierte das brausende Wehr, sah die Wasser spielen und toben, freute sich an dem dumpfen Gepolter, das grollend aus der Tiefe emporstieg, begrüßte noch den Müller, der in seiner verstaubten Jacke in der zweischlägigen Tür lehnte und ihm noch schnell versetzte, daß er heute mit Überstunden mahlen und arbeiten müsse, und dann betrat er den wuchtigen Leedeich, der von hier aus, den Kalkflack entlang, über den Fingerhutshof nach dem eine kleine Meile entfernt gelegenen Wissel führte.

Über dem ›Bowenholt‹, einem weitgedehnten Weidenkomplex, stand die Sonne als zinnoberrote Kugel. Weiße Nebel unterkrochen sie, schleppten sich wie kriechende Tiere an den Leedeich heran, tasteten sich an den weitausgelegten Flanken empor, um in aller Gemächlichkeit auf der ausgefahrenen Dammkrone weiter zu schleichen. Unmittelbar über derselben bewegte sich eine dichte Schicht quirliger Dämpfe.

Trotz der Morgenfrühe begann schon die Sonne empfindlich zu stechen. Auch behielt sie länger denn sonst ihre lohende Farbe. Geflügelte Kerfe rasten zu dieser ungewöhnlichen Zeit schon im tollen Zickzackfluge vorüber.

»Das zeigt auf Gewitter,« philosophierte Jan Peerenboom, »hoffentlich dauert's bis morgen.« Kräftig schritt er aus. Seine hohe Gestalt einte sich dem wallenden Nebel. – – –

Für Sally Süßkind war es eine lange und bange Nacht gewesen. Die Stunden schlichen wie Schnecken an warmen Sommertagen, wenn Wochen hindurch kein erquickender Regen gefallen. Zwischen Mitternacht und Morgengrauen lag eine ensetzliche Zeit, während welcher er sein Hirn zermarterte und über sein Leid und dasjenige seines unglücklichen Freundes nachgrübelte, welcher noch keine Ahnung von dem hatte, was sich langsam vorbereitete, den lebenskräftigen Boden ihm schließlich unter den Füßen zu nehmen. Erst gegen Morgen verflüchtigten sich seine qualvollen und wirren Ideen. Sie wurden abgelöst durch einen schweren und traumhaften Zustand, der ihn in eine Verfassung brachte, als wären seine Glieder bleiern geworden.

Sally Süßkind schlief bis tief in den Morgen hinein. Als er aufwachte, lag es ihm stumpf und dumpf in allen Gelenken; nur schwer konnte er seine Füße bewegen. Er rieb sich die Stirn; es kam ihm so vor, als wäre alles nur ein böses Träumen gewesen. Aber da standen sie schon, die schlimmen Gedanken, und sagten ihm, daß er sich im Unrecht befände, und daß sie kein Titelchen von dem, was er gestern durchlebt habe, zurücknehmen könnten; alles sei wirklich und wahrhaft geschehen.

Sally hoffte auf Pittje. Wie verstört rannte er in seinem Hause umher, so daß Säkchen Reiß schon auf die Vermutung kam, sein Prinzipal sähe Mäuse an allen Ecken und Kanten. Er versuchte ein Gespräch in die Wege zu leiten; Sally Süßkind achtete nicht darauf. »Gott, denn nich,« sagte Säkchen, setzte allerhand springende und tanzende Mäuschen auf ein Stückchen Papier und malte den Namen seiner Geliebten darüber. Gleichzeitig ließ er sich und seine Gefühle von einer einschmeichelnden Walzermelodie tragen, die er mit spitzen Lippen über Kontobuch, Pultdeckel und Rosalie Leifmann hinweg blies.

Die Dielen brannten Sally unter den Füßen.

Müde schleppte er sich bis an die Haustür und sah die Straße hinauf.

Wer wie er auch zusah, Pittje wollte noch immer nicht kommen; die Läden an dem kleinen Häuschen blieben verrammelt.

Er konnte seiner großen Angst und Beklemmung nicht mehr Herr werden, denn Mittagszeit war schon lange vorüber; zudem hatten die Stunden ihre Eigentümlichkeit als Schneckengänger verloren: sie waren schmiergelenkig geworden. Jeden Augenblick lärmte so eine unbequeme Viertelstunde über die Stadt hin.

Abermals begab sich Sally Süßkind zur Haustür. Immer dasselbe Bild: Pittjes Wohnung behielt die Augen geschlossen.

Drüben saß der Schneidermeister Olbers mit gekreuzten Beinen am geöffneten Fenster. Er hatte den Tisch bis dicht in die Nische gezogen und nähte. Flink ging ihm die Arbeit von statten. Diesen fragte er, ob er nicht wüßte, wann Pittje zurückkommen würde.

Der Schneider sah schief über die Brille.

»Heute vielleicht – kann aber auch morgen werden,« war die lakonische Antwort, »je nachdem was bei Mielke passiert ist.« Sally Süßkind war um kein Jota klüger geworden.

Erregt fragte er dann nach Jan Peerenboom – ob der vielleicht zu Hause wäre.

»Der?« lachte der Schneider. »Immer lustig – und auf Wisseler Kirmes.«

Da merkte Sally, daß jetzt die höchste Zeit zum Handeln gekommen. Sich mit Wilm Henseler ins Einvernehmen zu setzen, hielt er aus verschiedenen Gründen nicht für geraten. Er wußte: der liebe Herrgott hatte allerlei Kostgänger. Zu diesen gehörte auch Wilm. Er war ein aufbrausender und leidenschaftlicher Mann. In solchen Dingen verstand er keinen Spaß und würde aller Voraussicht nach in seinem heiligen Eifer mehr Unheil angerichtet, als gut gemacht haben. Also der ging nicht. Pittje unter den obwaltenden Umständen herbei zu zitieren, hatte seine noch größeren Bedenken. Wenn die traurige Angelegenheit in Rees nicht dazwischen gekommen wäre, dann unbedingt – aber so! – Was konnte inzwischen nicht alles bei Mielke passiert sein? – Das Unglück hätte sich vielleicht noch mehr in die Brust gelegt, wäre noch größer geworden. Blitzartig fuhr ihm alsdann der junge Kaplan durch den Kopf. Allein so schnell wie er gekommen, wurde auch dieser Gedanke verworfen. Jan Peerenboom ...?! Ja – der war der Vater von Kathje und als solcher verpflichtet ...

Sally atmete auf.

Der mußte heran, der mußte von Wissel herüber, der mußte wenigstens vor der Hand das Schlimmste verhüten; das übrige würde dann schon Pittje andern Tags besorgen. »Anspannen!« rief Sally Süßkind durch das geöffnete Fenster.

Außer seinen Funktionen als Kommis des Produktengeschäftes versah Säkchen Reiß die Ehrenämter eines Wagen-, Geschirr- und Proviantmeisters im Sally Süßkindschen Marstall. Das mehr Untergeordnete und Knechtische in Jettes Bedienung, wie Putzen, Striegeln und Ausmisten der englischen Box, wurde von dem Tagelöhner Stephan Nagels besorgt, der in der Nachbarschaft wohnte, täglich eine Stunde herüberkam, seines Amtes waltete, eine gewisse Selbständigkeit hatte, hinsichtlich wichtiger Entscheidungen aber stets von den Beschlüssen des Herrn Proviant- und Stallmeisters abhing.

Unter dessen Zuhilfenahme wurde der leichte Korbwagen aus der Remise gezogen, Jette geschirrt, die Bespannung vorgelegt und das stolze Gefährt auf die Straße geleitet.

In Tanzmeisterstellung und der ganzen Glorie ihrer Piephacken und Gallen harrte Jette auf ihren sanften Gebieter.

Mit einer Trauernelke zwischen den Zähnen bestieg dieser alsbald den Bock, ergriff die Zügel, schnalzte mit der Zunge und brachte Jettchen ins Traben.

Eins, zwei, drei – vier, fünf, sechs ...!

Höchlichst erstaunt und mit den Vermutungen und Orgien seiner ausschweifenden Phantasie nicht ins Reine kommend, folgte der Proviant-, Geschirr- und Stallmeister noch geraume Zeit dem fortrollenden Wagen, argwöhnte dieses und jenes und sah ihn schließlich bei einer Biegung der langen Kesselstraße verschwinden. Hierauf legte er die obigen Würden beiseite, ging ins Kontor zurück, schnellte sich auf den stattlichen Drehstuhl und schrumpfte wieder zu einem ganz kleinen Kommis des Sally Süßkindschen Produktengeschäftes zusammen.

Jette war inzwischen lustig weiter gehumpelt. Im fröhlichen Dreischlag bog sie bei den Wassermühlen ein, tanzmeisterte, daß es so eine Art hatte, an dem brausenden Wehr und den schlurfenden Rädern vorbei und trottete über den Leedeich gen Wissel.

Es schlug sechs Uhr vom dortigen Kirchturm, als Sally Süßkind vor einer Ausspannung hielt, sein Schimmelpferdchen einstellte und sich dann auf den Weg machte, den Puppenspieler zwischen den Buden und Kirmesgästen zu suchen.

Es war kein leichtes Geschäft. Als hätte der Kerl sich mit der Passauer Kunst und der magischen Kraft einer Tarnkappe umgeben, so schwer ließen sich die Spuren des großen Mannes entdecken. Vergebens bewegte sich Sally zwischen den fliegenden Zelten und Kramläden. Viertelstunde um Viertelstunde verrann. Die Häuserschatten streckten sich immer mehr in die Länge. Sally verfolgte ihr Wachsen mit ängstlichen Blicken. Ein fliegendes Jucken überlief ihn. Er war rein aus dem Häuschen, bis ihm schließlich der Polizeidiener des Ortes bedeutete: Jan Peerenboom wäre vielleicht im ›Blauen Anker‹ zu finden.

Als er dort eintrat, schlug ihm ein übelriechender Qualm und ein dumpfes Lärmen entgegen.

Ein sinniger Mensch spielte auf einer Ziehharmonika. Sonntäglich geputzte Männer und mehrere Weiber, deren Röcke fast bis zu den kräftigen Schenkeln aufwirbelten, tanzten zu den frechen Klängen, rissen allerhand zotige Witze und ließen die Schnapsflasche kreisen, wenn sie, ermattet vom Tanz, sich an einen mit feuchten Bier- und Schnapskringeln bedeckten Tisch drückten und sich wechselseitig unter Kreischen und Lachen auf den Schoß nahmen. Dem Harmonikaspieler, der verwahrlost und bammelbeinig auf einer gestülpten Tonne saß, gingen beim Erhaschen dieser derbwürzigen Reize die Augen über. Um seine innere Begierde nicht merken zu lassen, spielte er unter blödsinnigem Grinsen eine Polka nach der andern 'runter.

Während eines solchen Hopsers hatte Sally die Wirtschaft betreten.

Donnerwetter – die Weiberbeine und die fliegenden Röcke ...!

Niemand achtete auf ihn. Von dem Lärm und Dunst wurden seine Sinne benebelt.

Er ließ sich, um dem Wirt gegenüber nicht zwecklos zu erscheinen, einen doppelten Korn mit Kristallzucker geben; dann fragte er nach Jan Peerenboom.

»War hier,« sagte der Wirt, »aber, as't üh belieft, soeben 'rausgeschmissen, Mjinheer.«

Dabei zeigte er mit dem verunstalteten Stummeldaumen über den Rücken.

Sally ließ das Gläschen mit Fusel stehen und begab sich auf den hinteren Hofraum. Dort sah er noch eben, wie Jan Peerenboom mit dem Puppenkranz um den Hals einer verfallenen Scheune zutorkelte, das vermorschte Tor eintrat, hineinwankte und lallend ins Stroh fiel.

Alle viere von sich gestreckt, lag der edle Künstler nunmehr auf der minderwertigen Streu, hielt Genoveva im linken, Ritter Golo im rechten Arm, schwadronierte von seiner Yorkshire-Sau, von Pittje und Kathje, von seinem schuldenfreien Anwesen und seinen großen Triumphen, bis er endlich einem dröhnenden Schnarchen anheimfiel, vor dessen Ausdauer und Kraft sich die über ihm befindlichen Spinnwebnetze leise bewegten.

»Soeben 'rausgeschmissen, Mjinheer!«

Diese kurz zuvor von Seiten des vierschrötigen Wirtes ausgestoßenen Worte gellten dem armen Sally noch immer zu Ohren. Der Boden begann unter seinen Füßen bedenklich zu wanken.

»Herr Peerenboom, Herr Peerenboom ...!«

Der Puppenspieler regte und rührte sich nicht; nur sein Schnarchen ging wie eine Kreissäge, die sich stöhnend in eine knorrige Verdickung hineinfressen mußte.

»Sie müssen kommen, Sie müssen gleich kommen zu Hause!«

»Murrgen!« lallte Jan und orgelte weiter.

Sally nahm ihn beim Ärmel.

»Ich sage Ihnen: ßu spät is ßu spät. Ein schauderöses Unglück geschieht.«

»Wa ...?!«

»Ihre Ehre, Ihre leibliche Ehre! – Herr Peerenboom, Sie müssen gleich mit. Ull Koßmann ...!«

Der Name wirkte auf Jan wie die Posaune des jüngsten Gerichtes.

Gläsernen Blickes hob er sich von dem ärmlichen Lager, hielt sich mit den aufgestützten Ellbogen im Gleichgewicht und begann damit, seine Gedanken zu ordnen; aber er konnte das Knäuel nicht mehr finden. »Herr Süßkind, Sie sind ein göttlicher und edler Mensch ...!« stammelte er mit versteinerter Zunge. Er hatte den Namen ›Ull Koßmann‹ schon wieder vergessen.

»Sally,« lallte sein Mund, »ich weiß es: Sie und Pittje sind edle Menschen!«

»Aber, Herr Peerenboom, bedenken Sie im Namen des ewigen Gottes: ein Unglück geschieht! – Sie müssen ßu Hause, Sie müssen mit's Schimmelpferdchen ßu Hause.«

»Wa ...?! – Womit muß ich nach Hause?«

»Mit's Schimmelpferdchen ...!«

»Mit Jette?!«

»Herr Peerenboom, ich bitte Ihnen um alles in der Welt, bei Sie is 'ne Rebellionierung unter die Pfannen!«

»Mit Jette?!« brüllte der Puppenspieler. »Ich sollte mit der dreibeinigen Jette, mit dieser Himmelsziege nach Hause?! Ich, als schaffender und ausübender Künstler ...?! – Sally, Sie sind wohl des Satans!«

Er streckte energisch die Hand aus. »Nie ...!«

Sally rückte verzweifelt den Strohhut nach hinten.

»Herr Peerenboom, kommen Sie, sonst ist alles verloren. Ihre jungfräuliche Ehre! – Ull Koßmann un Kathje ...!«

»Ull Koßmann ...!« donnerte Jan auf.

Sein verfuselter Geist wurde aufnahmefähig.

»Ich würge den Hund, ich mache ihn kalt ...! – Ull Koßmann ...! – Himmel Sapperment noch einmal! – Meinen Knüppel ...! – Ich halte Gericht ab! – Ich komme ...!«

»'s Schimmelpferdchen wartet da draußen.« »Bleiben Sie mir mit Ihrer Jette vom Halse! – Niemals! Ich komme zu Fuß als schaffender Künstler und Richter ...!«

»Herr Peerenboom ...!« jammerte Sally und hob flehend die Hände.

»Ich komme,« lallte der Puppenspieler, »ich – komme – wenn's – Zeit – ist!«

Mit einem dumpfen Laut sank Jan auf die Streu zurück.

»Herr Peerenboom ...!«

»Und – halte – Gericht – ab! – Ull Koßmann ...!«

Die letzten Worte verhallten. Sie wurden abgelöst von einem energischen Schnarchen.

Jan Peerenboom lag starr und steif wie ein Stock und regte kein Glied mehr.

Sally stieß ihn an, rüttelte ihn: außer einem taktmäßigen Sägen waren alle Lebenszeichen wie verdorrt und abgestorben.

Sally beschwor ihn; mit den heiligsten Worten drang er auf ihn ein, mußte aber leider zur Erkenntnis kommen, daß er hier vor tauben Ohren gepredigt hatte.

Da verließ er die Scheune.

Ziel- und zwecklos und von einer grimmigen Angst gefaßt, lief er zwischen den Kirmesbuden umher. Sein Aussehen mußte verstört sein, denn die Leute, an denen er vorbeikam, stießen sich an und sahen ihm kopfschüttelnd nach.

Nach einer halben Stunde trabte er zur Scheune zurück. Dort hatte sich nicht vieles geändert.

Mit der urwüchsigen Ruhe eines Sackes mit Sägemulm, dessen Füllung geschnittenen Sargbrettern entstammte, streckte sich Jan noch immer aus den trockenen Strohhalmen.

Er schnarchte und schlief fester denn zuvor.

»Herr Peerenboom ...!«

Alles blieb wie es war.

»Ich bitte un beschwöre Ihnen im Namen des allmächtigen Gottes!«

Keine Antwort erfolgte.

»Der schläft sich in seine eigene Schande hinein!« jammerte Sally. »Die größte Pleite kommt über dem Manne! Schlafenden Auges, unschuldig als ein Lamm, ruiniert er sich un seine ganze Mischpoke! Ich kann nich mehr helfen. Die Sache is sefel.«

Er wagte noch einen letzten Versuch.

»Herr Peerenboom, 's Schimmelpferdchen is draußen!«

Jan schlug die Augen auf.

»Die Jette?« lallte er mit radebrechender Zunge. »Raus ...!«

Er legte sich auf die andere Seite und arbeitete weiter.

Da begab sich Sally zur Ausspannung, ließ Jette einschirren, drückte dem Hausburschen ein Trinkgeld in die Hand und karriolte von dannen.

Die Kirmesleute lachten über sein Schimmelpferdchen und ihn, als er davonfuhr.

Da war es ihm so, als kutschiere er mit einem ganzen Sack voll falscher Kastemännchen nach Hause. Sally Süßkind hatte den Glauben an sich, an Pittje und die gerechte Sache verloren.

Jan Peerenboom hatte in der heutigen Frühe und bei seinem Auszug zu Recht prophezeit, denn als Sally in seinem Korbwägelchen Wissel verließ und die Krone des Leedeichs gewonnen hatte, stand eine eigentümliche Wolkenbildung unbeweglich jenseits des Rheines.

Die bereits steigende Abenddämmerung gab ihr eine unheimliche Farbe. Um die schiefergraue Masse legte sich eine schwefelgelbe Verbrämung. Drohend und wie ein werdendes Unheil lauernd lag sie am tiefen Himmel. Sie überlegte noch, ob sie über den Rhein kriechen sollte. Sie hatte das Aussehn eines gewaltigen Kastanienblattes. Fünf starre, unbewegliche Finger zeigten nach Westen. Zuweilen zwinkerte es in den tieferen Schichten. Es ließ sich an, als wenn ein heimtückischer Mensch verschläfert ins Licht blinzelte. Noch war kein Grollen und Murren zu hören; nur eine drückende Schwüle kam hinkenden Fußes über den Rheinstrom gegangen. Der Kalkflack zeigte eine bleigraue Tönung. Verdächtige Hütchen tanzten hin und wieder auf dem schleichenden Wasser. Kalmus und Schwertel flüsterten bedenklich an den ausgefressenen Ufern. Wie eine bange Ahnung ging es über die niederrheinische Landschaft.

Bei den Wassermühlen stand der alte Müller mit seinen Burschen und Knechten. Sie beobachteten die graue Wetterwand, die sich noch immer nicht rückte und regte.

Als Sally vorbeikam, streckte der Mühlenbesitzer die Hand aus und meinte: »Buschur, Sally! – Das kommt noch vor Nacht herauf. Da sitzt Hagel so groß wie 'ne Faust drin. Mir kann's egal sein; ich hab' meine Kontrakte.«

Mit jovialer Zuversicht schlug er sich auf die Jacke, daß der Mehlstaub emporflog.

»Das steht noch, das kommt nich, das kann nich herüber ...«

»Prosit die Mahlzeit!« versetzte der Müller. »Um Mitternacht haben wir die ganze Bescherung. Ich kenne den Rummel.«

Er deutete in Richtung einer großen Pappel, die neben dem brausenden Wehr Wurzel gefaßt hatte und mit ihren sparrigen Zweigen die alten Ziegelpfannen bedeckte.

Die unruhigen Blätter zeigten ihre silberlichten, unteren Flächen.

»Das ist das sicherste Zeichen,« orakelte der Mühlenbesitzer. »Donner und Hagel! – Mir kann's egal sein; aber das kloppt Strunk und Stiel in den Boden.«

»Gott behüt' mir!«

»Buschur, Sally!«

Die Müllerknechte lachten brutal, als Sally davon fuhr.

Zu Hause angekommen, lief ihm Säkchen Reiß in die Finger.

»Das Reiste,« meinte der Kommis und überreichte ihm das Niederrheinische Kreisblatt. Mit Rotstift hatte er die Nachrichten über die Ernteaussichten umrandet. Einzelne Stellen waren dick unterstrichen.

»Trostlos,« lispelte der Verehrer von Rosalie Leifmann. Mäusefraß und Mäuseplage in allen Teilen des Kreises! – Auch aus der Kölner Gegend kamen gleiche Berichte.

Willenlos beugte sich Sally unter der Wucht des Geschickes.

Die Tränen wollten ihm kommen. Er verbiß sie. Das eigene Leid kam ihm nicht mehr so groß vor wie dasjenige Pittjes. Er mußte ein Letztes versuchen.

Nachdem Jette eingestallt war, rannte er zur Peerenboomschen Wohnung.

Er pochte an die vordere Haustür; dann versuchte er von der Gartenseite her in die Wohnung zu dringen.

Aber wie er auch pochen und rütteln mochte – keine menschliche Stimme ließ sich vernehmen, und die Türen blieben verschlossen.

Jetzt war alles verloren. In seiner Verzweiflung lief er auf die Landstraße, die in Richtung auf das jenseits des Rheines gelegene Rees führte.

Dämmerungen gingen über die Erde. – – –

Drüben in Wissel war Jan Peerenboom inzwischen so halbwegs zur Besinnung gekommen.

Taumelnd hob er sich auf.

»Wo bin ich? – Wer war das? – Ha, die verdammte Geschichte ...!«

Das Stroh raschelte unter seinen Füßen.

Jan reckte sich auf und rieb sich die Augen.

»Ull Koßmann ...! – Himmel Sapperment noch einmal! – Meine Ehre! – Knüppel 'raus! – Ich komme als Richter! – Ull Koßmann ...!« Unter heiserem Lachen torkelte er dem Leedeich entgegen.

Plumps! – da lag er ...

Schimpfend hob er sich auf.

Jetzt hatte er Wissel passiert.

Unbeweglich stand die Wetterwand jenseits des Rheines; nur das unheimliche Züngeln in derselben war stärker geworden.


 << zurück weiter >>