Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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X.
Zwischen den Wiesen

Kathje und Pittje hatten sich auf den Heimweg begeben, vermieden aber die staubige Landstraße und zogen durch die schmalen Gänge der Kornfelder, durch welche der Ley-Bach seine spiegelklare Fläche zu Tal schob, dem kleinen niederrheinischen Flecken entgegen.

Tief am westlichen Himmel stand das Abendrot. Darüber dehnte sich ein mattgrüner Lichtschein, gleichsam aus schillerndem Blattgold geschlagen. Es war so, als ging von ihm eine kühlende Frische aus, ein erquickender Odem, der die ganze Landschaft belebte.

Die drückende Schwüle hatte merklich nachgelassen. Leise wogten die Ährenfelder im Wind, auf deren Halmen die letzten Sonnenlichter wie blitzende Funken verstäubten. Ganz allmählich war das Tagesgestirn untergegangen, ohne jedoch die den Sommertagen eigentümliche Helle der Dämmerstunden mit sich zu nehmen. Noch geraume Zeit schwebte sie dahin wie auf linden Flügeln getragen.

Und nun war es Abend geworden, aber alle Gegenstände waren noch deutlich erkennbar. Von den weitgelegenen Gehöften, die langgestreckt aus den Getreidefeldern auftauchten, klang verlorenes Hundegebell; ab und zu ließ sich das Holpern eines Wagens vernehmen; an den Feldrainen zwischen den umkrusteten Schollen zirpten die Grillen. Mit gespreizten Beinen dicht bei ihren Gängen sitzend, den gerundeten Kopf in den quadratischen Vorderrücken gezogen, wetzten sie ihre Flügeldecken mit ungemeiner Hast gegeneinander. Jetzt verstummte die eine und war blitzschnell in ihre Röhre gefahren. Andere folgten, aber neue taten sich auf und begannen zum Preise ihrer Weibchen zu geigen. Hüben und drüben waren die Grillen beschäftigt – ein Schrillen und Zirpen! Die stumme Erde hatte ungezählte Stimmchen bekommen. Und diese Stimmchen! – sie zitterten zwischen den Halmen, lockten aus Gräsern und Schollen, duckten sich, flackerten auf, klangen bald ferner, bald näher, um zeitweilig abzusterben und dann ganz zu verklingen. Und wie sie verhallten, da wurden sie von den wiegenden Halmen abgelöst, die lispelnd weiter erzählten, was ihnen die kleinen Musikanten verkündet. Es war ein monotones Lispeln und Weitererzählen, aber gerade hierin fühlte sich die Abendstille behaglich, die die Schuhe ausgezogen hatte, um lautlos über Gottes weite Erde zu gleiten. Langsamen Fluges ruderten schwarze Vögel vorüber. Sie nahmen sich Zeit und schaukelten in behäbiger Weise den ferngelegenen Baumgruppen zu, die wie ausgeschnittene Schattenrisse auf der Fläche ruhten, wo die Sonne, wenn auch untergegangen, noch immer ihre wechselnden Farbenspiele erneute – eine Folie, so feingestimmt und abgetönt, wie sie nur den Bildern alter Meister zu eigen. Dort schien der Himmel geöffnet und die Pforte des Paradieses zu sein, und die Seele brauchte nur die Flügel zu spannen, um einzugehen in die Halle des ewigen Friedens.

Das am Firmament noch vereinzelt ausgestreute Sonnengold vergilbte allmählich. Violette Schatten fielen über die Erde, und die Stille in der Natur wurde noch fühlbarer denn vorhin. Leise glitt ihre liebevolle Hand über die wiegenden Halme.

Glücklich und mit leisem Geplauder waren Kathje und Pittje bereits seit einer Stunde gegangen. Jetzt hatten sie den Rand der Getreidefelder erreicht; als sie rückwärts schauten, da war Marienbaum mit seinen Fahnen und Wundern und seinem Glockengebimmel im blauen Nebel versunken. Nur die Silhouette einer schwarzen Baumgruppe, die kugelförmig am fernen Horizont lag, zeigte die Stelle an, wo die Gnadenkapelle zu suchen war. Wie ein gekrümmtes Untier mit mächtigem Buckel ruhte die dunkle Masse am Boden.

Kathje spürte einen empfindlichen Druck in der Herzgegend.

Sie erinnerte sich der verflossenen Stunden; sie hatte das unbestimmte Gefühl, als wenn die dunkle Masse Odem bekäme, langsam vorwärts kröche – und zwei leuchtende Augen ...

»Pittje!« sagte sie mit fliegendem Atem.

»Was hast Du?«

Kathje streckte ängstlich die Hand aus.

»Dahinten – die brennenden Lichter ...«

»Wo denn?«

»In den Bäumen dahinten!« »Du!« lachte Pittje, »Du siehst schon Gespenster, und die Sonne ist kaum untergegangen.«

Er verstand sie nicht und konnte auch nicht verstehen, was ihre Seele bewegte. Er legte den Arm um ihre Schulter und versuchte sie an sich zu ziehen. Ruhig ließ es Kathje geschehn, aber ihre Augen blickten starr und unentwegt nach den Schattenrissen, in denen sie die brennenden Lichter zu sehen wähnte.

Ein unbehagliches Schauern ging über sie hin.

»Die Lichter ... ! – Und jetzt: hörst Du?«

»Ach, die!« meinte Pittje und deutete in Richtung der Landstraße, die jenseits der Ley an der niederen Hügellehne vorbeiführte.

Von vielen verworrenen Stimmen klang es herüber.

»Sie kommen zurück,« flüsterte Pittje.

Die intensive Dämmerhelle des Sommerabends war noch klar genug, selbst Einzelheiten unterscheiden zu lassen. Fahnen und betende Menschen! Heerwurmartig kamen die frommen Pilger gezogen. Die werdende Nacht gab alles in anderen Formen und Farben

»Herr, erbarme Dich unser!«

»Christe, erbarme Dich unser!«

Wie kalkige Flecke verteilten sich die weißen Chorgewänder der Geistlichen in der weiter hastenden Menge, die es eiliger hatte denn zuvor, als sie in der brütenden Sonne schleppenden Fußes die Gnadenkapelle erstrebte. Auch in die Banner und Kirchenfahnen war ein anderes Leben gekommen. Heute früh noch schlaff und mit lechzendem Tuch durch Dunst und Staub getragen, wehten sie jetzt fröhlich im Wind und gaben sich den Anschein, als hätten sie im Verein mit ihren Trägern in den Marienbaumer Destillen mit der Schnapsbouteille geäugelt. In fast gleichen Intervallen postiert, knatterten sie lustig über die schwarzen Gelenke des sich unaufhaltsam vorwärtsschiebenden Wurmes. Es knisterte und raschelte unter den schweren Schuhen, wie das Getriebe in einem Ameisenhaufen, nur verstärkter und dumpfer. Die Ruhe des Abends trug jeden Laut markant und charakteristisch über das Wiesengelände. Die Stimmen der Vorbeter lösten sich weit hörbar aus dem plärrenden Chorus. Diejenige Pierentreckers übertönte sie alle. Jedes einzelne Wort, wenn auch mit lallender Zunge vorgebracht, wurde mit umrissener Schärfe weitergetragen. Es klang wie der blecherne Ton einer Kindertrompete.

»Herr, erbarme Dich unser!«

Pittje Pittjewitt hatte die Hand des horchenden Mädchens ergriffen.

»Gottdomie noch mal!« sprach er mit bitterem Anflug, »der kann noch beten – und geht bald an den geschändeten Birken vorüber?!«

Lächelnd folgte Kathje den ziehenden Menschen.

Schon waren die ersten um die nächste Krümmung gebogen, als eine dichte Staubwolke an den schwarzen Reihen vorbeikariolte. Die Leute wichen zurück und ließen dieselbe passieren. Wirbelnd folgte ein weißlicher Streifen. Aus der vorwärts rollenden Staubwolke kam das Geratter und Stoßen von Rädern. Jetzt wurde ein Klepper sichtbar, ein Schäschen mit zurückgeschlagenem Lederverdeck – und in demselben hockte eine schwarze Gestalt: Nikodem Peerenboom. »Da!« flüsterte Kathje.

Wie ein Schattenbild rollte der leichte Wagen vorüber.

»Mater amata
Intemerata,
Ora, ora pro nobis!«

Mit kräftigen Stimmen setzten die Nachzügler ein. Sie taten es mit einer fast jovialen Betonung. Von der niedrigen Berglehne hallte das Echo zurück.

»Komm!« sagte Pittje.

Kathje haftete noch immer auf der nämlichen Stelle. Langsam wandte sie den Kopf in Richtung von Marienbaum. Ihre Nasenflügel hatten sich über den feingeschnittenen Lippen geöffnet. Seltsam blickten ihre starren Augen in die sich allgemach verschleiernde Ferne. Sie stierte ins Leere. Die dunkle Baumgruppe hatte sich hinter einem Flor von blauen Dünsten verloren.

»Das liegt hinter uns,« meinte Pittje, »und es ist gut, daß es so gekommen ist. Nicht da – sondern dort haben wir das Glück unseres späteren Lebens zu suchen.«

Mit der Rechten deutete er auf seine engere Heimat, die jenseits der Wiesen lag.

Kathje tastete nach seiner Hand und schmiegte sich an ihn. Da legte Pittje seinen Arm um sie her; erhobenen Hauptes schritten die beiden durch die träumenden Wiesen.

Die Nacht war noch nicht ganz dunkel geworden. Nur ganz allmählich kroch die Dämmerung in die Schatten des Abends hinein, die nunmehr auch den fahlen Streifen im tiefen Westen verhüllten. Der Himmel nahm indessen das hippokratische Gesicht eines Sterbenden an. Die Sterne waren noch nicht stark genug, ihr sanftes Licht geltend zu machen. Bleich und unter matten Zuckungen versuchten sie ihre kränkliche Helle in den Weltraum zu schieben, allein, wie sie sich auch abmühten, sie brachten nur ein schwaches Blinzeln und Zwinkern zustande. Sie wurden gleichsam eingesogen von der Blässe des Himmels.

Die Prozession war voran gehastet. Man hörte und sah nichts mehr von ihr. Statt dessen begannen die seichten Wasser des Ley-Baches zu plaudern. Schwatzhaft plätscherten sie durch das schlummernde Gelände. Ab und zu tauchte eine Kappweide auf. Wie Kobolde mit ungeheuren Köpfen gespensterten sie durch die Stille der Nacht hin. Einige von ihnen hatten sich vornüber gelegt; sie schienen Lust zu haben, über die grasige Fläche zu purzeln. In ihren langen Ruten spielte der Nachtwind. Von der jenseits der Landstraße sich streckenden Hügellehne winkten dunkle Konturen. Vereinzelte Punkte schwebten dort auf und nieder. Es waren Dämmerungsvögel, die mit leisem Schwirren ob den Bäumen revierten. Etliche von ihnen überflogen das weiße Band der Chaussee, um bald darauf wieder in den Bereich der ragenden Schatten zu schwenken. Hinter den dunklen Konturen zitterte eine eigentümliche, immer stärker werdende Helle. Der Vollmond war im Aufstieg begriffen. Mit seinem Kommen gesellte sich der Tau den durstigen Gräsern.

Wie auf weichen Matten waren die beiden einsamen Menschen mit gedämpften Schritten weiter gegangen. Sie hatten von der Zukunft gesprochen, von ihrem künftigen Haushalt, von Jan Peerenboom, Mutter Pittjewitt und Nikodem, dessen Mission Kathje mit Bangen erfüllte. Jetzt schritten sie schweigend nebeneinander. War etwas zwischen sie getreten, was sie nicht aussprechen wollten, oder ließen sie sich von dem einschmeichelnden Wesen und Walten der Sommernacht umschauern, die nicht müde wurde, in sonderbaren Lauten zu tönen? Bald war es ein Wetzen und Schleifen, bald ein Geigen und Zirpen, ein fernes Glucksen und Rufen, was die endlose Wiesenfläche belebte. Träumende Vögel, wache Insekten und flüsternde Gräser ...! – Leise redete die sanftgedachte Berglehne mit ihren Bäumen und Sträuchern dazwischen.

Von den huschenden Schatten löste sich einer und schwebte über den Ley-Bach. Es war ein eigentümliches Fliegen und Ziehen, ein sanftes Kreisen und Rütteln; es schien eine Eule zu sein und doch keine Eule – aber ein Vogel mit schwalbenartigem Schwanken und Gleiten und von düsterer Färbung umzirkte die beiden. Er hatte etwas Gespensterhaftes in seiner Bewegung.

Pittje blieb stehen und hielt Kathje zurück.

»Siehst Du?«

Regungslos stand er jetzt über Kathje und Pittje; mit einem leisen Klatschen der Flügel hob er sich dann und flog gegen den Himmel, gleichsam als würde ein leichter Gegenstand vom Winde unversehens nach oben getragen.

»Örrrrr!«

Mit nadelscharfem Surren und Schwirren fiel er wieder zu Boden, hob sich von neuem, schwenkte und schwankte, hielt sich schwimmend in der ruhigen Luft, ließ wieder seine klagende Stimme vernehmen, glitt dann ab und geisterte lautlos und wie von unsichtbaren Händen getragen ins Ungewisse. Wie ein Schatten gekommen, auf linden Eulenflügeln schaukelnd und schwankend, war der Dämmervogel auch wie ein rascher Schatten verschwunden. Keiner hatte gesehen, wohin er geflogen.

»Ah!« machte Kathje. Ängstlich duckte sie den Kopf an die Brust des Geliebten.

»Der Geißmelker reviert,« erwiderte dieser. »Das bedeutet miserable Zeiten, wie die alten Leute behaupten,« und nun erzählte er ihr im Weitergehen von dem Wesen und den Eigentümlichkeiten dieses Vogels, von seinen Flugkünsten und der Art und Weise sein Junges zu atzen, denn Pittje war bewandert in derlei Sachen und hatte Fühlung genommen mit allem, was in der Natur webte und lebte. Der schlichte und einfache Mann wurde redegewandt, wenn er hierauf zu sprechen kam, und er freute sich, bei Kathje gleiche Saiten anzuschlagen und sie klingen zu lassen.

Und Kathje?

Wieder hatte das alte Brüten sich ihrer bemächtigt. Sie hörte nur scheinbar auf die ruhigen Auslassungen ihres Geliebten. Die Füße schleppten; ihre Lippen schlossen sich krampfhaft zusammen. Weltvergessen ging sie dahin. Sie hatte keinen Sinn für dasjenige, was in liebevoll gesprochenen Worten auf sie eindrang. Sie glaubte eine andere Stimme zu hören. Und diese Stimme wurde lauter und lauter. Sie hatte große Gewalt und versuchte ihre Schritte zu hemmen. Wie sie es schon früher getan, wandte Kathje das Haupt und sah in die Ferne, wo der Marienzauber versunken war mit all seinen Litaneien und Lichtern. Die ersten Strahlen des Mondes hatten sich aufgetan und legten sich über die dahingegangenen Wunder von Marienbaum.

Kathje war seltsam erregt.

Jetzt hielt sie den Fuß an. Ein Rausch ging über sie hin.

Pittje mußte die Veränderung fühlen.

»Was hast Du?« sprach er mit einer fast rauhen Betonung.

Sie rührte sich nicht; nur ein leises Zittern durchfuhr ihren Körper.

»Antworte,« sprach er noch einmal. »Du sollst doch leben für mich.«

Sein Blick suchte den ihren.

»Leben für Dich?« fragte sie tonlos.

Sie sah ihn stumm an.

»Kathje!«

Er hatte ihre Schultern genommen. »Kathje, um Gottes willen, was ist Dir?«

»Mir!«

Sie schüttelte leise den Kopf, ihre Finger verschränkten sich, und das todbleiche Gesicht verlängerte sich zu einem schmerzlichen Lächeln; dann schluchzte sie auf.

»O Du, Du, Du ...!« sagte Pittje. »Du weißt doch, wie lieb ich Dich habe. Du weißt doch ... und jetzt...?«

»Pittje...!«

Sie hielt sich nicht länger. Plötzlich laut aufschreiend umschlang sie ihn mit kräftigen Armen. »Ich bin ja bei Dir! – Aber dahinten – Pittje, dahinten! – Die brennenden Augen! – Halte mich fest, halte mich fest! – Mir ist so, als wenn jemand käme, still, leise, geräuschlos ... als wenn er mich haben wollte, als wenn da noch andere kämen, um uns auseinander zu reißen. Pittje, ich weiß nicht, aber mir ist so...«

Und sie klammerte sich an ihn, wütend und fast in Ekstase, während ihr Kopf eine Drehung machte genau in Richtung des untergetauchten Gnadenortes, der so eng mit ihrem Denken und Fühlen verknüpft war. Sie hatte etwas Wirres im Gesicht; ihre Blicke flackerten wie unter dem Einfluß einer tiefen Erregung.

»Ich will ja alles, ich tue ja alles ...«

»Pittje, das weiß ich, das weiß ich! – Aber die Angst, die Angst! – Sie kommen, sie reißen mich auf, sie schreien nach mir...! – Die entsetzlichen Augen! – Pittje, hilf mir, erbarme Dich meiner ...!«

Und sie drückte sich an ihn immer enger und enger, als müßte sie Schutz bei ihm suchen, als müßte sie sich flüchten vor einer zwingenden Gewalt, die nicht mehr lassen wollte und nicht mehr lassen konnte von ihr.

Er wollte sprechen, ihr zureden, aber ein plötzlicher Schrei verschloß ihm den Mund. Mit wilder Inbrunst hatte sie ihre Arme um seinen Nacken geschlungen.

»Halte mich fest, halte mich fest ...!«

Sie hatte seinen Kopf niedergezogen. Ihre Stimme schlug um. Das Qualvolle war aus derselben gewichen.

»So bin ich glücklich, Pittje, so bin ich glücklich!«

Mit verzehrendem Kuß hatte sie seine Lippen gefunden. Kathje hatte sich plötzlich gewandelt. »O Du, Du!« hauchte sie mit ersterbender Stimme, dann öffnete sie den Mund, um ihn nicht mehr zu schließen.

»Du sollst mich halten, halten für immer!«

»Kathje, das tu' ich, das tu' ich ...!«

Ihr Körper erstarrte in seinen Armen.

»Ich habe Dich ja so lieb, Pittje, so lieb!«

Ein Sturm von Leidenschaft brauste über sie hin. Er erstickte fast unter ihren brennenden Küssen. Längliche Falten, die um ihre Mundwinkel spielten, verschönten ihr Gesicht. Ein eigentümlicher Duft entströmte ihrem Körper. Die Begierde des Weibes war in ihr rege geworden. Die Schwingungen der liebestrunkenen Sommernacht, die einstmals im Kornfeld über ihre Mutter gegangen, berührten auch sie. Mit verzückten Augen sah sie in den unendlichen Himmel, wo der Liebesstern begann sein Bild zu entschleiern. Schauer auf Schauer durchrieselten Nacken und Rücken. Jetzt preßte sie die Lider zusammen. Dachte sie dabei an Pittje – oder an jenen in der Gnadenkapelle? Und so still und feierlich in weiter Runde! Nur der Ley-Bach gurgelte vorüber, und ab und zu ließ sich das haarfeine Schwirren im Wiesengelände vernehmen. Der Mond hatte sich aus flaumigen Nebelwölkchen geschält; weithin lichterte er über die Szene der laulichen Sommernacht.

Und Kathje immer dieselbe!

»Pittje, nimm mich! – Weißt Du, Pittje, wir gehören zusammen.« Unbeweglich stand er an der Seite des zitternden Mädchens, in dem das verlangende Weib sich verschämt offenbarte.

Deutlich fühlte er die Bewegung ihres zuckenden Körpers.

Seine Gestalt straffte sich.

»Halte mich, Pittje ...!«

Fester schlang er die Arme um sie, denn jetzt wußte er: sie war sein für immer geworden.

Wieder schwankte der geheimnisvolle Vogel vorüber.

»Komm,« sagte Pittje.

Und wieder gingen sie durch die einsamen Wiesen, in welchen die Nebel leise sich hoben, überschritten die Brücke, die über das Wasser führte, um die Chaussee zu gewinnen – und Kathje war ruhig, ruhig wie ein gefügiges Kind, das willenlos folgte, wohin man es führte.

Der Heerweg hatte kein Leben. In schnurgerader Richtung lief er die Hügelkette entlang. Filigranartig warf das Mondlicht die Schatten der Obstbaumzweige über die weißliche Straße. Am Ende derselben lagen glimmende Fünkchen, klein und dunstig, wie Johanniswürmchen in warmer Sommernacht. Es waren die Lichter des heimatlichen Fleckens, der duftigblau unter dem steigenden Mond lag.

Mittlerweile war es spät unter dem Himmel geworden.

Aus weiter Ferne hallten die Uhren herüber.

Pittje zählte die einzelnen Schläge.

Am entgegengesetzten Ende der Landstraße, gegen Appeldorn und Marienbaum zu, zeigte sich in diesem Augenblick ein vorwärts kommendes rötliches Pünktchen, das stetig wuchs und einen immer größer werdenden Lichtschein um sich verbreitete.

Die beiden rasteten ein wenig am Ranft der Chaussee und sogen mit vollen Zügen die Luft ein, die ihnen laulich entgegenwehte. Kathje drückte sich inniger an ihn. Durch das dünne Gespinst ihres Kleidchens spürte er das Berückende ihres geschmeidigen Körpers. Sie war ihm noch nie so begehrenswert erschienen wie heute. Die Weltabgeschiedenheit drängte gebieterisch darauf, sich fester und inniger aneinander zu schmiegen – sie drängte nach Liebe. Die beiden einsamen Menschen fühlten das und küßten sich lange.

Der rötliche Lichtschein war näher gekommen. Sie achteten nicht darauf.

»Jetzt müssen sie da sein,« flüsterte Kathje.

»Und alle wissen es, daß wir zusammen gehören,« lächelte Pittje.

»Wie die Augen machen werden,« entgegnete sie.

»Und Nikodem?«

»Der ist auch da,« erwiderte Pittje, »denn soeben – das Schäschen...«

»Glaubst Du?«

Kathje schreckte zusammen.

Wie ein glühendes Auge brannte jetzt der näher kommende Lichtschein über die Landstraße hin. Es war eine Laterne, die zu einem leichten Fuhrwerk gehörte. Vor demselben trabte ein Ding, das mit einem Schimmel Ähnlichkeit hatte. Ein schrilles Quietschen ging von Achsen und Naben aus, bei denen sichtlich die Wagenschmiere gespart war – und dieses Quietschen wurde von einem merkwürdigen Dreischlag begleitet.

»Eins, zwei, drei – vier, fünf, sechs!« zählte Pittje.

Dann ging ein fröhliches Lächeln über seine ernsthaften Züge.

»Gottdomie!« rief er mit heiterem Munde, »das ist ja der Schimmel vom Sally.«

»Und Sally selber!« freute sich Kathje.

Und richtig, so war es.

Die Zügel mit lässiger Hand führend, die Beine übereinander geschlagen, eine Nelke im Mund und ein Nelkensträußchen hinter der linken Ohrmuschel tragend, kam Sally Süßkind mit seinem leichten Korbwagen und mit der dreibeinigen Jette durch den späten Abend gefahren.

Eins, zwei, drei – vier, fünf, sechs; eins, zwei, drei – vier, fünf, sechs ...!

Jette humpelte näher und präsentierte sich nunmehr, trotzdem sie eine große Seelengüte aufweifen konnte, in der ganzen Miserabilität ihres kläglichen Aussehens. Ein Pferdeverständiger hätte darüber Mauke bekommen. Die Sternkuckerei und das Leinewebern im Stall waren noch die geringsten Gebresten an ihr. Hinten kuhhessig, war sie vorn mit den Allüren eines Tanzmeisters behaftet, hatte Piephacken und Gallen und lahmte infolge von Spat auf der rechten Hinterhand in bedenklicher Weise. Jette ging dreischlägig, und dennoch: sie nahm mit geringem fürlieb, hatte nur obige Untugenden, ging proper und fuhr sicher im Wagen, und was das Einschneidendste war: sie war zufrieden mit Sally und Sally mit ihr, ein Umstand, der den letzteren bestimmt hatte, das zwanzigjährige Schimmelvperdchen für sein Produktengeschäft bis zum heutigen Tage und trotz seiner bedenklichen Fehler in Kost und Logis zu behalten. Ohne Jette kein Sally – ohne Sally kein Jettchen!

»Haar-üh ...!«

»Tag, Sally!«

»I, wo denn ...! – Prrr, Jette! – Habe die Ehre! – Gott der Gerechte – Kathje un Pittje ...! Schon zurecht gekommen mit's Beten un die frommen Gefühle?!«

»Alles in Ordnung. Und Sie?« fragte Pittje.

»In Geschäften gewesen, in Perduktengeschäften! – Fein!« machte Sally, spitzte den Mund und schnipste den Mittelfinger von dem rechten Daumen herunter, gleichsam, um die Qualität des betätigten Handels auch äußerlich in die Erscheinung treten zu lassen.

»Aber ich bitte, Freilein Kathje, Herr Stadtrat ...«

Und Sally dienerte vom Wagen herab, was einer Einladung gleichkam, mit ihm den verbleibenden Rest des Weges vertrauensvoll riskieren zu wollen.

»Recht gern,« sagte Pittje Pittjewitt, hob Kathje in den Korbwagen hinein, um dann selber zu folgen.

»Haar-üh!«

Die brave Jette, die inzwischen, was das Zeug halten wollte, geleinewebert hatte, tanzmeisterte nun los. Tally straffte die Zügel, machte einen Zungenschnalzer, und unter dem gelispelten Singsang »Sieh, o Norma...!« ging die Fahrt durch die friedliche Landschaft.

Eins, zwei, drei – vier, fünf, sechs ...! Lustig hüpfte der Schein der wackeligen Laterne als Spitzenreiter voraus, kapriolte und hopste, so daß es den Anschein hatte, als wäre die Tanzmeisternatur des Schimmelpferdchens in das Talglicht gefahren.

Hurtig und wie durchbrochene Schatten hasteten die Obstbäume vorüber.

Der feurige Liebesstern war stetig im Aufstieg begriffen. Seinem magischen Wesen konnte sich auch Sally Süßkind nicht verschließen. Es kam über ihn wie ein Sehnen und Drängen. Er fühlte sich von knisternden Liebesfunken umzittert. Ein stetig wachsendes, aufdringliches Gefühl bemächtigte sich seiner. Er dachte an Kathje, die hinter ihm weilte.

Kathje hatte den Oberkörper zurückgelehnt und den Kopf an Pittje geschoben.

Sally wandte sich langsam. Sie kam ihm vor wie eine der schönen Töchter von Jeruschalaim.

»Deine Lippen, meine Braut, sind wie triefender Honig – und die Blumen sind hervorgegangen im Lande ...!«

Sally war auf die Worte des Hohen Liedes verfallen. Er gedachte der Nelken, die hinter seiner Ohrmuschel dufteten.

Der Zügel entglitt seiner Hand und blieb auf dem Spritzleder haften. Er griff alsdann nach dem Sträußchen, beugte sich rücklings und machte sich an der Brust des jungen Mädchens zu schaffen.

»Kathje, ich habe die Ehre.«

Sie ließ es geschehen, daß er die Blumen dem prallen Mieder verknüpfte. Sally aber nahm sich Zeit. Seine Manipulation dauerte über Gebühr; er schien sie künstlich in die Länge zu ziehen. Seine Augen standen dabei unter dem Einfluß eines gehobenen Glanzes.

»Aber Sally...!«

»Um Verzeihung, Herr Pittje.«

Endlich war er fertig geworden.

»Herr Pittje,« sagte er mit leuchtenden Blicken, »wie mollig! Gratuliere, Herr Stadtrat.« –

Dann stieß er einen unartikulierten Laut aus.

Jette verstand ihn.

So schnell das Schimmelpferdchen traben konnte, fuhren sie der nahegelegenen Stadt zu.

Es war zehn Uhr unter dem Monde geworden.

Die ersten Häuser kamen in Sicht – und der Liebesstern stand über dem massigen Kirchturm, verheißend und strahlend.

»Herr Pittje, wie mollig!«


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