Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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IV.
Bei Mutter Pittjewitt

An diesem Morgen saß Frau Tamina Pittjewitt, geborene Nebelthau, mit einem dunkelblauen Strickzeug in den Händen, am Fenster ihres niedrigen Hauses in der Kesselstraße, das sie gemeinsam mit ihrem Sohn Pittje bewohnte. Ihren befremdlichen und vornehmen Namen 'Tamina' der so ganz und gar nicht in die niederrheinische Gegend Paßte, hatte sie ihrem Vater Karlo Nebelthau zu verdanken. Karlo Nebelthau, seines Zeichens Organist und Stadtmusikus, amtierte vor Jahren als ein bestgeachteter Mann im benachbarten Kleve. Der Mann war die Pünktlichkeit selbst. Von einem Bienensteiß beseelt und mit einer biederen Gesinnung ausgestattet, hatte er nur die Schrulle, seine Kinder mit den weltfernsten Vornamen aus dem Wasser heben zu lassen. Seine Sühne ließ er mit den Namen Hamilkar, Kreuzwendedich und Petrikettenfeier begnaden, von denen der erste sich als Schneider etablierte, der zweite Faßbinder wurde, und Petrikettenfeier zurzeit die gewichtige Stellung eines Küsters in der Nähe von Xanten bekleidete. Seine einzige Tochter kam als Tamina aus der Taufe. –

Also – Frau Tamina Pittjewitt, geborene Nebelthau, saß an diesem Morgen in ihrer Wohnung am Fenster und strickte. Sie war eine hagere Persönlichkeit, die das Ende der Sechziger bereits erreicht haben mochte. Das schon starkergraute, straffgescheitelte Haar lief in einer scharfen Biegung von den Schläfen bis zur Mitte der Wangen, um von hier aus in verschiedenen künstlichen Flechtchen sich über die Ohren zu legen. Nur der untere Teil derselben blieb frei. Mächtige Ohrgehänge von Rotgold, die bei jeder Bewegung des Kopfes eine nervöse Unruhe verrieten, schlossen den unteren Teil des schmalen Gesichtes ab, während eine holländische Knippmütze mit ihren gestärkten Falten und Fältchen den oberen Teil des Kopfes bis zu den Ohrläppchen einzirkte. Von dem geraden, schmallippigen Mund liefen zwei tiefeingeschnittene Falten zum Kinn nieder, die den Zügen eine gewisse Strenge verliehen, eine Strenge aber, die durch das Milde der großen und stahlgrauen Augen eine sanfte Abtönung gefunden hatte.

Einen wesentlichen Bestandteil der betagten Frau bildeten Stricknadeln und Wollstrumpf. Ohne diese war keine Frau Tamina Pittjewitt denkbar. Zu allen Tagesstunden und öfters bis spät in den Abend hinein ließ sie die stählernen Nadeln klappern, fügte Masche an Masche und freute sich über das Gebaren des Wollknäuels, das, je mehr es an Fettleibigkeit abnahm, desto lustigere Sprünge auf dem Kirschholztischchen vollführte. Das Garnknäuel kam ihr wie ein lebendiges Ding vor. Sie verhätschelte es, sie hielt Zwiesprache mit ihm und verknüpfte die besten Erinnerungen und Wünsche mit seinem ablaufenden Faden. Strickend schlürfte Frau Pittjewitt ihr Morgen- und Mittagschälchen, strickend las sie die welterschütternden Ereignisse und Begebenheiten im niederrheinischen Kreisblatt, strickend duselte sie alltäglich um die Vesperzeit in eine Art von Halbschlaf hinüber, und unter der fingerfertigen Arbeit des Strickens machte sie Zukunftspläne für ihren einzigen Sohn Pittje, bei denen verschiedene Heiratsprojekte eine Hauptrolle spielten. Pittje war ihr überhaupt ans Herz gewachsen, sie war stolz auf ihn, und ihr Antlitz verjüngte sich stets, wenn sein Name in ihrem Bekanntenkreise lobend erwähnt wurde. Kein Zweifel bestand – sie hatte auch alle Ursache dazu, das Licht ihres Sohnes nicht unter den Scheffel zu stellen. Sein Barbiergeschäft blühte, die Schweinestecherei hatte ein gewisses Ansehen in Stadt und Umgegend gefunden, und in seiner Amtierung als Leichenbitter hatte er bis jetzt die höchsten Trümpfe ausspielen können. Keiner vermochte wie er die flottierenden Trauerflore zu achseln, keiner verstand es in so schön und rührend hingeschmalzter Rede die Einladungen für das Leichengefolge zu machen, und das Wehleidige des Gesichtes, das er bei dieser Gelegenheit pflichtgemäß aufsetzen mußte, kam so natürlich, ungekünstelt und ergreifend zum Vorschein, daß selbst die eingeschworenen Gegner eines kirchlichen Begräbnisses nicht umhin konnten, ihr Vorurteil aufzugeben und Gefolgschaft zu leisten. Aber der höchste mütterliche Triumph senkte sich in die Seele der beglückten Frau, als kurz vor den verflossenen Pfingsttagen die städtischen Wahlen ihr Ende erreicht hatten. Einstimmig ging der aufgestellte Kandidat Herr Peter Pittjewitt aus denselben als Stadtrat der dritten Klasse hervor. Jetzt stand er inmitten des politischen und kommunalen Getriebes, jetzt war er eine Persönlichkeit geworden, die auch äußerlich in die richtige Beleuchtung gestellt werden mußte, und dieses erwägend, fuhr Mutter Tamina noch selbigen Tages in der knallgelben, holperigen Postkutsche zur benachbarten Kreisstadt. Gegen Abend kam sie mit einer mächtigen, sich nach oben verjüngenden Pappschachtel zurück. In großer Heimlichkeit packte sie dieselbe sorgfältig aus, spreitete ein frisch gewaschenes Leinentuch über die blankgescheuerte Tischplatte und pflanzte in die Mitte derselben ein glänzend schwarzes, mit einem schmalen Rand versehenes und sich zuckerhutartig nach oben verlaufendes Gebäude hin. Über den Aufbau warf sie alsdann ein großgeblümtes Halstuch. Hierauf ging sie in die Küche und geleitete in feierlicher Weise den jungen Stadtrat ins Zimmer. Wie angenagelt stand er vor dem verschleierten Bildnis – und als er das Tüchlein schließlich mit zagendem Finger lüftete, da paradierte ein funkelnagelneuer Zylinder darunter, und dieser Zylinder hatte von nun an das ausbündige Glück, von Herrn Pittje Pittjewitt an Sonn- und Feiertagen, sowie auf seinem Gange zu den Stadtratssitzungen – aber auch nur dann – getragen zu werden. Während der übrigen Zeit fristete er ein beschauliches Dasein hinter den Scheiben des Glasspindes, wo er neben den vergoldeten und mit Vergißmeinnicht angemalten Tassen, Tellern und Kaffeekannen der Frau Tamina eine äußerst glückliche und imponierende Figur machte. Heute fehlte der Zylinder im Glasschrank.

Lustig klapperten an diesem Morgen die blitzeblanken Stricknadeln zusammen, und das eiförmige Wollknäuel hoppelte an dem langen, dunkelblauen Faden so fröhlich herum, als wäre ein guter Teil der heiteren Laune Mutter Pittjewitts in seinen wolligen Körper gefahren.

Draußen ging ein so recht behaglicher, langweiliger, niederrheinischer Sommermorgen durch die niedrigen Häuserzeilen, der nichts weiter zu tun hatte, als sich in den blanken Scheiben und den polierten Türklopfern zu spiegeln, mit den Grasbüscheln, die überreich zwischen den Pflastersteinen wuchsen, zu äugeln und in die Fenster zu schauen, hinter denen die gehäkelten Vorsetzer standen und saftige Geranienstöcke ihre ziegelroten Blütendolden entfalteten. Nur wenige Leute gingen vorüber; aber sie taten es in ihrer behäbigen Schwerfälligkeit, so daß auch hierdurch kein eigentliches Leben in den vereinsamten Straßen aufkommen konnte. Das Holzschuhgeklapper, das monoton von ihnen ausging, vermehrte nur die große Stille, die sich immer fühlbarer machte, und wären nicht die Schwalben gewesen, die in ziellosem Fluge bald den blaßblauen Himmel durchsetzten, bald ob den Grasbüscheln zwischen den Steinen dahinschossen, man hätte meinen können, die kleine Stadt mit ihren spanischen Giebeln, mit ihren Pappeln und Ziegeldächern hätte sich die Schlafmütze über die Ohren gezogen.

Und in diesem Einerlei, in dieser beschaulichen Stimmung des Einschlafenden, in diesem blitzeblanken Sonnenschein des warmen Sommermorgens – Frau Tamina Pittjewitt, geborene Nebelthau, mit ihrem dunkelblauen Wollstrumpf und dem lispelnden Stricknadelgeklapper, das nun schon seit dem Morgenkaffee währte und kein Ende nehmen wollte. Frau Pittjewitt war in tiefem Sinnen, und sie hätte auch noch weiter gedacht und gegrübelt, wäre ihr nicht plötzlich eine unliebsame Masche gefallen.

»Das hat was zu bedeuten,« meinte sie lächelnd, als ihr auch schon die zweite entglitt und leise an die Tür geklopft wurde.

»Angtree!« sagte Frau Pittjewitt, ließ das Strickzeug in den Schoß fallen und legte erwartungsvoll die Hände darüber.

»Angtree!«

Und Kathje Peerenboom war ins Zimmer getreten. Auf dem braunroten Haar lag ein zierliches Leinenhäubchen, und die kraftstrotzende Fülle ihres jugendlichen Körpers schien das Kaschmirkleidchen sprengen zu wollen, das sich vornehmlich straff über den kleinen Busen spannte. Verschämt fuhr sie sich mit der Hand über die Schürze.

»Tag, Mutter Pittjewitt.«

»Ah – Kathje! – Seh'n wir Dich auch mal, und das mit's Feinste?«

»Je, Mutter Pittjewitt, wenn ich zu Euch ...«

»So, so, so,« machte die Alte, »ist wohl was Neues?«

»Hat die Lena Brücker gemacht,« stotterte Kathje.

»Und diese Üppigkeit – die reinste Verschwendung!«

»Ist nicht von dem unseren. Nikodem hat Stoff und Macherlohn spendiert.«

»So, so, so,« erstaunte sich Mutter Pittjewitt, »also der geistliche Herr Bruder ist splendide geworden! War doch sonst nicht sein Gusto.«

»Das stimmt schon,« lächelte Kathje, »und er kann's auch nicht gut, aber diesmal hat er zur Ehre Gottes mit den Talern geklappert.«

»Wieso denn?«

»Mariä Heimsuchung ist große Prozession nach Marienbaum.«

»Und da will der geistliche Herr Bruder, daß Du mit ziehen sollst?«

»Ja – das will er.«

»Und Du sollst in dem neuen Kaschmirrock den Rosenkranz beten?«

»Ich soll was prästieren,« flüsterte Kathje, »denn mein Bruder ist ja nun einmal Kaplan in Marienbaum, und da will er, daß ich als seine Schwester etwas vorstellen soll, wenn wir von hier aus durch die geschlagenen Maibäume über die Chaussee zur Mutter Gottes spazieren.«

»Das ist denn allerdings eine Erklärung,« lenkte Mutter Pittjewitt ein. »Aber das mit den Maibäumen, das hat so seinen eigentümlichen Haken. Du wirst in diesem Jahre wohl ohne die geschlagenen Birken vor dem geistlichen Herrn Bruder erscheinen müssen, denn das mit den Birken ...«

»Sie sind aber beantragt,« warf Kathje dazwischen. »Und wenn der Schellfisch ...«

»Das schon,« sagte Mutter Pittjewitt mit ärgerlichem Tonfall, »die Birken sind beantragt und auch vom Schellfisch von Prozessions wegen beantragt, aber ob er damit durchkommt, das ist denn doch so 'ne zweifelhafte Sache geworden. Sie wollen sich den Baumfrevel nicht mehr gefallen lassen. Pittje spricht auf dem Rathaus dagegen – und Pittje sagt, daß es gegen den Himmel schriee, wenn die jungen Birken im grünen Wald geschlagen würden, um auf der staubigen Chaussee von wegen nichts zu verdursten. Und Herr Sally Süßkind, als Verschönerungsmitglied, hat Unterschriften dagegen gesammelt, denn sie wollen ihre jungen Maibäume auf dem Monreberg behalten – und Pittje ist Feuer und Fett für die Sache, und was Pittje sich vornimmt ...«

Mutter Pittjewitt war aufgestanden, denn in sitzender Haltung konnte sie ihren Worten nicht den gehörigen Nachdruck verleihen, vornehmlich dann nicht, wenn es galt, ihren Sohn in die richtige Beleuchtung zu rücken.

»Und was Pittje sich vornimmt,« fuhr sie mit leuchtenden Augen fort, »das versteht er auch in Schick und Richte zu bringen. Das weißt Du ja selbst, Kathje; denn wenn er da im Stadtrat sitzt, wenn er seinen Sonntagssiegelring aufgesteckt und seinen feinen Zylinder vor sich auf das grüne Tischtuch gestellt hat – und wenn er dann loslegt: na, da schweigen schon die übrigen Hammels, und der Herr Bürgermeister nickt ›Ja und Amen‹ dazu, setzt seine Brille auf und unterschreibt ohne Besehn die ganze Geschichte. Und gib mal acht, Kathje – so wird's auch heute geschehen. Die Birken bleiben wo sie sind, auf dem Berg, keine Maibäume werden gepflanzt – und Du kannst ohne solche in Deinem Besten über die staubige Chaussee nach Marienbaum triumphieren.«

»Soll mir schon recht sein,« bestätigte Kathje, »denn ich kann's auch nicht mit ansehn, wie sie so mit ihren abgeschlagenen Füßen die welken Blättchen hängen lassen, als wollten sie aus dem eingetrockneten Chausseegraben trinken. Man kriegt ja selber Durst davon, und die Kehle schnürt sich einem beim Anblick der armen Bäumchen zusammen.«

»Recht so, mein Kind!« sagte die Alte und tätschelte mit ihrer hageren Rechten die Wange des Mädchens. »Ich hab's ja allzeit gesagt, die Kathje ist doch noch immer die Beste von der ganzen Puppenspielergesellschaft.«

»Aber, Mutter Pittjewitt ...«

»Laß man gut sein,« fiel diese dazwischen. »Ich hab's ja immer gesagt: Du hast so 'nen angeborenen Plie, Du bist so ganz anders wie die übrigen Mädchen – und wenn Du wolltest ...«

Kathje errötete über und über.

»Ich weiß nicht,« stammelte sie und machte sich wieder an ihrer Schürze zu schaffen, »ich bin eigentlich nicht wegen der Birken gekommen und möchte nicht gerne ... Aber so offen gesagt, ich hätte wohl mit Pittje zu sprechen.«

»Der ist nicht hier und kommt auch vor Mittag nicht wieder.«

»Ach!« sagte Kathje, »und die Sache hat doch so 'ne Eile, meint Vater. Wo ist er denn?«

»Wo der da ist,« versetzte die Alte und zeigte in Richtung des Glasspindes. »Wo der Zylinder ist, da ist auch Pittje – und der Zylinder ist jetzt auf dem Rathaus.«

»So ...!« machte Kathje, und es war ihr, als stände der Totengräber hinter ihr und wollte ihre schönste Hoffnung begraben. »Aber es wäre doch gut, wenn ich Pittje ...«

»Was hast Du denn, Kind?«

Da schluchzte Kathje heftig auf und barg ihr Gesicht mit der Schürze, die sie krampfhaft gegen Stirn und Schläfen preßte; unter schwerem Atemholen und häufigem Schluchzen erzählte sie alles, was seit gestern abend sich Trauriges in ihrem elterlichen Hause begeben. »Und so ist denn das Unglück gekommen,« schloß sie ihren unerfreulichen Bericht, »und da schickt mich Vater nach hier, um bei Pittje anzufragen, ob er helfen wolle und könne, denn in der nächsten Woche läßt uns Aloys Pierentrecker alles verkaufen. Auch die Hypothekenbank will nicht länger warten und denkt daran, unser Häuschen subhastieren zu lassen – und dann ist für uns ...«

Ein erneutes Schluchzen ließ sie nicht weitersprechen. Die sonst so milden Züge der Alten hatten sich im Laufe der Erzählung verfinstert.

»Hab's lange gewußt,« sagte sie mit rauher Betonung. »Seitdem Deine Mutter selig nicht mehr schafft und regiert, hat bei Euch das ganze Hauswesen seinen Krebsgang genommen, und Dein Vater hatte schon vor Jahr und Tag Angtree! rufen können, denn das Unglück stand bei Euch schon längst vor der Tür und wollte herein. Aber Dein Vater schlug ihm immer mit der Schnapsflasche auf den Kopp, daß es zurücktorkelte, bis es schließlich mit der richtigen Kurasch anfing und von allein ins Zimmer stolperte, sich an den Ofen setzte, die Pfeife ins Maul tat und sich aufspielte, als sei es immer der Herr im Hause gewesen. – Ich hab's ja selber mit angesehen, wie Ihr diesen Frechsack wie 'nen jungen Kuckuck gepäppelt.«

»Aber Mutter ...!«

»Ja, Du und Dein Vater,« fuhr die Alte unbeirrt fort, »Ihr zwei beide habt das Unglück wie 'nen hungrigen Gelbschnabel behandelt, ihm allstündlich den Papplöffel vors Maul gehalten; Ihr habt ihm den Bauch getätschelt, bis schließlich der ungeschlachte Lümmel Euch beim Kragen packte und tuttschwitt vor die Haustür spendierte. Ja, ja, ja – Kathje! – so mußte es kommen. Und Dein Vater kümmert sich den Teufel darum; er hält sicher noch die Schnapsbouteille in die Höhe und ruft Hurra dazu. Hab's lange gewußt, und der Schellfisch hat recht, und Dein Vater sollte sich schämen, denn er hat alles verkümmelt.«

Kathje verfärbte sich. Ihre Finger legten sich krampfhaft zusammen.

»Mutter Pittjewitt,« sagte sie mit stammenden Augen, »ich will nicht, daß mein Vater ... ich kann es nicht haben ... Auch mein Bruder Nikodem ...«

»Das ist es ja eben,« wurde sie jählings von der alten Frau unterbrochen, »das ist es ja eben! Warum mußte der Junge studieren und ›Heerohme‹ werden? Wäre er zum Exempel ein ehrlicher Barbier wie Pittje geworden, dann hätte sich vieles anders gegeben. Aber das mußte hoch hinaus, das mußte 'nen geistlichen Herrn Sohn und 'nen geistlichen Herrn Bruder in der Familie haben, das mußte ... Je, was weiß ich, was da alles mußte und sollte! – Und als er's geworden – ach, du Herr Jeses! – als er auf der Kanzel stand und von der christlichen Nächstenliebe das Maul so recht voll nahm – ja, du mein lieber Gott! – da hatte er kein verschlissenes Dobbeltje oder einen roten Groschen für die Seinigen übrig. Daß er für Euch das Kreuz in der Hosentasche schlägt, das kostet nicht viel – und daß er Dir das neue ›Kaschmirne‹ gestiftet, das ist doch wohl nur so 'n bißchen Sonderinteresse gewesen.«

»Je, aber ...«

»Ach, was – je aber! – Alles bleibt, was ich sagte. – Der verfluchte Schnaps und der geistliche Herr haben Euch die Schnitten aus dem Brotschrank gefressen, die Möbels in andere Hände gespielt und Euch die Hypotheken auf die Ziegelpfannen geworfen. Ihr habt nicht hören wollen – nun seht wie Ihr auskommt.«

Das hatte Kathje nicht erwartet. Ihr Ehrgefühl bäumte sich in der jugendlichen Brust auf, und in den dunkelblauen Augen begann es grünlich zu leuchten. Ihre äußere Erscheinung verjüngte sich bei dieser Erregung. Große Tränen standen in ihren zornigen Blicken.

»Denn adjüs.«

Sie wandte sich kurz; jetzt trat ihr geschmeidiger und biegsamer Körper so recht in die Augen. Das entging Mutter Pittjewitt nicht; sie wußte doch auch, wie rar solche Mädchen am Niederrhein waren, und wenn sie bedachte ... Eine lange Reihe von Projekten schwirrte in diesem Augenblick blitzartig ihren geistigen Blicken vorüber. Ja, wenn sie bedachte ...

»Kathje,« sagte sie tonlos, »kann denn kein anderer helfen?« »Das ginge schon,« gab Kathje, die bereits die Türklinke ergriffen hatte, mit einem Anflug von Laune zurück, »und ich wüßte schon einen.«

»Na – wen denn?«

»Den Schellfisch.«

»Du hast mir doch soeben gesagt ...«

»Ja, Mutter Pittjewitt, das ist soeben gewesen. Aber wenn ich so alles bedenke, wie bald die hungrigen Ratzen unseren leeren Brutschrank umschnuppern, dann kriegt das Ding ganz andere Kulören.«

»Wieso denn?«

»Weil Aloys feierlichst gelobt hat...«

»Aloys – was denn?«

»Das ganze Darlehn zu streichen, wenn ich seine Frau werden wollte.«

»Und Du, Kathje?«

»Je,« sagte Kathje und ließ die Türklinke fahren.

»Jesus Christus!« entsetzte sich Mutter Pittjewitt und ergriff ihren Strickstrumpf. »So 'n Betbruder, so 'n Schmierhahn und so 'n Lammsgesicht mit Nücken und Tücken ...! Das ist ja nicht zu mäntenieren – die Sache! – Na, höre mal, Kathje!« und mit einer Behendigkeit, die man der alten Frau kaum zumuten konnte, war sie wie umgewandelt an die Seite des schmucken Mädchens getreten und begann wieder die bräunlichen Wangen zu streicheln.

»Na, höre mal, Kathje,« begann sie von neuem, »ich will ein christkatholisches Wort mit Dir reden. Du weißt ja selbst am besten, wie's um Euch steht – aber Deinem Vater Jan Peerenboom zuliebe: nicht rühr' an die Sache! – Deinem geistlichen Herrn Bruder zuliebe: nicht rühr' an die Sache! – Aber Dir zuliebe, Kathje – da ließe sich vielleicht noch so 'n Dreh herausdividieren.«

Kathje schreckte freudig zusammen.

»Die Zeiten sind schlecht,« fuhr die Alte mit unsicherer Betonung fort, »und Pittje hat ja nun wohl sein Erspartes nach Rees an seine Schwester Mielke verliehen, die 'nen lahmen Mann hat und sich einrichten muß, um ehrlich durchs Leben zu kommen, aber Pittje hat Kredit in der ganzen Umgegend, und da könnte sich's vielleicht einrichten lassen ...«

»Ah!« jubelte Kathje; die helle Freude sprühte aus den glückseligen Augen.

»Und der Schellfisch?« fragte die Alte.

»Fort damit!« kam es aus lachendem Munde, und zwei kräftige Arme schlangen sich um den gebrechlichen Nacken.

»Laß gut sein, laß gut sein,« stöhnte Mutter Pittjewitt. »Aber nur Dir zuliebe, nur Dir zuliebe! – Ich spreche mit Pittje.«

Noch einmal drückte das erregte Mädchen die betagte Frau an ihre Brust, herzte und küßte sie, und noch bevor sich's diese versah, war Kathje bereits durch den Hausflur auf die Straße gesprungen.

Und Tamina Pittjewitt, geborene Nebelthau, saß alsbald wieder hinter ihrem kleinen Nähtisch am Fenster, ließ sich allerhand Zukunftspläne durch den Kopf gehen und strickte. Und die Grasbüschel standen ebenso regungslos zwischen den Pflastersteinen wie früher – und die behenden Schwalben schossen lautlos darüber hin – und die Geranienstöcke blühten verschwiegen hinter den Scheiben – und Kathje ging durch die friedliche Stille und hatte Mühe, ihren inneren Jubel zu verbergen – und Sally Süßkind saß auf der grünen Holzbank vor seinem Hause mit den grün angestrichenen Jalousien und dem großen Türklopfer von Messing, hielt den Stiel einer violetten Nelke im Mund und fühlte sich von den warmen Strahlen des Junimorgens so recht behaglich umschienen. Sally Süßkind hatte die Beine, die in weißleinenen Hosen und gestickten Pantoffeln steckten, übereinander geschlagen und ließ die Nelke zwischen den weißen Zähnen auf und nieder hüpfen. Sally hatte überhaupt stets eine Nelke im Mund – ja, er wäre ohne eine solche ein Unding gewesen. In seiner Stellung als Mensch, Hausbesitzer und Produktenhändler wurde er stets von dieser duftigen Blume begleitet. Bei den schwierigsten merkantilen Erwägungen, beim Getreidehandel, auf Spaziergängen und beim Abendschoppen – nie fehlte die Nelke zwischen den Lippen, und wurde nach Jahresschluß die Bilanz gezogen, dann hatten tagtäglich fünfundzwanzig Nelkenstengel das Los, im Eifer des Geschäftes vom Bilanzzieher zerknäuelt zu werden. Selbst bei den verschiedenen Mahlzeiten konnte sich Sally von seiner Lieblingsblüte nicht trennen. Schlürfte er sein Schälchen Morgenkaffee, oder löffelte er seine koschere Fleischbrühe herunter, dann paradierte die Nelke hinterm linken Ohr, genau in derselben Weise, wie eine Schreiberseele den Ganskiel oder den Bleistift bei Ruhepausen zu tragen pflegt. Nur im Bett nahm er Abschied von ihr. Dann stand sie in einem Gläschen mit erfrischendem Wasser und harrte geduldig auf den kommenden Morgen, an dem sie wieder mit dem Munde Sallys beglückt werden sollte. Kein Zweifel, Herr Sally Süßkind war ein guter Mensch, ein vortrefflicher Geschäftsmann und ein fanatischer Nelkenfreund, und es konnte daher nicht befremdlich erscheinen, daß ihm die letztere Eigentümlichkeit im Volksmund die nähere Bezeichnung ›Nelken-Sally‹ eingebracht hatte. Außerdem verstand er es, die Wahl der zu tragenden Nelken jedesmal seiner Seelenstimmung und der Bedeutung des Tages anzupassen. Für gewöhnlich gab er der billigen Kartäusernelke den Vorzug. War er zu einer Taufe geladen, wählte er stets eine noch nicht entfaltete Knospe, bei Hochzeiten in der näheren Bekanntschaft wurde er mit einer flammendroten Nelke gesehen, um sinngemäß die brennende Liebe in die Erscheinung treten zu lassen, wo hingegen die weiße Farbe nur bei ihm bemerkt wurde, wenn die Trauerglocke ertönte oder ein Glaubensgenosse Pleite ansagen mußte. Alle patriotischen Feste, wichtige Geburtstage, wozu er auch den seinigen zählte, ehrte er durch das Tragen einer Bandnelke, die das Streifige einer Ordensstrippe am täuschendsten nachsimulierte. Heute war die violette Farbe Trumpf, also: halb Trauer, halb Freude. Um stets genügenden Vorrat an diesen Blumen zu haben, pflegte er sie in seinem bescheidenen Gärtchen hinter dem Hause, zog sie aus Samen und Stecklingen in Kästen und Töpfen, und das ganze Jahr hindurch paradierte ein üppiger Flor von Bart-, Feder-, Kaiser-, Schlitz- und Kartäusernelken, und zwar vom zartesten Weiß, vom duftigsten und hingehauchtesten Violett ausgehend bis zum kräftigsten Purpurrot, auf den Gartenbeeten und hinter den blanken Scheiben seines zweifenstrigen Hauses.

Bei diesen Vorzügen als Mensch, Produktenhändler und Nelkenfreund besaß Sally Süßkind noch zwei weitere Eigenschaften, die ihm ein berechtigtes Ansehen in der kleinen Stadtgemeinde verliehen. Er gab etwas auf seinen äußeren Menschen – und war musikalisch. – Während der Herbst- und Wintertage trug er nur enganliegende Buckskinhosen mit schwarzbraunen Galons, Gehrock und Schmalzlocken, die elegisch unter einem schmalrandigen Filzhütchen hervorsahen. Sobald aber der Krokus seine safrangelben und violetten Spitzen aus dem lockeren Erdreich vorstieß, und die ersten Veilchen sich unter den Bocksdornhecken zeigten, dann wurden die Galonierten mit weißleinenen Beinkleidern vertauscht, und an Stelle des Gehrocks trat ein Nankingjackett, dem er, des besseren Aussehens halber, ein himmelblaues und flottierendes Halstuch hinzufügte. Nur die gestickten Pantoffeln, auf denen ein krebsrotes Herz mit einem Pfeil paradierte, blieben im Gebrauch. Auch die Schmalzlocken liefen keine Wandlung durch, wenn man von dem kecken Strohhütchen absah, das für die heiteren Tage den Filzhut ersetzte. – Und das Musikalische? – Ja, du mein Himmel! – das hatte diese Bewandtnis. Vor Jahr und Tag hatte der Nelken-Sally eine Komödiantentruppe im benachbarten Kleve gesehen, die die Oper Norma zur Aufführung brachte. Seit diesem Ereignis kannte sich Sally nicht wieder. Die Melodien verfolgten ihn, die Gestalten ließen ihn nicht los, und bei allen Gelegenheiten summelte, pfiff und trommelte er: »Sieh, o Norma ...!« – ein musikalischer Erguß, der ihn sichtlich bewegte und zu Tränen rühren konnte. Ja, Sally Süßkind war ein elegischer und musikalischer Junggeselle, dessen Herz nicht nur dem schnöden Mammon nachging, sondern auch Sinn für alles hatte, was um ihn blühte und tönte.

Behaglich ließ sich Sally von den warmen Sonnenstrahlen auf seiner grün angestrichenen Holzbank umscheinen. Die Nelke wippte zwischen seinen Lippen, und sanft, die Flötentöne nur andeutend, ließ er sich von dem berückenden »Sieh, o Norma – ach, hab' Erbarmen!« umschauern, wobei er mit den Fingern schnalzte, den Kopf süßlächelnd zur Seite legte und den einen Fuß mit dem gestickten Pantoffel rhythmisch bewegte.

So hatte er wohl schon eine halbe Stunde gesessen und wartete auf Pittje, aus dessen Munde das auf dem Rathaus gezeitigte Ergebnis von wegen der Prozessionsbirken brühwarm zu hören, denn in seiner Würde als Mitglied des Verschönerungsvereins war er von dem vitalsten Interesse beseelt, diese Angelegenheit in seinem Sinne erledigt zu wissen. Sally war der gutmütigste Mensch von der Welt, der jedem sein Recht und seine Eigenart ungeschmälert beließ; allein der Gedanke, daß von Kirchenrats wegen zur Verherrlichung der Wallfahrt nach Marienbaum wieder an tausend junge Birken im städtischen Bezirk geschlagen werden sollten, um jämmerlich an der Landstraße zu verdorren, dieser Gedanke quälte ihn schon seit mehreren Tagen und hatte ihn veranlaßt, energisch gegen dieses frevelhafte Vorhaben durch seinen Freund Pittje Pittjewitt auf dem Rathaus Protest einlegen zu lassen. Der in Aussicht stehende Waldfrevel brachte ihn in Harnisch; er wartete und wartete und hatte bereits zum fünfzehntenmal »Sieh, o Norma...!« gepfiffen, als Kathje Peerenboom eiligen Schrittes vorüberkam und dem Marktplatz zustrebte.

Sally schwenkte den Strohhut mit dem rotseidenen Band und lispelte: »Habe die Ehre, Freilein Peerenboom. Was macht der Herr Vater?«

»Danke, Herr Süßkind,« erwiderte Kathje, »es geht ja,« und eiligen Schrittes ging sie dem Markt zu.

Leuchtenden Auges sah er ihr nach. Um die nächste Ecke verschwand sie.

»Gott, was für ein feines Gestell,« meditierte Herr Süßkind. »Das wär' 'ne propere Schabbesgoie geworden. Ich könnte sie brauchen.«

Und wieder liess sich Sally auf die grün angestrichene Holzbank nieder – und wieder schlug er die Beine übereinander

– und wieder war die große Stille von eben gekommen. Ruhig wuchs das Gras zwischen den Steinen, und lautlos huschten die schnellen Schwalben darüber hin.

Sally war auf der weiten Straße allein.

Jetzt fiel die Nelke zu Boden.

Sally hatte gegähnt.


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