Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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VI.
Eine unterbrochene Auktion, die mit einem Kusse schließt

Ja – da hing sie, die Fahne, in schwarz-weißen Kulören und dem prächtigen Nelkenstrauß und schaukelte sich im laulichen Mittagswind, der die Kesselstraße hinabstrich. Bald häkelte sie sich an eine der grünen Jalousien, bald an den Giebelfirst, um gleich darauf wieder sanft hinabzugleiten und in der laulichen Luft zierliche Bogen zu schlagen. Und Sally Süßkind hatte sich daneben in das Fenster des ersten Stockes mit untergeschlagenen Armen gelegt und sah, eine flammende Bandnelke im Munde, über die vorliegenden Gärten nach der Kerskenschen Mühle hin, die langsam und behäbig-pedantisch mit ihren langen Armen durch die Luft stakelte. Jenseits derselben dehnte sich ein unabsehbares Wiesenland, aus dem die gekappten Weiden wie knirpsige Kerle emportauchten.

Sally lachte. »Gehst Du kapores!« machte er zwischen den Zähnen, »is es mir doch, als wenn lauter Aloys Pierentreckers daständen.«

Nur wenige Passanten gingen vorüber, aber alle die vorbeikamen blickten erstaunt nach der Fahne, die sich wie ein rätselhaftes Fragezeichen auf und nieder bewegte und mit dem Wisperwind knatternde Zwiesprache hielt.

Jetzt schaute Sally zur Linken, und als er Pittje gewahrte, deutete er auf das Flaggentuch, schwenkte den Hut und machte sich mit vorgehaltenen Händen, die er wie ein Sprachrohr benutzte, laut rufend bemerkbar: »Ihnen ßu Ehren, Herr Pittje – von wegen die Rede!«

»Danke!« kam es als Antwort zurück. »Sally, haben Sie Zeit?«

»For Sie immer, Herr Pittje!«

»Dann möchte ich Sie bitten, für einige Augenblicke herüber zu kommen!«

»Gerne, Herr Pittje!«

Gleich darauf war das Fenster leer, und Herr Süßkind schwebte mit seinen weißleinenen Hosen, dem gelben Nankingjackett, der stammenden Bandnelke und »Sieh, o Norma...!« zwischen den Lippen trällernd, auf die andere Straßenseite, tänzelte durch den Hausflur des Pittjewitt'schen Besitztums und befand sich alsbald dem Inhaber desselben gegenüber.

»Tag, Sally – ein Schnäpschen gefällig?«

»Keine geistlichen Getränke, Herr Pittje!«

»'ne Pfeife?«

»Herr Pittje,« sagte Sally und wehrte mit beiden Händen ab, »ich rauche mit Ihrem gütigen Einverständnis die Nelke.«

»Schön,« entgegnete Pittje, »dann gestatten Sie wohl, daß ich mir eine anstecke, denn bei einem wichtigen Geschäft, das ich mit Ihnen abzuschließen gedenke, spricht es sich besser, wenn ich meinen »Admiral de Reuter« verknalle.« »Ganz nach Ihrer Bekömmnis!« – sagte Sally, und Pittje ging hin, langte eine Tonpfeife vom Eckbrett, stopfte sie aus einer eingetrockneten Schweinsblase mit holländischem Krülltabak und ließ die ersten Kringel zur Decke steigen.

»Ich bitte,« sagte er gleichzeitig zu seinem Besuch und deutete auf einen Binsenstuhl, der dem seinigen gegenüberstand.

Als beide Platz genommen hatten, schlug Pittje die Beine übereinander und muffelte nachdenklich an seinem irdenen Pfeifenstiel.

»Herr Pittje, nu los mit's Geschäft.«

»Je,« meinte dieser, »es ist 'ne heikle Sache, und will überlegt sein. Aber ich frage Sie: kennen Sie Jan Peerenboom als Mensch und Geschäftsmann genauer?«

»Gott, ob ich ihn kenne! – Er is ein Komödiantenspieler mit die Puppen auf Kirmes, er trägt einen Sammetrock for die Künstlerschaft auf Sünndag un Werkdag – un schnäpselt.«

»Leider! – und kennen Sie Kathje?«

»Herr Pittje – ob ich sie kenne! – Die liebreichste Anmut, 'ne menschliche Blume, 'ne Venus im bürgerlichen Gewande – un wenn ich's bedenke: sie wäre die richtige Frau Gemahlin for Ihnen, wenn der Vater nich wäre.«

»Na – und der Vater ...?« lächelte Pittje.

»Herr Pittje, was soll es? – Ich habe ihn spielen sehn, als ich war klein, ich habe ihn spielen sehn, als ich bin größer geworden – un habe gelacht for fünfunßwanßig Talers an Wert, obschon ich nur ein Kastemännchen bezahlte. Herr Peerenboom is ein pläsierlicher Mann, ein unterhaltsamer Mann un ein Mann mit große Talente – aber, Herr Pittje, lassen Sie die Hand von dem Manne. Er müffelt.«

Pittje Pittjewitt blies eine kräftige Rauchwolke nach oben und wippte unruhig mit seinem rechten Fuß auf und nieder. Die Auslassungen Sallys schienen nicht so recht in seinen Kram und seine Ideen zu passen, wenigstens trübten sie seine behagliche Stimmung und verkümmerten ihm den Genuß an dem Schälchen Kaffee, das Mutter Pittjewitt inzwischen aufgetragen hatte.

»So, so, so!« machte Pittje, »und kennen Sie die näheren Verhältnisse, ich meine die moralistische Not und die Ungelegenheiten des Mannes?«

»Gott, ob ich sie kenne, Herr Pittje! – Der Mann is pleiter wie pleite.«

»Da ist zuerst die Forderung der Hypothekenbank in Kleve.«

»Is mir bewußt,« bestätigte Sally. »Sind tausend Talers in allem.«

»Und kennen Sie auch den fälligen Rückzahltermin?«

»Nu – ob ich ihn kenne! Diesen Johanni mit die restierenden Zinsen – alles preußisch Courant.«

»Ferner steht noch eine Forderung über gepfändete Möbel.«

»Is mir bewußt,« entgegnete Süßkind mit unerschütterlicher Ruhe. »Pierentrecker gegen Peerenboom. Der Mann hat achthundert Talers zu gut. Macht for Johanni rund zweitausend Talers zusammen.« »Und diese zweitausend Taler,« erklärte Pittje Pittjewitt mit aller Bestimmtheit, »müssen bis Johanni, beziehungsweise bis zum Auktionstermin beschafft werden.«

Sally sprang auf.

»Sie sind wohl meschugge, Herr Pittje?!«

»Nein, Sally, das ist mein heiliger Ernst.«

»Un Sie – Sie wollen, Herr Pittje?«

»Ich will.«

Pittje Pittjewitt hätte ebenso gut sagen können, ich bin heute abend Schlag Klock acht mit Tod abgegangen und lasse mich in drei Tagen nach jüdischem Ritus begraben – so wirkte sein bestimmt geäußertes Vorhaben auf das ganze Benehmen und die Gemütsverfassung von Süßkind. Zuerst stand er da, als sei ihm durch eine höhere Macht die Aufgabe gestellt worden, den Kirchturmknauf von Sankt Nikolai dohlenartig und mit lautem Geschrei zu umfliegen, dann fummelte er in den Hosentaschen herum, dann ließ er die Bandnelke fallen – und dann erst kam seine Besinnung zurück. Mit einem Gesicht, in welchem sich seine völlige Trostlosigkeit über den verdächtigen Seelenzustand des vor ihm Stehenden offenbarte, sah er den bejammernswerten Freund an und schien schon halber willens zu sein, zum Herrn Doktor Horré zu laufen, um diesen allen Ernstes zu veranlassen, Pittje in eine Heilanstalt für Gemütskranke unterbringen zu lassen. Er besann sich jedoch, griff aber nach seinem Strohhut und sagte: »Herr Pittje, ich gehe.«

»Sally, Sie sollen mich hören...!«

»Herr Pittje, ich habe gehört, ich habe schon zuviel gehört in die Sache. Aus allen Löchern stinkt es wie beim Abdeckermeister. Sie ßiehen sich selbst das Fell über ihre unschuldsvollen Ohren, Herr Pittje! – Bedenken Sie: ßweitausend Talers sind ßweitausend Talers, Herr Stadtrat! – Un das mit dem Künstler! – Herr Peerenboom is ein pläsierlicher Mann un ein unterhaltsamer Mann un nobel wie das große Haus Rothschild in Frankfurt, aber er trinkt un tut's in Pomeranzen un Kümmel – un dafor sind die ßweitausend Talers in den Schornstein geschrieben. Stecken Sie nich Ihre Fingers in diese Geschichte! Es gibt ein Schlamassel, un Sie rungenieren sich un ihre liebwerte Mutter bis über die Ohren. Herr Pittje, ich gehe.«

Er hatte schon die Türklinke ergriffen und gedachte sich eiligst aus dem Zimmer zu schieben, als er sich am Ärmel erwischt fühlte und die Worte zu hören bekam: »Sally, und das nicht allein; Sie sollen mir auch die zweitausend Taler besorgen.«

Na – nu aber ...!

Aber es kam anders, wie es sich Pittje gedacht hatte.

Sally drehte sich um, legte ihm beide Hände auf die Schultern und lispelte mit tränenumflorter Stimme: »Herr Pittje, ich will Ihnen was sagen. Bekommen Sie's mit die Vornehmheit un wollen sich 'nen neuen Kafförladen machen mit feine Parfüms un goldene Spiegels bis an die Decke – gerne, Herr Pittje. – Bekommen Sie's mit die schönen Gefühle, un wollen Sie sich eine liebreiche Gemahlin einstallieren in den neuen Kafförladen, for glücklich ßu leben un for ganz kleine, unschuldsvolle Kinder zu wiegen – un gebrauchen Sie ßu diese Installierung Betten un Bettßeug mit piekfeine Wäsche, gebrauchen Sie Plüschmöbels in allen Kulören, Magonitische un Stühle un 'ne nobele Aponasche for Ihre angetraute Gemahlin ... Herr Pittje Pittjewitt« – und Sally hatte beide Hände seines Freundes ergriffen – »ich heiße Sally Süßkind, bin Perduktenhändler, mosaischen Glaubens un ßweiter Vorsitzender von dem Verschönerungsverein, un Sie kennen mir als gefälligen Menschen – aber dann gerne, Herr Pittje.«

»Je, Sally, das ist es ja eben.«

»Was soll's – was wollen Sie, Pittje?«

»Heiraten, Sally.«

Man weiß aus alten Geschichten, daß beim Brüllen des Löwen in der Wüste Menschen und Tiere, die es hören, von einer Art Starrkrampf befallen werden; es ist ferner zur Genüge bekannt, daß beim Brande von Gomorrha und Sodom, wo der Herr Pech und Schwefel über die heimgesuchte Stätte regnen ließ, das neugierige Weib des Loth, von dem Geknatter und Gerassel des wütigen Elements auf das äußerste gepackt, in eine veritable Salzsäule verwandelt wurde.

Pittje hatte nun weder wie ein Berberlöwe in der Wüste gebrüllt, noch mit Pech und Schwefel geregnet, aber seine ganz ruhig hingeworfenen Worte hatten denselben Effekt erzielt.

Sally Süßkind stand sprachlos.

Er regte und rührte sich nicht, und erst nachdem ihn der erstaunte Pittje etliche Male gerüttelt und geschüttelt hatte, stellte sich allmählich das so jählings gestörte Gleichgewicht im Denken und Fühlen bei ihm wieder ein. Mit verstörten Blicken sah er in das stille und gute Gesicht seines Freundes. Er konnte es noch immer nicht fassen.

»Was wollen Sie, Pittje?«

»Heiraten, Sally.«

»Mit wem?«

»Mit Kathje.«

»Gott der Gerechte! – un darum...?!«

»Ja, Sally – und darum.«

Jetzt erst war der Produktenhändler wieder auf realem Boden angelangt.

»Wo rührend, wo rührend ...! Aber der Herr Vater von's Mädchen, der Herr Vater von's Mädchen! – Bedenken Sie! – un denn die ßweitausend Talers – die Auktion – der Pomeranz un der gezuckerte Kümmel! – Herr Pittje, bei die schönen Gefühle mit's Mädchen kommt 'ne Rebellionierung in Ihrem Kontobuche zustande!«

Mit halb von sich ausgestreckten Armen und nach aufwärts gedrehten Wurzelgelenken hielt ihm der Sprecher die inneren Handflächen und alle zehn gespreizten Finger entgegen, gleichsam um ihm das Fatale seines Vorhabens handgreiflich vor Augen zu führen. Dabei machte er ein Gesicht so wehleidig und so weltfern, als habe ihm Pittje gesagt, er ginge nach den amerikanischen Steppen, um sich dort von einem wütigen Siouxindianer skalpieren zu lassen.

Aber Pittje dachte gar nicht daran. Ein Anflug von Ärger spielte um seinen Mund, als er mit den Worten herausplatzte: »Machen Sie keine Dummheiten, Sally!« »Maimemmelochem! – Dummheiten, Pittje?«

»Na, dann – wenn's besser klingt: keine Redensarten. Aber ich frage Sie jetzt, rund und bündig, Herr Sally: können Sie diese zweitausend Taler beschaffen, und wenn Sie's können, wollen Sie mir dieselben gegen ortsübliche Zinsen und unter hypothekarischer Belastung dieses Hauses besorgen?«

»Un Ihre Ersparnisse, Pittje?«

»Sally, Sie kennen meine verheiratete Schwester Mielke in Rees?«

»Kenn' ich, Herr Pittje.«

»Und meinen Schwager?«

»Kenn' ich auch den. Er is gewesen ein gesunder un fleißiger Mann un is geworden ein kranker.«

»Und darum sind sie in Not gekommen,« ergänzte der Bittsteller, »und ich bin ihnen mit meinem Ersparten bis auf bessere Zeiten unter die Arme gegangen.«

»Sie sind ein großmütiger Mann – aber Sie sind auch ein Mann, der sich rungeniert mit die Wohltat un die schönen Gefühle.«

»Lassen wir das. Ich frage noch einmal: Sally, können Sie helfen, und wenn Sie können, wollen Sie helfen?«

»Herr Pittje, un das for die Heirat?«

»Ja.«

»Mit Kathje Peerenboom?«

»Ja.«

»Un Ihre liebwerte Mutter?«

»Ist einverstanden damit.« »Ich ehre Ihre liebreichen Gefühle – aber ßweitausend Talers sind ßweitaufend Talers, Herr Stadtrat! Bedenken Sie das Ende von's Ganze!«

Sally hob wie beschwörend die Hände.

»Es ist alles bedacht und reiflich überlegt. Und helfen wir nicht, dann hilft der Schellfisch, und die Kathje bekommt er als Draufgeld.«

Sally fuhr zusammen, als hätte ihn eine Bremse gestochen.

»Wer sagten Sie hilft?«

»Der Schellfisch.«

»Un wen bekommt er als Draufgeld?«

»Die Kathje.«

»Herr Pittje,« rückte nunmehr Sally heraus, nachdem er eine grandiose und selbstgefällige Pose angenommen hatte, »Herr Pittje, mit die ßweitaufend Talers – ich kann es.«

»Na – denn...!« »Schön,« sagte Sally, »will mal nachsehn ins Notizbuch, wie's steht mit die Gelder,« griff alsdann zur Linken und nahm ein abgelebtes Buch aus der Seitentasche des Nankingjacketts, feuchtete den Zeigefinger der rechten Hand an und blätterte lange in den beschriebenen Seiten.

»Hier steht's,« meinte er endlich. »Bin ich doch gestern gekommen von der Mannier un von Üdemerfeld un habe beaugenscheinigt das Korn auf dem Halm. Pompöses Getreide! – Herr Pittje, 's steht wie's preußische Militär, wenn sie machen Manövers mit die Lazeruntasch un die Schakos un die gefährlichen Flinten auf die Parade zu Kleve – un so hängen die Köpfe. Un dann: bin ich doch gekommen von die Herrn Müllers und die Herrn Bäckers in die ganze Umgegend von hier bis nach Xanten un habe abgeschlossen mit ihnen, um ßu liefern das Korn von die diesjährige Ernte for sechstausend Talers. Alles auf Stempelbogen un richtig beschrieben – un ich glaube, ich habe gemacht ein kleines Profitchen.«

»Gratuliere.«

»Un darum, Herr Pittje,« und Sallys Züge nahmen ein gönnerhaftes Gepräge an, »als ein lieber Freund von Ihnen, als Mitglied des Verschönerungsvereins un for die pompöse Rede heut morgen – ich schieße das Geld vor; zweitausend Talers zu vier Perzente das Hundert un Sicherstellung mit Ihrem Hause, Herr Pittje.«

»Mit Dank akzeptiert.«

»Aber zu Johanni im nächsten Jahre zurück.«

»Schön,« sagte Pittje.

»Un wir machen den Akt ßu die Hypothekenbestellung auf morgen beim Herrn Notarius Lenz am Hinteren Graben.«

Pittje gab ihm die Hand.

»Schön, Sally – und dann: Pst! von wegen der Hypothekenbestellung und Kathje,« und er legte verwarnend den Zeigefinger auf die vorgeschobenen Lippen.

»Herr Pittje, Sie haben sich mir würdig bewiesen un Ihre geheimnisvollsten un schönsten Gefühle in meinem Busen verstochen – ich verstehe ßu schweigen. Un nu, Herr Stadtrat, adjes – ich habe Geschäften.«

»Adjüs!« Und bald darauf tänzelte der Nelken-Sally wieder mit dem gehobenen Bewußtsein in der Brust, zwei liebe Menschen glücklich gemacht zu haben, über die Straße zurück und freute sich über seine schwarz-weiße Fahne, die lustig im Winde hofierte. –

Und langsam, eintönig, nur unterbrochen durch das melancholische Schlagen der Turmuhr, schlichen die Stunden dahin, und die Stunden schlichen sich in den Abend hinein, und der Abend in die geheimnisvolle Stille der Nacht. Und aus Morgen und Abend wurde ein neuer Tag, und Tag reihte sich an Tag, und Abend an Abend, und Nacht an Nacht – und so war der Morgen des heiligen Johannes gekommen, der Tag, an welchem laut Beschluß der zuständigen Behörde das transportable Eigentum des Puppenspielers in öffentlicher Auktion verkauft werden sollte. Draußen war inzwischen Sorge und Arbeit gewesen. Vom Morgengrauen bis spät in den Abend hinein hatte man das regelmäßige Wetzen und das charakteristische Schneiden der Sensen gehört. Die widerspenstigen Halme waren schwadenweise gefallen, und ein würziger, durchdringender Geruch war dabei von ihnen ausgegangen, untermischt von dem eigentümlichen Duft der mitniedergemähten Blumen. Und kräftige Menschen rechten die zu Boden gestreckten Halme und Blumen auseinander, ließen sie im Sonnenbrand trocknen und falben, häuften sie im Schweiße des Angesichtes und bildeten Schober um Schober. Resedafarben, einen würzigen Hauch ausatmend, reihten sie sich im dunklen Grün der geschorenen Wiesen und Triften und harrten der Einfuhr. Fast scheitelrecht, unbewölkt und blendend hatte während dieser Tage die Sonne gestanden. Eine strahlende Wärme ging von ihr aus und legte ein verblaßtes Grün über die hingeworfenen Schwaden – und inmitten derselben schafften fast alle unbemittelten Einwohner der kleinen niederrheinischen Stadt, die um das Heumachen und die Ernte sich mühten. – Schweiß und Arbeit auf den duftigen Halden! – und Kathje Peerenboom, die sich seit dem letzten Begegnen mit Mutter Pittjewitt einem begüterten Nachbar verdungen hatte, war unter den Burschen und Mädchen vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht hinein tätig gewesen. Seit jener Stunde schien sie so ganz anders geworden. Ein neuer Geist war in sie gefahren. Die Arbeiten mit Plätteisen und Nadel sagten ihr nicht mehr zu. Von verzehrender Hoffnung und Inbrunst gepackt, mußte sie schaffen und ringen da draußen, mußte verdienen – und wenn auch der karge Lohn auf den Wiesen den ihrer Arbeit im Hause nicht um vieles überstieg, so schaffte sie doch in Gottes freier Natur, konnte die Brust weiten und die erdige Kraft einatmen, die zaubergewaltig dem warmen Boden entströmte. Mit geblähten Nüstern, das grobe Hemd am jugendlichen Leib geklebt, hatte sie oft während der Arbeit gestanden und mit einem Seufzer der Hoffnung über die endlosen Flächen geschaut, die sich bis an das linke Rheinufer erstreckten, hinter dem zuweilen die weißen Segel erschienen, um still und geheimnisvoll stromabwärts zu treiben. Ein eigentümlicher Rausch, etwas Selbstquälerisches und doch ein hoher Genuß hatte in dieser Arbeit und in diesem gelegentlichen, Träumen und Hindämmern gelegen. Mit bloßen Beinen, um ›kommoder‹ schaffen zu können, nur mit einem grauen und dünnen Leinenkleide bedeckt, das Schultern und Arme freiließ, hatte sie mitgeholfen Schober um Schober zu richten, war durch das duftige Heu gewatet und hatte sich lachend die Haare und den leichtgebräunten Nacken von dürren Halmen und Hälmchen überrieseln lassen. Heupferdchen geigten dazwischen, und sie geigten ihr die Zukunft vor in rosigen Farben, die sie umstrahlten, als wäre sie eine Königin zwischen all den fleißigen Leuten gewesen. Die Burschen warfen heimliche Blicke auf sie. Die war doch anders wie die übrigen Mädchen! – Diese feingebildeten Knöchel, diese weibliche Anmut in jeder Bewegung – dieses verheißende, sinnliche Lächeln! – Und manchem kam's ums Herz, als hätte er die Halbentblößte an sich reißen müssen, um sie mit seliger Inbrunst zu küssen. So hätte sie Pittje sehen müssen! Sie dachte öfters an ihn. Sie hatte von seinem Triumph in der Sitzung gehört; ein eigentümlich getragenes Gefühl hatte sich dabei ihrer bemächtigt. Sie war stolz auf ihn geworden. Ob er wohl kommen würde? Wenn er doch käme! – Und wenn er es könnte – ob er dann um ihretwillen dem Vater beispringen würde? Ja, er konnte es, und wenn er es täte, dann sollte ein anderes Leben beginnen, ein Leben voll Arbeit, Mühe, Entsagung, aber auch reich an ersprießlichem Schaffen und inniger Liebe – und dem bisherigen Unglück wollten sie sich mit beiden Ellbogen entgegenstemmen, um dauernd glücklich zu werden. Und dieser Gedanke hatte ihren jugendlichen Leib erzittern gemacht. Mit tiefem Atemholen sog sie alsdann die heiße und doch köstliche Luft ein, die ihr vom Heu und den saftigen Wiesen entgegenwehte. Sie konnte von diesem schwülen Odem nicht genug bekommen und berauschte sich gleichsam daran. Und sie bog sich im Kreuz zurück, wischte den perlenden Schweiß von der Stirne und streckte die Arme, daß ihr Körper sich straffte, und sie griff mit ihren Händen in das Abendrot hinein, als müßte sie dort das Glück suchen, das sie mit heißer Seele erstrebte. Und dann stand sie und sah in die Landschaft hinaus, wo eine Lerche singend in den Himmel emporstieg. Und sie harrte auf Pittje, denn der mußte sehen, wie sie rackerte und schaffte, und mußte sich auch, gerade wie sie, betäuben lassen vom Geruch des geschnittenen Grases und von dem starken Hauch, der ihrem Leibe entströmte, und dann hätte er sie vor aller Welt in die Arme schließen müssen mit herrischer Gewalt und verzehrender Inbrunst. Das wäre Sättigung für sie gewesen, eine wahre Erlösung von der Leidenschaft, die sie seit einigen Tagen beherrschte. Aber Pittje kam nicht. Es wurde tief Abend. Das wachsende Dämmern wandelte das Wiesengrün in ein zartes Violett, aus dem die resedafarbigen Heuschober in verschwommenen Rissen emportauchten. Ein unendlicher, tiefblauer Himmel spannte sich darüber. Hin und wieder blitzte ein Stern auf. Ab und zu wurde noch eine Sense gedengelt. Vereinzelt tönte noch der scharfe Schnitt aus einem entlegenen Winkel, bis auch dieser verhallte. – Und Kathje Peerenboom atmete auf, brachte ihr Schnürleibchen in Ordnung und begab sich heimwärts, allein und nur von ihrer Sehnsucht begleitet. So war es seit dem Begegnen mit Mutter Pittjewitt schon Abend für Abend gegangen. – Und Jan Peerenboom hatte in seligen Träumen geschwelgt und mit der wasserhellen Flüssigkeit in seiner Schnapsflasche geäugelt, bis endlich der Termin der Zwangsversteigerung vor der Tür stand, und ein neuer Stempelbogen mit dem preußischen Kuckuck die oberen Planken, und zwar von Amts wegen, bedeckte. Es war Johanni geworden. –

Pittje Pittjewitt und Sally Süßkind hatten inzwischen alles Nötige beim Notar in Ordnung gebracht. Nur der Hypothekenbrief, der vom Schuldverschreibungsamt in Kleve ausgestellt werden mußte, ließ noch immer auf sich warten. Sie hatten's nicht eilig die Herren in der Kreisstadt dahinten. Über den betätigten Akt, über das Vorhaben, den Puppenspieler aus seiner bedrängten Lage zu reißen, wurde von Pittje wie auch von Sally Süßkind das größte Schweigen beobachtet. Das Herz voll Hoffnung, von der er selber nicht wußte, woher sie kam, wohin sie wollte und strebte, suchte Pittje gern die Einsamkeit auf. Ängstlich mied er daher auch die Stätte, wo tagsüber Kathje im Schweiße ihres Angesichtes arbeitete, und schlug vielmehr in den anbrechenden Dämmerstunden den stillen Pfad ein, der durch Roggen- und Weizenäcker und an schilfbewachsenen Kolken vorüber zu dem schmalen Höhenzug führte, dessen bewaldeter Rücken sich nicht weit von der kleinen Stadt aus in südwestlicher Richtung erstreckte. Hier zwischen den geliebten Birken, die er durch seine geschickte und mannhafte Rede vor dem scharfen Biß der gefräßigen Axt gerettet hatte, ging ihm das Herz auf, und der Sinn wurde hell, und den hellen Sinn durchblitzten frohe Gedanken, die ihm die schöne Zeit vorgaukelten, die da kommen sollte und mußte. Der Wald hauchte ihn an, schlanke Stämmchen strebten seitwärts aus dem feuchten Boden empor, und er ließ sich von den schwanken Ruten Nacken und Kopf umwehen, tätschelte die silberlichte Borke, und seine Seele breitete die Flügel und flog über die Landschaft, die sich prächtig mit ihren Weiden und wogenden Feldern vor seinen Füßen erstreckte. Den Horizont grenzte der Rhein ab. Wie das Spielzeug aus einer Nürnberger Schachtel standen Flecken und Dörfer, bis weit nach Holland hinein, inmitten von Wiesen und Saaten, und der Wind ging darüber hin und gaukelte über die Roggenfelder, die ein grüngrauer Schimmer, ein duftiger Puder umstäubte. Ein Wiesenweih stand rüttelnd darüber; dann sah Pittje, wie er reißend und mit angelegten Schwingen in das hohe Getreide hinabstieß. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn. Unmutig schied er an diesem Abend von seinem liebgewordenen Plätzchen. Unter Grübeln und Tüfteln schritt er der kleinen Stadt zu und sprach bei Sally Süßkind vor, ob der Hypothekenbrief inzwischen eingelaufen sei. Er war noch nicht da.

»Aber ßu morgen kommt er bestimmt,« hatte ihn Sally getröstet. »Die ßweitausend Talers liegen parat – die können Sie haben.«

Insichgekehrt war Pittje nach Hause gegangen. –-

Anderen Tages, also am Tage der Auktion, saß Jan Peerenboom auf dem großgemusterten Kanapee seines Künstlerzimmers, das in einer stillen Ecke, nicht weit von der Drehbank entfernt, sein beschauliches Dasein führte. Kathje war noch beim Heuen beschäftigt, mußte aber jeden Augenblick vorsprechen, denn ums Vesperläuten sollte die Zwangsversteigerung beginnen.

Jan Peerenboom, wenn auch grimmig gestimmt, harrte stoischen Geistes der kommenden Dinge. Der Künstler dachte nach, wobei er den niedergebrannten Zigarrenstummel bald in die eine, bald in die andere Mundecke hineinvoltigierte und wie sinnend das eisgraue Zickenbärtchen befühlte. Jan Peerenboom verschleierte nunmehr die schnapsseligen Augen und schüttelte bedenklich den Kopf. Er war mit seinem Latein zu Ende. Er verstand Pittje nicht und Kathje nicht – er verstand überhaupt die Welt nicht mehr, und dieses als Endresultat seiner langen Betrachtungen hinnehmend, spie er in hohem Bogen den ausgeglühten Zigarrenstummel in einen Winkel des Zimmers.

Kathje, die noch bis zum gestrigen Abend in seliger Hoffnung geschwelgt hatte, dann sich aber genötigt sah, auch ihrerseits eine glückliche Lösung der stattgehabten Mission in Zweifel zu ziehen, hatte sich heute früh ihrem Vater gegenüber noch einmal erboten, bei Mutter Pittjewitt vorzusprechen, um den Dingen eine andere Wendung zu geben. Aber Jan hatte sich grandios in die Sammetjacke geworfen, auf die Drehbank geklopft und die Worte ausgestoßen: »Buschur! – Du bist woll! – Kathie, nicht wegwerfen! – Immer nobel! – Anch' io sono pittore! – Himmel Sapperment noch einmal ...!« – und dann war Kathje hinausgegangen, war auf die Wiesen gegangen und hatte geweint wie ein Kind.

Und so war die Vesperstunde gekommen. Jan saß noch immer auf dem verschlissenen Sofa. Eine neue Zigarre, die er sich inzwischen angebrannt hatte, sollte ihm die Zeit totschlagen helfen. Das Mundstück derselben war bereits in das Stadium des Quastenhaften getreten – aber sie schmeckte, und es schien so, als wenn ihr brenzliges Aroma einen wohltuenden Einfluß auf die Gemütsverfassung ihres Inhabers ausgeübt hatte. Der verbissene Ingrimm war abgetan; der Geist des Elegischen, der Duldsamkeit und Ergebung war an seine Stelle getreten. Mit der imponierenden Ruhe eines Anachoreten, still vor sich hinlächelnd, nur ab und zu Tröstung aus der Schnapsflasche holend, die Beine gestreckt und die Hände in den Hosentaschen vergraben, so saß er auf dem großgemusterten Sofa und horchte melancholischen Blickes auf die verschiedenen Stimmen, die sich allmählich immer stärker auf der Straße bemerkbar machten.

»Murrgen!« sagte Jan.

Zur Trauerfeier des Tages hatte er sich, abgesehen von seinen Großkarierten mit Strippen, die er auch täglich benutzte, in seinen Sonntagsrock geworfen, hatte sich mit seinem altmodischen Zylinder gerüstet und war in weißbaumwollene Handschuhe gefahren – alles Zeichen einer gewissen Trauer und schmerzhaften Feier, die er anzulegen pflegte, wenn es galt, einem Freunde oder sonst einem guten Bekannten die letzte Ehre zu geben. Und warum auch nicht? Mit dem heutigen Tage wurden seine besten Freunde, seine Möbel, zu Grabe getragen. Das genügte für ihn. Er hatte sich mit Trauergewandung bekleidet.

Draußen wurden die Stimmen immer lauter und lauter. Einige keifende Weiber waren dazwischen. Er hörte deutlich, wie sie sich über den Zustand und die Verfassung seiner geliebten Möbel berieten.

Das tat seinem Künstlerherzen weh, und die Tränen wollten ihm kommen.

Jetzt wurde an die Tür geklopft.

Jan setzte sich in Positur, zog die Hände aus den Taschen seiner Behosung und legte die Weißbebaumwollten über die eckigen Kniee. Dann gab er sich einen Ruck.

»Angtree!« rief er mit forscher und hallender Stimme.

»Buschur!«

Der Herr Polizeidiener war mit seinen karmesinroten Aufschlägen, mit Helm und goldenem Portepee ins Zimmer getreten.

Herr Brill salutierte.

»Murrgen!« gab der Puppenspieler zurück.

»Herr Peerenboom,« sagte der Polizeidiener mit einem Anflug von weicher Betonung, »es tut mir ungemein leid. Ihnen als vorzüglichen Menschen und Künstler im gegenwärtigen Augenblick so entgegentreten zu müssen. Aber meine Pflicht, die Strenge des Gesetzes ...«

Durch ein mitleidiges Achselzucken gab er seinem tiefen Bedauern einen weiteren Ausdruck.

»Auch egal!« versetzte der Puppenspieler. »Aber Herr Brill,« und Jan nahm wieder von seinem Pathos und seiner Künstlerpose Besitz, »ein tiefes Weh ergreift mich von wegen der Unbarmherzigkeit der tiefgesunkenen Menschheit. Es schreit zum Himmel, Herr Brill, und mir ist es, als hätte sich das Unglück mit breitem Hintern auf meine Möbels gesetzt, daß sie jammernd entzwei brechen. Oh – über die Menschheit! – Ein Schnäpschen gefällig?«

»Gerne,« sagte Herr Brill, nahm die dargebotene Flasche in Empfang und gönnte sich ein herzhaftes Schlückchen.

»Merci!«

»Angtree!«

Der Herr Auktionator und sein Protokollführer traten ein, begrüßten Jan, drückten ihr aufrichtiges Beileid aus und rückten Tisch und Stühle zurecht, um wenigstens schon auf diese Weise die ersten Stadien der Versteigerung in die Wege zu leiten.

»Denn man los!« lallte Jan Peerenboom in tiefer Ergebung, zog sich auf sein gemustertes Sofa zurück, schlenkerte die Großkarierten übereinander und blies mit aller Resignation, sich in das Unvermeidliche schickend, die Wölkchen seiner tiefgebrannten Zigarre bis über den Tisch fort.

Inzwischen hatte sich die Stube des Puppenspielers mit Kauflustigen, mit Weibern und Männern, unter denen sich auch Aloys Pierentrecker befand, allmählich gefüllt, die tuschelnd und raunend dem Beginn des Trauerverfahrens entgegensahen.

Als Jan den Schnittwarenhändler, den vermeintlichen Bringer und Urheber seines Unglücks bemerkte, lief ein bitterböser Zug über sein elegisches Antlitz. Es kochte in ihm; er hätte dem Kerl an den Hals springen mögen.

»Sapperment noch mal!«

Schon hatte er sich halb aus seiner sitzenden Stellung erhoben, bezwang sich aber und brummte zwischen den Lippen: »Immer nobel! – Anch' io sono ...!« Dann sank er mit einem schweren Seufzer in die ausgeleierten Federn des Sofas zurück. Mit stumpfen Blicken folgte er den Bewegungen des Auktionators, der unter Beihilfe des Protokollführers Tinte und Papier zurecht legte, den Ganskiel anschnitt und schließlich unter geheimnisvollem Räuspern in verschiedenen Aktenfaszikeln herumblätterte.

Eine bängliche Stille ging für einige Augenblicke durch die mit Menschen angefüllte Stube. Ein intensiver Geruch, zusammengesetzt aus Zigarrenrauch, Pfeifenschmurgel und den charakteristischen Ausdünstungen ärmlicher Leute, kroch bis in die feinsten Ecken hinein, legte sich auf Tische, Stühle und Stempelbogen, und zwar so kompakt, daß es möglich gewesen wäre, handliche Stücke des dicken Brodems in eine Tüte zu packen. Die warme Juniluft tat das Ihre hinzu, so daß sich endlich der Herr Polizeidiener Brill genötigt sah, die nach straßenwärts gelegenen Fenster aufzuwerfen und frische Luft einströmen zu lassen. In langen Spiralen drehte sich der zähe, säuerliche ›Hecht‹ auf die Straße hinaus, um dort in Nichts zu verschweben.

Der Herr Auktionator legte die Faszikeln beiseite und wandte sich leise tuschelnd an seinen Gehilfen, der, zur Schonung seines schäbigen Überrocks mit einer kattunenen Ärmelstauche bewaffnet, sich damit beschäftigte, die Biegsamkeit der Gansfeder auf dem Daumennagel der linken Hand zu probieren. Ein bittersüßes Lächeln lief über das abgehärmte Gesicht des schmalschultrigen Mannes, der bis jetzt die schönste Zeit seines Lebens hinter wackeligen Pulten verbracht hatte, und dessen äußerst bescheidener Garderobe ein ausgeprägter Geruch nach eingetrockneter Tinte und modrigen Aktenbündeln entströmte. Mit diesem bittersüßen Lächeln sah er zuerst auf Jan Peerenboom, dann auf die schwere ›Halosi‹, eine faustgroße Zwiebeluhr, die er einem Messinggehäuse entnahm und nach Befragung wieder in die Westentasche hineinschob.

Der Herr Protokollführer nickte.

Es konnte bald losgehn.

Kathje, die, mittlerweile vom Heuen zurückgekehrt, sich durch die Hintertür ins Nebenzimmer begeben hatte, machte sich zwischen Tür und Angel durch ein leises Hüsteln ihrem Vater bemerkbar. Dieser, als er sie endlich gewahrte, zuckte schmerzlich die Schultern, was soviel bedeutete als: »Er ist nicht gekommen – der Pittje!« – ein stummer Ausdruck der Verzweiflung, der Kathje taumelnd zurückwarf und sie weinend in eine Ecke der Stube hineindrückte. Ihre besten Hoffnungen, denen sie noch halbwegs gelebt hatte, waren mit einem Male zerschlagen.

»Pittje! – Pittje...!«

Ein eisiges Frösteln durchlief ihren Körper.

Von draußen tönte in diesem Augenblick die Vesperglocke herüber.

Aloys Pierentrecker machte dazu das Zeichen des heiligen Kreuzes. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!« betete er mit verhaltener Stimme, aber noch immer laut genug, um von den zunächst Stehenden deutlich gehört zu werden. Der Protokollführer befragte noch einmal die neusilberne ›Halofi‹ und nickte dem Herrn Brill zu.

Dieser verstand ihn, schlug dreimal mit einem bereit gelegten Hammer auf die Platte des Tisches und sagte: »Im Namen des Königs!«

Das ›Im Namen des Königs‹ stellte allgemeine Ruhe und Aufmerksamkeit her. Die kauf- und schaulustigen Männer und Weiber, die bislang die zu versteigernden Gegenstände untersucht, in Töpfe und Schränke die Nase gesteckt, alles Abschätzenswerte befühlt und betastet und die Yorkshire-Sau einer gründlichen Beaugenscheinigung hinsichtlich des zu erwartenden Fleischwertes unterzogen hatten, placierten oder drängten sich an den Tisch, wo der Herr Auktionator amtierte, um ihre Angebote zu machen.

»Im Namen des Königs!«

Der Herr Polizeidiener Brill hatte zum anderen Male gerufen.

Der Auktionator erhob sich.

Die Zwangsversteigerung nahm ihren Anfang.

»In Sachen Aloys Pierentrecker, Schnittwarenhändler dahier, contra Jan Peerenboom, Drechslermeister und Puppenspieler, ebenfalls in hiesiger Stadtgemeinde domiziliert,« also begann er, »ist auf Beschluß des Königlichen Friedensgerichtes zu Goch Termin für die Zwangsversteigerung anberaumt worden auf den heutigen Tag – und bin ich beauftragt, fragliche Amtshandlung in die Wege zu leiten. Von Rechts wegen!«

Hierbei warf er einen flüchtigen Blick auf den Puppenspieler. Der aber starrte ins Leere, als vernähme er kein Wort von dem, was um ihn vorging.

»Und daher,« also fuhr der Auktionator mit erhobener Stimme fort, »stelle ich zuerst eine trächtige, kapitale Yorkshire-Sau zum Verkauf aus. Wer bietet?!«

Was wollte der Kerl ...?!

Seine trächtige Yorkshire-Sau?! – Sein ein und alles ...?! – Sein Glück – sein Leben – seine zukünftige Hoffnung ...?!

Schmerzlich zuckte der Puppenspieler auf seinem Sofa zusammen.

»Himmel Sapperment noch einmal ...!«

Er fuhr mit seinen weißbebaumwollten Händen in die Luft. Machtlos sanken sie auf die Kniee zurück. Eine Pompefunèbrestimmung ergriff ihn. Er hörte nicht mehr, was um ihn vorging, was die Leute wollten, sprachen und boten. Polizeidiener, Auktionator und Protokollführer, Tische, Stühle und Schränke – alles tanzte um ihn und wirbelte wie die bunten Glassplitter in einem Kaleidoskop wirr durcheinander. In dichten Nebelschleiern zog es an seinen Blicken vorüber, aber im Nebel dahinten – Herr Jeses noch mal! – was kam da gewandelt, so lieblich grunzend, so elfenbeinweiß und so kräftig geborstet, so rosig und mit durchscheinender Haut ...?! – Ja, sie war es, seine zukünftige Hoffnung, die Wurst- und Schinkenträgerin, sein ein und alles – die Sau. Jetzt quiekste sie auf und schwebte vorüber. Die Ärmste! – Um den Hals hatte sie eine Pleureuse gebunden; lange Trauerflore wehten von dem gedrechselten Schwänzchen. Jan wälzte sich wie ein Torquierter auf dem stöhnenden Sofa. Dumpf, wie Grabeslaute kamen ihm die Worte entgegen: »Also die Yorkshire-Sau. Wer bietet zum ersten?«

»Zwanzig Taler!«

»Zwanzig Taler sind geboten. Wer bietet mehr?«

»Zwei und zwanzig!«

»Drei und zwanzig!«

»Drei und zwanzig Taler – zum ersten!«

»Nur drei und zwanzig Talers – ein Sündengeld, ein Spottgeld, ein Garnichts!« wimmerte Jan.

»Dreißig Taler!« kam es aus einer Ecke gefahren.

»Zwei und dreißig!«

»Zwei und dreißig!« wiederholte der Auktionator, »zwei und dreißig – zum ersten!«

»Drei und dreißig!«

»Drei und dreißig – zum ersten!«

»Vier und dreißig!«

»Vier und dreißig – zum ersten und zweiten!«

Der Auktionator ließ musternd die Blicke umhergehn. Die Kauflust und mit ihr ein höheres Angebot schien im Hinblick auf den ausgestellten Gegenstand abflauen zu wollen.

»Vier und dreißig Taler fünf Groschen!« kam es noch einmal, aber schüchtern aus der nämlichen Ecke.

Der Auktionator hatte den Hammer ergriffen, und der abgehärmte Protokollführer tunkte mit einem süßlichen Lächeln, das wie angegorenes Birnenmus schmeckte, seine Feder in das breitbauchige Tintenfaß ein. »Vier und dreißig Taler fünf Groschen! – Wer bietet mehr?«

Alles blieb stumm.

»Vier und dreißig Taler fünf Groschen – zum ersten, zum zweiten und ...«

»Fünfßig Talers!«

Lächelnd blickte das vergnügte Gesicht des Nelken-Sally von der Straße ins Zimmer.

Eine Lachsalve begrüßte ihn.

»Der Sally!« kam es ihm jubelnd von allen Seiten entgegen.

»Sally will Schinken mangieren!«

»Angtree, Sally!«

»Sally, placiert Euch!«

»Hurra, Sally!«

»Gleich, meine Herrens! – Fünfßig Talers noch einmal!«

Er hatte mit heller und zuversichtlicher Stimme gerufen, verschwand vom Fenster und schob sich alsbald mit einer prächtigen Nelke, die er zwischen den Zähnen balancierte, ins Zimmer.

»Herr Polizeidiener Brill ...!«

Er machte diesem eine tiefe Verbeugung.

»Herr Auktionator von's Ganze, Herr Protokollführer – ich habe die Ehre!«

Wieder ein Diener.

»Aber, die Herrens,« und Sally trat näher, »die Sache hat for uns alle ein liebliches un erquickungsreiches Ende gefunden – die Auktionierung is aus jetzt,« und ohne sich weiter um die verblüfften Gesichter, um die plötzlich eingetretene Totenstille zu kümmern, zählte er, unter ständiger Anfeuchtung seines rechten Daumens, achthundert Taler in preußischen Kassenscheinen, die er einem abgegriffenen Portefeuille entnahm, auf den Tisch auf.

»Herr Süßkind ...« stammelten die Männer des Gesetzes.

Alles stand wie festgenagelt, nur Jan Peerenboom, der bislang dem Phantom seiner Sau nachgejagt hatte, fuhr, wie mit der Wünschelgerte entzaubert, aus seinem lethargischen Dusel. Er hielt Sally für einen Gottgesandten, für einen Engel des Herrn. Er wollte vorwärts gehn – aber die Beine waren wie mit Blei ausgegossen, er wollte die Stimme erheben, er wollte jubilieren und singen – allein die Zunge versagte. Nur unartikulierte Laute brachte er mühsam zustande. Er schien dem Tollhaus entwischt. Alles drehte sich ihm wie ein Karussell mit blitzenden Fähnchen und Lampen. Und der Leierkasten tönte dazwischen, und der Karussellbesitzer schwadronierte mit heiserer Stimme: »Uffgesessen! – Wer viermal drückt, kann einmal fahren! – Uffgesessen die Herren!« – Sich drehende Holzpferdchen, Schaukeln und bunte Ballons, Blechdeckelgeräusch und Orgelgedudel – und Jan Peerenboom mitten dazwischen.

»Achthundert Talers – und das bei den miserabelichten Zeiten ...!«

Jan hörte die Engel im Himmel pfeifen, und Sally Süßkind war der Oberengel von allen.

»Ich bitte Herrn Aloys Pierentrecker,« rief Sally, »dies Papier als Quittung unterschreiben ßu wollen.«

»Aber, Herr Süßkind ...«

»Achthundert Talers in preußischen Kassenscheinen. Die Sache is richtig. Ich bitte um Quittung.«

Der Schellfisch unterschrieb, kassierte das Geld ein und drückte sich, gefolgt von der kauflustigen Menge, die sich getäuscht sah und ihm ein heulend Geleit gab.

Mit selbstgefälliger Miene schritt Sally auf den Puppenspieler zu und behändigte ihm das vollzogene Schriftstück. »Herr Peerenboom, ich habe die Ehre.«

Die Männer des Gesetzes gratulierten und gingen.

Jan hatte bis jetzt alles willenlos wie ein Träumender über sich ergehen lassen. Er befühlte sich vom Kopf bis zu den Füßen und wußte nicht, ob er noch lebend oder schon tot war. Ein Rechenexempel ging ihm durch den Sinn, das intakte Vorhandensein seines Verstandes zu prüfen. Allein, wie er auch dachte und tüftelte, er konnte sich keine Rechenschaft mehr darüber geben, ob zwei mal zwei vier oder fünf sei. Jetzt aber, wo er das Schriftstück in Händen hatte, wo ihm quittiert achthundert Taler vor Augen tanzten, wo es dastand schwarz auf weiß und zu Recht unterschrieben – da war's alle mit ihm.

Es packte, es griff ihn.

»Sally! – Göttlicher Mensch! – Engel des Herrn! – Sally, an meinem Herzen gehörst Du!«

Und bevor es sich dieser versah, hatte ihn Jan mit starken Armen umfaßt, ihm die Hände mit den baumwollenen Handschuhen auf den Rücken gedrückt und ihn an sich gezogen.

»Sally! – Gemütsmensch! – Meine Yorkshire-Sau! – Sally ...!«

»Herr Peerenboom, ich geh' ja kapores!«

»Sally, 'nen Kuß, 'nen Kuß!«

»Herr Peerenboom, ich geh' ja kapores for die Gewalt!«

»Sally, ich muß ja, ich kann ja nicht anders!«

Sie fuhren zusammen.

Ein jubelnder Schrei wurde in diesem Augenblick aus dem Nebenzimmer vernommen.

»Zaperlot – wer hat da gerufen?!« –

Pittje, der sich soeben durch den Garten geschlichen, hatte an die Kammertür gepocht, wo sich Kathje befand.

Sie horchte auf. – Wenn er es wäre, wenn er trotzdem noch käme!

»Wer ist da? – Pittje, bist Du es?«

Sie taumelte, stutzte, dann stürzte sie vorwärts und dann – von verzehrender Sehnsucht, von wildem Durst gepeinigt, war sie in seine Arme gefallen.

Er riß sie an sich und hielt sie zum ersten Male umfangen.

»Kathje ...!«

»Pittje ...!«

Lange und innig ruhten die Lippen zusammen.

Nebenan wurde die Tür geöffnet.

»Herr Peerenboom,« flüsterte Sally, »bedanken Sie sich bei dem da. Der hat sich aufgeopfert for Sie un Ihre jungfräuliche Tochter. Ach, wo rührend, Herr Pittje!«

Und da standen vier glückliche Menschen zusammen und wußten nicht, was sie sagen sollten. Und als sie schieden, da legte Pittje den Zeigefinger auf seinen Mund und wandte sich an Sally.

Dieser verstand ihn.

»Pst!« sagte Sally.


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