Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVI.
Madonna

Dämmerungen gingen über die Erde. –

Die fünf Finger der Gewitterhand, die sich jenseits des Rheines stetig mehr streckten, ließen die werdende Dunkelheit noch größer erscheinen. Immer unheimlicher begann das Wetterauge zu zwinkern. Jetzt: kaum merklich, aber ständig rückten die düsteren Schichten vor. Es konnte höchstens noch eine Stunde währen, dann mußte der Herr mit seiner grollenden Sprache beginnen.

Eine große Stille bereitete auf das Kommende vor.

Die Natur hielt den Atem an. Nur in den Pappelkronen spielte noch von Zeit zu Zeit das verdächtige Rascheln. Die Kühe standen in den Weiden, ließen vom Grasen ab und äugten stumpfsinnig in die tiefliegenden Wolkengebilde.

Knechte und Mägde, die in den verschiedenen Koppeln gemelkt hatten, zogen mit ihren Milchgefäßen eiligst nach Hause. Die Vorsichtigen unter ihnen trieben ihre Kühe heimwärts. Sie befürchteten Schlimmes.

»Das kommt mit Hagel und Schloßen,« meinten die Wetterkundigen.

Es war dieselbe Befürchtung, die der alte Müller bereits vorher ausgesprochen hatte. Die scharfe Umrahmung der brütenden Wolken war eine noch intensivere geworden. Jedesmal fieberten sie grell auf, wenn das Wetterleuchten seinen Schein drüber legte. Die vorwärts schiebende Wand blieb noch stumm wie ein Fisch. Sie sprach noch nicht; aber das sollte bald kommen.

Sally Süßkind war bis in die Höhe des stattlichen Dorfes Hanselaer gerannt, das, zwischen Obstbäumen und Weiden eingebettet, etliche Büchsenschußweiten von der kleinen Stadt entfernt lag. Bei klarer Luft und helllichtem Tage konnte man von hier aus die beiden Stumpftürme von Rees sehen, die gewissermaßen ein sprechendes Wahrzeichen für die ganze Niederung abgaben.

Sally ahnte sie nur – konnte aber die weiße Chaussee, die in Richtung auf den Rhein führte, eine geraume Strecke Weges verfolgen.

Die Straße war menschenleer.

Instinktiv hatte er sich an einem Chausseestein aufgepflanzt und versuchte der Landstraße eine menschliche Gestalt abzuringen. Die Gestalt sollte Pittje sein; aber sie kam nicht.

Seine Unruhe wuchs.

Noch war es Zeit; noch war nicht alles verloren. – Wenn er nur käme!

Hinter seinem Rücken brummte die Turmuhr.

»Halb neun,« sagte Sally.

Er schärfte sein Ohr, denn seine Blicke wollten ihm ihre Dienste versagen.

Bald darauf hatte er das unbestimmte Gefühl, als wenn er Schritte vernähme. Jetzt bemerkte er auch, daß sich etwas zwischen den niedrigen Bäumchen bewegte.

Und Sally Süßkind begann wieder zu traben.

Immer näher kamen die Schritte; sie klangen ihm wie himmlische Musik.

Plötzlich blieb er stehn und tat einen Luftsprung.

»Moses un die Propheten ...!«

Sally kannte sich nicht mehr. Er hatte auf Pittje, wie Jakob auf Rahel gewartet.

»Pittje!« rief er mit einer fast jubelnden Stimme.

Ja – es war Pittje.

Er kam von Rees. Sein Gang war unsicher, denn er hatte vieles zu tragen: Gram und Not und eine ganze Last quälender Sorgen. Sein Geist aber war seinen müden Schritten weit vorausgeeilt. Mit Bangen und Zagen hatte er das dunkle Reich der Zukunft betreten und dort Umschau gehalten. Was er dort vorgefunden, war nicht geeignet, seinen Lebensmut in heitere Bahnen zu lenken. Düstere Schatten umhüllten seine Seele und hinderten jeden freudigen Ausblick. In dieser Stimmung traf er mit Sally Süßkind zusammen.

»Nu – wie steht es bei Mielke?«

»Wie soll es stehn?« erwiderte Pittje. »Schlimm steht es, Sally. Heute mittag gegen vier habe ich meinem Schwager die Augen zugedrückt. Gott sei gedankt, daß er tot ist – denn was sollte er noch?! Es war nichts mehr zu retten und zu helfen – und der liebe Gott hat ein Einsehn gehabt und ihm seine ständigen Qualen genommen. Aber meine arme Schwester – die sitzt so recht im Elend dahinten.«

Pittje wandte sich ab. Es wurde ihm schwer, weiter zu sprechen.

Sally drehte verlegen an seinem oberen Rockknopf.

»Un Sie, Pittje ...?«

»Je, Sally, was soll es mit mir sein?! Mutter ist bei Mielke und den Kindern geblieben, damit da drüben die traurige Sache so'n bißchen auf Schick kommt, und ich will nach Henseler, einen Sarg für meinen Schwager bestellen. Er macht's billiger, denn wir müssen rechnen, und dann hab' ich mir weiter gedacht, daß Sie, Sally, die Freundlichkeit hätten und mit ihrem Schimmelpferdchen ...«

Sally nahm ihm die Bitte vom Munde.

»Un wie – un wie ...!« rief er mit verhaltenem Schluchzen. »Wenn's sein muß, fahre ich die schwarze Lade selber herüber. Es soll mir 'ne Ehre sein for Ihren Herrn Schwager.«

»Das wußte ich ja,« lächelte Pittje und gab ihm die Hand hin. »Nun aber kommen Sie, Süßkind, daß wir Wilmke noch treffen; morgen früh muß er gleich an die Arbeit. Außerdem wird's mit dem Gewitter bald losgehn.«

Pittje wandte sich zum Gehen.

Der arme Produktenhändler aber blieb noch. Betreten tastete er nach der Hand seines Freundes.

»Na, Sally, was gibt's denn?«

»Herr Pittje,« platzte dieser los, »ich habe Ihnen noch was Wichtiges ßu sagen.«

Der Mann zitterte vor innerer Erregung. Es war gut, daß es schon dunkel geworden, sonst hätte Pittje die Tränen bemerkt, die über die Wangen des ehrlichen Juden liefen.

»Herr Pittje, sind Sie bei 'ner guten Verfassung?«

»Den Umständen nach – ja, Sally, das bin ich.«

»Schön – ich habe ßu sprechen mit Ihnen.«

»Ich weiß, was Sie wollen.«

»Herr Pittje, das wissen Sie nich. Ihr ganzer inwendiger Mensch dreht sich nach außen, wenn Sie es hören. Es gibt 'ne Revolutionierung in Ihrem unschuldsvollen Hause, Herr Pittje.«

»Und dennoch weiß ich es,« versetzte dieser mit gelassener Ruhe. »Ich habe von Ihrem Unglück gehört. Die Ernteaussichten sind schlecht. Ich weiß, daß Sie Kontrakte getätigt haben, die Sie möglicherweise in Ungelegenheiten bringen werden. Ich sage es Ihnen gerade heraus: Sie befürchten in Zahlungsschwierigkeiten zu geraten, und daher ...«

Sally gestikulierte mit Händen und Beinen.

»Herr Pittje ...!«

»Ich kann es verstehn. Ihre Lage ist schlimm, wenngleich ich Ihnen zur Beruhigung mitteilen kann, daß sich jenseits des Rheines keine Mäuseschäden gezeigt haben. Kaufen Sie da – und ich bin überzeugt, Ihre fatale Situation wird sich doch anders anlassen, als es jetzt den miserablichten Anschein hat.«

»Aber das is es ja gar nich ...!«

»Ja, Sally, das ist es – und was mich betrifft, so bin ich gerne bereit, mir den Rückzahlungstermin weiter nach hierhin schieben zu lassen.«

»Maimemmelochem! – ich bitte Ihnen, Herr Pittje!«

»Aber, Sally, bis Weihnachten müssen Sie warten – und dann weiß ich noch kaum, wo ich's hernehmen soll. Mein kleines Kapital, was ich Mielke geliehen, ist während der langen Krankheit ihres Mannes so allmählich durch die Hände gelaufen – und was ich selber noch habe ... je, Sally, das wissen Sie besser.«

»Ja, Pittje, das weuß ich, das weuß ich ...!«

»Aber arbeiten kann ich, und arbeiten will ich. Schaffen will ich wie'n Stück Vieh und sparen und hungern, daß Sie nicht zu kurz kommen, Sally. Sie und ich, wir beide haben schon unser Päckchen zu tragen ...«

Pittje hatte einen Fluch auf den Lippen.

Da war's alle mit Sally. Beide Hände streckte er gen Himmel.

»Aber Ihr Päckchen is größer!« schrie er plötzlich los, als wäre ihm das Erlebte mit ganzer Wucht jählings auf die Seele gefallen. »Ihr Päckchen is größer, wird größer – un 's kommt noch schlimmer, Herr Pittje!«

»Sally, Sie sind wohl ...!«

»Ah!« machte Sally.

»Gottdomie – was kommt noch?«

»Nu, das, was ich sagen wollte ßu Ihnen – das mit dem Koßmann ...!«

»Um Gottes willen – was ist denn?!«

»Ich will nich heißen Sally Süßkind, wenn ich's nich gehört hätte, das mit dem Koßmann!«

»Was mit dem Koßmann ...?«

»Nu – das hinter die Hecken. Ich wollt's Ihnen schon eher sagen – aber es ging nich. Das Unglück mit Ihrem geehrten Schwager is dazwischen gekommen.«

Vor den Blicken Pittjes begann es zu nebeln. Er hatte noch keine klare Empfindung von dem, was ihm gesagt worden. Verworren drang ihm alles zu Ohren.

»Aber, Süßkind, so reden Sie doch, sprechen Sie doch! – Gottverdammich, was wissen Sie denn?!«

»Nu – daß er kommt, sie ßu besuchen in ihrem eigenen Hause, wo Herr Peerenboom spielt mit die Puppen in Wissel.«

»Wer?«

»Ull Koßmann.«

»Bei Kathje?«

»Bei Kathje.«

»Wann?«

»Heute ßu Abend.«

»Sally ...!«

Pittje stieß einen gellenden Schrei aus. Er wäre getaumelt, hätte er sich nicht an einem Chausseebaum gehalten. Seine Nägel krallten sich in die rissige Borke. Dann stürzte er haltlos und mit geballten Fäusten auf den Mann, der ihm dieses angetan und gesagt hatte.

»Aber ich bitte Ihnen, Herr Pittje!«

»Sally,« knirschte der Ärmste, »ich dreh' Ihnen den Hals um, ich würge Sie, Sally ...!«

»Ich will nich heißen Sally Süßkind, Herr Pittje ...!«

»Mensch ...!«

In aller Ruhe hob Sally die Hand auf und streckte zwei Finger nach oben.

Da wußte Pittje, daß ihm die nackte, kalte Wahrheit die Kehle verschnürte. Dem fürchterlichen Ernst des ihm Gegenüberstehenden konnte er sich nicht mehr entziehen. Um seine Sinne legte es sich wie mit eisernen Klammern. Sein schöner Himmel fiel über ihn, woran er geglaubt und gehangen hatte mit durstender Seele. Mit ihm selber ging es dann tiefer und tiefer – ins Bodenlose; er konnte keinen Halt mehr gewinnen. Er fühlte sich von eisigen Fingern betastet ...

Fröstelnd faltete Pittje die Hände.

»Mutter, Mutter, es ist gut, daß Du nicht hier bist, um das in dieser Stunde erleben zu müssen!«

Ein Ekel ergriff ihn. In seinem grenzenlosen Schmerz konnte er keine Träne mehr finden. Aber lachen – das konnte er noch: lachen, lachen, lachen. Und er lachte, daß sich Sally Süßkind vor Grausen und Entsetzen schüttelte.

»Kommen Sie, Sally.«

In einer kleinen Viertelstunde erreichten sie das Wasser, das am Hause des Puppenspielers vorbeifloß. Unter der Brücke gurgelten die trüben Wellen bleiern vorüber. Drüben schien alles zur Ruhe gegangen. Auch die Stadt war ruhig.

Die Pappeln, die an den Ufern standen, begannen leise zu sausen. Über sie fort zogen die ersten Vorboten des nahen Gewitters. Sie hatten langsamen Flug. Kaum wahrnehmbar, in langen Streifen und Fetzen auseinandergerissen, rückten sie vorwärts. Auch das eigentliche Wetter wollte noch immer so recht nicht vom Platze. Zeitweilig schien es, als sei es an den Himmel genagelt, so wenig ließ sich in seinen düsteren Schichten eine Bewegung erkennen. Die fünf ausgestreckten Finger waren nur länger und breiter geworden. Wie eine mächtige Schattenhand deutete es auf das klevische Land hin.

Jenseits der Brücke flimmerten noch vereinzelte Lichter. Es machte den Eindruck, als wollten sie den unsicher vorwärts suchenden Wolkenplänklern den Weg zeigen. Etliche dieser tiefziehenden Segler häkelten sich um Giebel und Knäufe.

Dem langsam fließenden Wasser weiter stromabwärts zu kauerten sich niedrige Schatten. In halber Höhe derselben standen feurige Scheiben. Kopfüber tauchten sie ihre Strahlen in den schwarzen Spiegel, gleichsam als sollten dort leuchtende Balken eingerammt werden. Von dorther kam ein dumpfes Gepolter. Es waren die Wasser, die sich über das aufgezogene Wehr stürzten und mit den stöhnenden Radschaufeln Zwiesprache hielten. In den Mühlen herrschte noch regsame Arbeit.

Pittjes Augen bohrten sich in das gegenüberliegende Häuschen. Friedlich lag es zwischen Bohnenstangen und Obstbäumchen. Kein Lichtstrahl flimmerte aus den verschwiegenen Mauern. Wie ausgestorben ruhte es inmitten des kleinen Gartens. Am Fuße desselben raschelte es in den glasharten Stengeln des Rohres und den bräunlichen Wedeln des Rieds, das sich schwankend bewegte.

»Hier ist mein Platz,« stammelte Pittje, »hierhin gehör' ich – und das Weitere kommt noch.«

Keine Muskel spielte in seinem Gesicht.

»Ein Schuft will ich sein ...«

Das Folgende schluckte er grimmig herunter.

Er drehte sich um.

»Wollen Sie mir einen Gefallen tun, Sally?«

Sally nickte.

»Dann bleiben Sie hier und warten auf mich – hier auf der Brücke ... Ich habe dort eine Arbeit zu machen.«

Mit festen Schritten ging er über den steinernen Bogen, tastete nach dem lockeren Staket und drang in das Gärtchen. Die verwahrlosten Wege verbreiteten eine ungewisse Dämmerhelle. Als er sich um das kleine Haus herumtappte, hatte er das unbestimmte Gefühl, als ob er das Rauschen eines Raubvogels vernähme. Er griff in die Luft, um den Vogel zu greifen; er wähnte, daß dieser sein Glück mit starken Krallen davontrüge. In dumpfer Betäubung drehte er sich an den Bohnenstangen vorbei; er hatte den hinteren Ausgang gewonnen und sah das Fenster an Kathjes Zimmer erleuchtet. Ein Vorhang war darüber gelassen. Grell stand die helle Fläche zwischen den nackten Mauern und sandte einen unsicheren Schein in den umdüsterten Garten.

Auf den Fußspitzen näherte er sich dem verhangenen Fenster.

Ein Schatten bewegte sich hinter der weißen Gardine; gleich darauf flüsternde Stimmen ... Sie drangen aus dem Zimmer ins Freie; dann klinkte da drinnen fast geräuschlos eine Tür ein.

Also Kathje war zu Hause – und bei ihr ...

Eine wütende Faust saß ihm an der Kehle. Er konnte nicht mehr schlucken; sein Gaumen war trocken. Irre Funken tanzten an seinen Blicken vorüber. Seine Pulse klopften, und das Fieber war in ihm.

Er mußte an seine Mutter denken, an seine Mutter und Mielke.

»Mutter, Mutter!« stammelte Pittje.

Er biß sich die Lippen blutig. Eine fremde Gewalt zog ihn näher.

Er stand dicht an der Giebelwand, und jetzt bemerkte er erst, was er vorher nicht wahrnehmen konnte. Ein Zipfel des Vorhangs hatte sich zur Seite geschlagen und gewährte einen Blick in das grellerleuchtete Zimmer.

Hinter sich das geheimnisvolle Dunkel der zwinkernden Nacht und vor sich die engbegrenzte Szene, das Podium, auf dem seine Seele zu Tode gehetzt werden sollte – so stand der arme Mensch und preßte die fieberheiße Stirn gegen die Scheiben.

Es war nur ein schmaler Streifen, den er zu überblicken vermochte, aber alle Gegenstände, die in diesen engen Rahmen hineinpaßten, standen unter dem Banne einer hellen Beleuchtung.

Er konnte die eigentümliche Lichtquelle nicht sehen. Ihr reflektierender Schein fiel auf einen Tisch, auf dem verschiedene Zeichenutensilien lagen.

Vor demselben saß eine hohe Gestalt, sichtlich mit einer Arbeit beschäftigt. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und die Beine übereinander geschlagen.

Pittje bog sich zurück, um der rastlos keuchenden Brust Ruhe und Atem zu geben.

Auch die Tür, die zur Nebenkammer führte, konnte er deutlich erkennen. Rechts davon standen rote und weiße Papierrosen auf einer alten Kommode. Sie paßten so recht zu der ärmlichen Stube.

Jetzt erhob sich die Gestalt und begab sich langsam und gesenkten Hauptes zur Linken.

Pittje fuhr auf.

»Ull Koßmann!« stöhnte der Ärmste.

Sein Blick irrte rückwärts und schien zwischen den Knüppeln der Bohnenstangen zu suchen, über welche sich ein Lichtbalken des erhellten Fensters gelegt hatte.

»Ull Koßmann ...!«

Fast gleichzeitig wurde die Tür zur Nebenkammer geöffnet.

»Ah ...!«

Ihn durchlief es wie mit einem schartigen Messer.

Kathje war ins Zimmer getreten. Wie eine Nachtwandlerin, schweren Fußes kam sie gegangen. Ein unscheinbares Tuch war um ihren Oberkörper gelegt, aber nur lose und leicht, so daß Hals und Schultern halbnackt und blond wie reife Kornähren hervorsahen. Geisterhaft, das Veilchenblau ihrer Augen mit den dunklen Wimpern beschattend, war sie vorwärts geschritten. Sie hatte sich seltsam gewandelt.

Ull Koßmann trat ihr entgegen. Mit lechzenden Augen schien er jede Linie dieses Schönheitszaubers zu trinken.

Er streckte die Hand aus; sie folgte zögernd und mit ängstlichem Lächeln. Gleich darauf waren sie aus dem Gesichtskreis Pittjes getreten. Nur die toten Gegenstände standen in blendendem Licht vor seinen verzweifelten Blicken.

Das also war Kathje, sein Kathje ...!

Mit beiden Händen war er an seine Schläfen gefahren. Er mußte sich mit den Ellbogen auf das Fenstersims stützen, um nicht nieder zu taumeln.

Da kam die Wut über ihn.

Schon wollte er losbrechen – da wurde drinnen gesprochen.

Es waren flüsternde, bittende Laute. Er verstand sie nicht; nur den Sinn vermochte er locker zu deuten. Dann hörte er ein stehendes Schluchzen, dem eine tiefe Stimme folgte.

Ein Schatten huschte über die weiße Gardine.

Es war Ull Koßmann, der zur rückwärts gelegenen Tür ging und sie abschloß.

Wiederum stand das schöne Mädchen in voller Beleuchtung. Das Licht flimmerte auf den braungoldigen Haaren. Ein fliegendes Feuer rötete ihre wachsbleichen Wangen. Mit den Fingerspitzen beider Hände hatte sie das Tuch in Höhe der Schulter genommen. Pittje wandte sich ab.

»Madonna,« flüsterte eine verzehrende Stimme.

Da hatte er plötzlich die dunkle Empfindung, daß jetzt etwas geschehen sollte und mußte.

Und wie er aufblickte, da sah sie den Maler mit scheuen, fragenden Blicken an. Große Tränen standen in ihren Augen.

»Madonna!«

Gebieterisch klang es.

Da ließ sie die Zipfel des Tuches fahren. Langsam, fast widerwillig, glitt es von den weichen Schultern herunter.

Und Kathje ...

Mit einem dumpfen Laute schlug Pittje nach vorwärts, dann sank er zu Boden. Wie lange er dort lag, das wußte er nicht. Ein fernes Brausen klang ihm zu Ohren. Es war wie das Rauschen des mächtigen Vogels, den er vorher zu sehen gewähnt hatte und der sein ganzes Lebensglück in den scharfen Fängen davontrug. Tief am gewitterschwülen Himmel verschwand er.

Die Betäubung konnte nicht lange gewährt haben, denn als Pittje fröstelnd emporfuhr – da war alles dasselbe geblieben.

Sie stand noch wie vorhin.

Ihre Blicke leuchteten in seltsamem Licht. Auf unbeweglichen Hüften ruhte ihr berückender Körper. Nur der Atem schwellt ihre Brust und hebt die kleinen, jungfräulichen Zierden in gemessenen Pausen. Die halbgeöffneten Lippen lassen die weißen Zähne erblicken. Langsam senken sich die dunklen Wimpern. Die Hände hängen gefaltet herunter.

Madonna ...!

Und vor diesem Opfer ... vor ihr ...

Und das sollte ihm verloren sein für immer und ewig – und diesem Menschen gehören ...?!

Pittje schrie auf wie ein Tier.

Mit einem hastigen Sprung war er seitwärts gefahren. Er griff zwischen die Stangen und drang mit dem gefausteten Knüppel gegen die Tür an.

»Aufgemacht!«

Keine Antwort erfolgte.

»Gottverdammich, die Tür auf!«

Das waren keine menschlichen Laute mehr, die er schäumend von sich gab.

»Gottverdammich, die Tür auf!«

»Wer ist da?«

Eine kreischende Stimme hatte gerufen.

»Aufgemacht!« schrie Pittje noch einmal.

Dann trat er die Planken zusammen und stürzte ins Zimmer.

»Mutter, Mutter! – und wenn ich nach Kleve soll und vor die Assisen ...!«

Er taumelte vorwärts.

»Mutter, Mutter, erbarme Dich meiner!«

Pittje kannte sich selber nicht mehr. Und da stand sie zitternd und zagend – das sündige Weib, sein alles, sein Kathje ...

»Pittje ...! – Pittje ...!«

Sie war in die Kniee gesunken und riß sich das Haar auf.

»Dirne ...!«

Auf den Knieen rutschte sie zu ihm. Sie versuchte ihn mit verzweifelten Armen an sich zu reißen.

»Gottverdammich! – wo ist er, wo ist der Schänder, das Tier – der Hund, der verfluchte ...!«

»Pittje ...! – Pittje ...!«

Mit heiserem Lachen stieß er Kathje zurück.

Ull Koßmann war flüchtig.

Pittje jammerte auf. Er sah das Weib im Staube vor sich – und ein Ekel ergriff ihn vor sich und der Welt, denn jetzt erfaßte ihn so recht das Bewußtsein, wie jämmerlich er sich erniedrigt hatte, wie sein Stolz und seine ganze Hoffnung dahin war.

Er wollte den Fuß erheben ... er wollte sie ...

»Du!« knirschte er zwischen den Zähnen. »Also das ist Deine ganze Liebe gewesen? – Aber den da draußen, das flüchtige Tier da ...!«

Drohend hob er die Faust auf, stieß Kathje beiseite und stürmte nach vorne.

Die Haustür war offen. – Auf der Schwelle stand Sally.

»Sally – wo ist er?«

»Über die Brücke – das schwarze Wasser entlang, übern Deich auf die Mühlen ...!«

Der Ärmste zitterte wie Espenlaub.

»Sally – und was Sie gesehn haben und was auch immer geschehn ist ...«

»Herr Pittje, hier meine Hand drauf.«

»Dann vorwärts!«

Die wilde Jagd ging los.

Sie liefen das Wasser entlang. Die Bäume sausten; Wetterlicht schlug ihnen entgegen; in der Ferne begann der Donner zu grollen.

Und weit dahinten: ein eiliger Schatten.


 << zurück weiter >>