Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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XIV.
Von Mäusen und anderen Dingen

Noch an demselben Tage fiel eine große Entscheidung, die in ihrer unabsehbaren Tragweite die Bürger der kleinen Stadt in eine nicht geringe Aufregung versetzte. Schon die Vorkehrungen gaben zu denken, und der Herr Polizeidiener Brill sorgte dafür, daß die glimmende Zündschnur eines sich noch in den Anfangsstadien befindlichen Gerüchtes immer weiter abgerollt wurde.

Bereits in den Vormittagsstunden gab er hierzu reichlich Veranlassung, nicht nur durch seine Amtshandlungen, sondern in viel höherem Maße durch das pompöse Herauskehren seines äußeren Menschen. In nicht bedenklichen Zeitläuften begnügte sich Herr Brill mit einer schlichten, karmesinrot umbordeten Dienstmütze, einem vergilbten und bereits stark ausgefaserten Portepee und einem Gesicht, das von dem gewöhnlicher Menschen nicht um Bedeutendes abwich. Mit dem heutigen Tage war das anders geworden. An Stelle der Dienstmütze hatte er sich mit der abgestumpften Pickelhaube gerüstet und den Füsiliersäbel mit einer funkelnagelneuen und vergoldeten Troddel begnadet. Nur das dickleibige Notizbuch war das alte geblieben. Wenn diese ungewohnte Ausstaffierung schon genügte, allerlei Vermutungen aufkommen zu lassen, so wurde erst das Gesicht zu einer wahren Fundgrube tollster Ansichten und Schlußfolgerungen. Auf der Stirne thronte Unnahbarkeit, in den Augen der kategorische Imperativ, der mit der Strenge, die ohne Ansehn der Person um die zusammengekniffenen Lippen spielte, auf das trefflichste harmonierte. Hierzu kam noch der igelartig vorgesträubte Schnurrbart, dessen Vorhandensein allein schon hinreichend erschien, befangene und ängstlich veranlagte Gemüter gruseln zu machen. Mit diesem amtlichen Mienenspiel hatte er im Laufe des Vormittags verschiedene Zeugen zu Protokoll vernommen, hatte die Riesendame wie eine Zitrone ausgepreßt und war mit diesem Gesicht, so daß alle Jungen davonliefen, über die Straße zu Sally Süßkind gegangen.

Sally stand gerade mit einer Nelke im Mund vor der Haustür. Er ließ sich Pittje Pittjewitt, Kathje Peerenboom und den gestrigen Abend durch den Sinn gehen. Die Sache gefiel ihm nicht mehr. Er mochte das Heimliche der gestrigen Situation auch noch so sehr zu seinen und ihren Gunsten auslegen, er mochte sich die gewagtesten Entschuldigungen für ihr Ausbleiben vormachen und das Verletzende, was ihn selber getroffen, bereitwilligst herunterschlucken, er mochte drehen und deuteln soviel er wollte – er kam über die eingeschlichenen Bedenken und Zweifel nicht mehr fort: die Sache hatte ihre Haken und Häkchen, oder mit anderen Worten: in seinen Augen war ihr das Koschere abgestreift worden. Gewiß, Künstlerblut ist nun einmal Künstlerblut – aber hatte er nicht Pittje gewarnt, hatte er nicht alles aufgeboten, ihm diese Leidenschaft vom Herzen zu reden? Gewiß, das hatte er ehrlich und redlich getan, obgleich er sich nicht verhehlen durfte, daß er in derselben Lage wie Pittje vielleicht in gleicher Weise gehandelt hätte, denn, er mochte es sich eingestehen oder nicht, die gewinnende Schönheit des Mädchens war auch bei ihm nicht spurlos vorübergegangen. Ja so! – aber da waren noch die Hypotheken und die anderweitigen Schulden, da waren noch Jan Peerenboom mit seiner schnäpsernen Rückfälligkeit und seinen flotten Manieren, der Herr Kaplan und der ganze Wirrwarr der übrigen Dinge ... und dieses in seinem bekümmerten Gemüt erwägend, stand Sally in weißleinenen Hosen und gestickten Pantoffeln vor seiner Haustür, knabberte am Stengel der Kartäusernelke und sah die Straße entlang, als der Herr Polizeidiener Brill im vollen Wichs auf ihn zukam.

Schon wollte er seinen Kneipkumpan vom gestrigen Abend freundlich begrüßen, ihm die Hand drücken und zu einem Gläschen Likör invitieren, als er das amtliche, unnahbare Gesicht und den feierlichen Schritt des Mannes bemerkte. Mancherlei ging ihm in diesem Augenblick durch den Kopf. Kein Zweifel – er fühlte sich schuldlos. Er hatte sich nicht an dem Gut anderer Leute vergriffen, keine Wechselreitereien betrieben, keinen Mord auf dem Gewissen; seine Seele war so rein wie das Hemd eines frischgewaschenen und schuldlosen Kindes – und dennoch, er wußte nicht warum, aber eine grimmige Angst überfiel ihn, eine Angst, die ihm den Gedanken näher legte, sich in sein Kontor zu flüchten, die Tür zu verrammeln, aus Stühlen und Bänken eine Art von Barrikade zu bauen, um auf derselben und vermittels eines Pistols sein Leben so teuer wie möglich in die Schanze zu schlagen. Obgleich er wissen mußte, daß er niemals ein solches besessen, daß er niemals ein solches abgeknallt hatte, krabbelte er doch mit der stillen Hoffnung in allen Taschen herum, irgend ein Schießinstrument dort mobilisieren zu können. Allein, was zu befürchten war, trat ein: er suchte vergebens.

In der Tat, er war schuldlos – aber das Gesicht, das Gesicht ...!

Eiskalt lief es ihm über den Rücken. Unwillkürlich konstruierte sein erregter Geist ein schweres Verbrechen zurecht, das er irgendwo begangen haben sollte, stellte ihn, obgleich er als Zivilperson nichts mit einem Kriegsgericht zu tun hatte, doch vor ein solches und ließ ihn erschießen.

Der Stieläugige war näher getreten, grüßte militärisch, zog sein Notizbuch heraus und fragte: »Herr Sally Süßkind, haben Sie in Kraft Ihres Titels ...«

»Herr Brill,« unterbrach ihn Sally mit ängstlicher Stimme, »ich möchte Sie zuvor fragen: kommen Sie for die Gewalt oder kommen Sie sonstwie?«

»Ich komme im Namen des Gesetzes und in Sachen Birken gegen Pierentrecker-Terlinden.«

Sally atmete auf.

Gott sei gedankt! – seine Befürchtungen waren also unzutreffend gewesen.

»Schön – ich bitte, Herr Brill.«

»Herr Sally Süßkind,« begann dieser von neuem, »haben Sie in Kraft Ihres Titels als Mitglied des Verschönerungsvereins, und zwar in Sachen Birken gegen Pierentrecker-Terlinden, Wesentliches zu Protokoll zu geben? Wenn ja: können Sie dieses vor dem Friedensrichter beschwören?«

»Das könnte ich schon,« sagte Sally, »aber ich weiß nichts.«

»Und Ihre sonstige Meinung?«

»Herr Brill, ich wünsche dem Mann 'nen gnädigen Richter.«

»Eingestochen wird er,« legte Herr Brill los, grüßte in aller Feier und Form und empfahl sich.

»Schön, mag er eingestochen werden; ich kann ihm nich helfen.«

Damit empfahl sich auch Sally. –

Eine Stunde später stand das sehr einfache Gefährt eines Hauderers vor der Pierentreckerschen Wohnung. Eine Menge Neugieriger, die sich dort eingefunden hatte, folgte mit sichtlichem Interesse den weiteren Vorgängen. Brill machte die Ehrenbezeugungen am Schlage. Langsam verließ Aloys seine Witwerbehausung, nicht ohne dabei ein krampfhaftes Schluchzen hinter die Binde zu würgen. Es ging ihm hart an. All seiner Würden und Ämter entkleidet zu werden, war eine Pille, die selbst dem Stärksten Magendrücken verschaffte. In seinen Perlmutteraugen flimmerte ein elegischer Glanz. Er dachte vielleicht an die verschiedenen Flaschen mit Edelmannswein, an die Riesenmamsell und Henne Terlinden. Was ihn rührte, war die liebevolle Anteilnahme seiner Mitbürger und Mitbürgerinnen. Auch der Herr Direktor mit der polnischen Sammetjacke und dem martialischen Schnurrbart hatte sich eingefunden, ihm die letzte Ehre zu geben. Etwas wankenden Schrittes bestieg er den Wagen, bei welch traurigem Anblick der Schuster Kogeleboom eine große Träne zerdrückte.

»Und so 'nen Mann, der für unsere heilige Kirche gefochten, lassen wir einstechen? – Pfui!«

Der Schuster hatte gesprochen.

Aloys bemerkte es, lehnte sich aus dem Fenster und meinte mit umflorter Sprechweise: »Mitbürger, ich bin beispielsweise schuldlos verhaftet.«

»Das wissen wir,« sagte Herr Brill und setzte sich zu ihm.

Er wollte ihn doch nicht unhöflicherweise allein fahren lassen.

Von hier aus ging die Reise nach Henne Terlinden. Vor dem Hause desselben wiederholte sich das nämliche Schauspiel, nur mit dem Unterschied, daß die Menge sich ungehaltener und neugieriger zeigte.

Herr Polizeidiener Brill blitzte sie fort, aber im allgemeinen ging die ganze Zeremonie wirklich erhebend und würdig von statten. In behaglichem Tempo und unter andächtigem Schweigen, wobei sich mehrere Nachbarinnen bekreuzten, strebte alsdann das Gefährt mit seinen Insassen dem Friedensrichter von Goch zu. – – –

Seit der Ballfestlichkeit in der Marcourschen Tente waren fünf Tage vergangen. Der Marktplatz mit dem stattlichen Rathaus und der ehrwürdigen Linde zeigte wieder sein gewöhnliches Aussehen. Die Spielwaren- und Babbeltjesbuden waren fortgeräumt – keine Ausrufer und Drehbretter, keine Riesenmamsell mehr! – und der intensive Geruch nach Lebkuchen und holländischen Moppen hatte sich schon lange verloren. Nur noch etliche Papierschnipsel, Strohhalme und aufgebrochene Pflastersteine kündeten von der Lustigkeit der vergangenen Tage. Die kleinstädtische Welt ging wieder ihren alltäglichen Gang. Die Bäuerinnen kamen in hergebrachter Weise mit ihren Knippmützen zur Stadt, die Handwerker schafften; wie immer, so saßen auch jetzt die alten Männer vor den Türschwellen, besprachen die fatale Geschichte, die Pierentrecker und Henne Terlinden passiert war, schüttelten die Köpfe und bliesen ihren geschnittenen Rippchentabak aus irdenen Pfeifen zum sonnigen Himmel. Die Tauben rucksten wie gewöhnlich in den Straßen herum, die alte Linde säuselte dazu, weich und behaglich, und der vergoldete Turmhahn auf Sankt Nikolai blitzte in der flimmernden Sonne und sah weit ins Land hinaus bis nach Xanten und Kleve. Und wie er so äugelte, da bemerkte er, daß fern in den Wiesen, dem Rhein zu, und zwar dort, wo sich ein zweitürmiger, romanischer Kirchenbau aus blaugrauen Pappelkronen emporhob, bunte Fahnen gehißt wurden. Der vergoldete Turmhahn hatte richtig gesehen. Mit dem morgigen Tage begann die Kirmes in Wissel. –

Die großen Zeiger an der Rathausuhr klebten beinahe am Zifferblatt fest, so langsam gingen die Stunden; die Linde bewegte schläfrig die Zweige – und Säkchen Reiß hockte auf seinem hochbeinigen Kontorsessel am Pult, besah sich die Fingernägel und malte dann in schöngezirkelten, gotischen Buchstaben den Namen ›Rosalie Leifmann‹ auf ein rosenfarbiges Löschblatt. Hierauf schnappte er nach einer summenden Fliege, gummierte ihr ein ovales Stückchen Papier, das er kunstfertig aus einem blauen Aktendeckel geschnitten hatte, auf den Rücken, malte noch zwei Punkte darauf und ließ sie als Schildkröte laufen. Dieses artige Spiel wiederholte er in seiner großen Langeweile noch etliche Male, so daß schließlich mehr als ein Dutzend dieser aus Fliegen und Brummern hergestellten Schildkröten herumkrochen. Schwerfällig, und tatsächlich wie Kriechtiere sich vorwärts bewegend, krabbelten diese Aktendeckelpartikel über das Pult und die Blätter des Kontobuches. Immer langsamer ging der Marsch der ermüdeten und ihrer Flugkraft beraubten Netzflügler, die nicht wußten, wie und wohin sie sich wenden sollten. Die Ellbogen auf den Pultrand und den Kopf in die Hände gestützt, betrachtete Säkchen Reiß geraume Zeit seine ingeniöse Erfindung, als sein Prinzipal, der im Nebenzimmer sein Mittagsschläfchen gehalten hatte, unversehens das Kontor betrat, sich umschaute und nach den letzten Kornpreisen fragte.

Selbstverständlich konnten ihm hierbei die Versuche seines Kommis, die Entwickelungstheorie der Lebewesen in die Tat umzusetzen, nicht lange entgehen.

Er legte daher die Stirne in vorwurfsvolle Falten. Sally Süßkind, sonst der gutmütigste Mensch von der Welt, wollte bei Erkenntnis der tollen Sachlage rein aus dem Häuschen fahren. Grimmig war er näher getreten.

Ruhig und schleppend, wie die ägyptischen Plagen, setzten die gummierten Fliegen ihre langsame Wanderung fort. Nur die dicken Brummer ließen ein mißvergnügtes Surren vernehmen.

»Herr Reiß, ich bitte mir aus, mir gefälligst erklären zu wollen, was Sie da machen.«

»Ich verkörpere die schlechten Zeiten, Herr Süßkind.«

Sally glaubte nicht richtig gehört zu haben, oder – es wäre entsetzlich gewesen! – hatte vielleicht schon die Liebesaffäre seines Angestellten diesem die Gemütsverfassung auseinander gerüttelt?

»Gehn Sie kapores, Herr Reiß – was wird verkörpert?«

»Die schlechten Zeiten, die schlechten Geschäften, Herr Süßkind,« erklärte Säkchen, ohne sich im geringsten aus der Fassung bringen zu lassen.

»Aber ich bitte Sie, Säkchen!«

»Herr Süßkind,« entwickelte dieser mit unerschütterlicher Ruhe, »hier diese Schildkröten markieren die schlechten Geschäften. Sie kriechen langsam, mehr als langsam, Herr Süßkind – un wären die Fliegen gegangen nach rückwärts, nü, ich hätte gemacht Krebse aus ihnen, denn 's schteht schlecht mit's Getreide. Die Perduktengeschäfte machen den Krebsgang. Die Händler verlieren, ihre Sache is schofel, denn ich gebe nich lammes Rat for die Ernte.«

»Schpaß!« machte Sally.

Der Kommis hob wie verwarnend den Zeigefinger empor.

»Herr Süßkind, ich hab's doch immer gepredigt: die Mäuse ...!«

Sally verfärbte sich.

»Sie sind wohl meschugge!«

»Herr Süßkind, die Mäuse ...! Wahrhaftigen Gott, ich hab' sie gesehen heute mittag nach's Essen. Wer abgeschlossen hat, is ein verlorener Mann – die Kornpreise steigen.«

Sally taumelte rückwärts. Ein Rudel von Mäusen, große und kleine, dünne und dicke, eine ganze Karawane von Mäusen zog in diesem Augenblick an seinem gestörten Horizont vorüber.

»Ich hab's ja getan,« rief er entsetzt und schlug die Hände zusammen, »ich hab' ja abgeschlossen un die Kuntrakte gemacht mit die Bäckers un Müllers!«

»Schlimm,« meinte Säkchen, zuckte die Achseln und begann wiederum den Namen ›Rosalie Leifmann‹ zu malen.

»Meinen Hut, meinen Hut ...!«

Bevor sich der Herr Kommis so recht klar machen konnte, was eigentlich los war, stürmte Sally Süßkind bereits durch die Kesselstraße dem nicht weit gelegenen Tor zu, um von hier aus die fruchtbarste Gemarkung der ganzen Umgegend, das Klever Feld, zu gewinnen. –

Dicht beim Kesseltor lagen die Höfkensschen Mühlen, uralte Bauwerke mit bemoosten Ziegeldächern, grauem Balkenwerk und mächtigen Schaufelrädern, die, wie bereits eingangs erwähnt, von einem Wasser getrieben wurden, das schleichend die Stadt umzirkte, an der Jan Peerenboomschen Wohnung vorbeifloß und jenseits der Mühlen, nachdem es zuvor mit tobendem Brausen und Schäumen ein tiefgelegenes Wehr überstürzt hatte, unter dem Namen ›Kaltflack‹ und von mächtigen Deichen flankiert, breit und behaglich dem Rhein zuflutete. Eine schmale Holzbrücke mit morschem Geländer passierte das Wehr und führte zur rechtsgelegenen Dammkrone, die, mit massiger Auslage vom Gelände aufsteigend, am sogenannten Fingerhutshof vorbei über Wissel nach dem eine gute Meile entfernten Grieth lief. Dieser Damm, unter dem Namen ›Leedeich‹ bekannt, hatte bei Überschwemmungsgefahr die ostwärts gelegene Niederung, die kleine Stadt mit inbegriffen, gegen den Durchbruch des zurückgestauten Wassers zu schützen.

Zierliche Bachstelzen mit wippenden Schleppen trippelten durch das Gewirr der Balkenlagen und Streben, schnappten nach Haften und blitzenden Fliegen und ließen sich von den stäubenden Wasserperlen bespritzen.

Mit philosophischem Behagen drehten sich die weit ausgelegten Räder in ihren wuchtigen Pfannen, rührten den Gischt auf, quirlten das tosende Element zu einem milchigen Brei, schleuderten ihn mahlend umher, so daß silberlichte, blasige Schaummassen sich in den Rosten verfingen oder schwerfällig an den seitwärts gelegenen Mauern herabtrieften. Schon von weitem hörte man das wuchtige Kollern und Fauchen der sich überstürzenden Wellen. Jenseits des Wehrs herrschte eine friedliche Stille. Der tiefe, zu einem fast kreisrunden Kolk ausgeweitete Spiegel des Flusses, der, hier zur Ruhe gekommen, sich nur träge weiter bewegte, war an den Ufern mit saftigen Schwerteln besteckt, die sich mit ihren goldgelben Blütenständen bis weit in das Land verfolgen ließen. –

In seiner berechtigt nervösen Gemütsverfassung hatte Sally die obligate Nelke vergessen. Das beunruhigte ihn noch mehr, denn es war ihm gegen den Strich, eine so liebe Gewohnheit, wie die des Stengelkauens, entbehren zu müssen. Die ungewisse Lage, in der er sich befand, machte ihn hastig. Im Geschwindschritt von Hause fortgegangen, verfiel er allmählich in ein immer schneller werdendes Traben, eine Gangart, die stark an Jette erinnerte, denn Sally pflegte, wenn er in diese Bewegung geriet, den jeweiligen dritten Schritt stärker hervortreten zu lassen, wodurch sich eine Klangfarbe einstellte, die einen Vergleich mit dem charakteristischen Dreischlag des Schimmelpferdchens herausfordern mußte.

Trabend ließ er die tosenden Wassermühlen zur Rechten, schlug einen ausgefahrenen Landweg ein, auf dem er in einigen Minuten eine sanft abgedachte und mit niedrigem Buschwerk bestandene Höhe erreichte, von wo aus sich die fruchtbaren Roggen- und Weizenschläge am besten übersehen und beurteilen ließen.

Hochaufatmend und über und über mit Schweißtropfen bedeckt, stand Sally Süßkind alsbald auf der kleinen Erhebung.

Mit gierigen und doch wehmütigen Blicken übersah er das Klever Feld, das schattenlos, eine blondgoldige Fläche und nur von einzelnen Bauerngehöften durchsetzt, sich bis zu den dunkelblauen Waldungen von Moyland erstreckte. Die Weizenschläge hatten noch einen grünlichen Anflug, wohingegen die Roggenfelder bereits in dem goldigen Ton der vorgeschrittenen Reife erstrahlten. Hin und wieder flammte der Mohn auf. Wie brennende Punkte lag er inmitten der Myriaden von Halmen. Ein heißer Windhauch zog über die Ebene und wellte das Korn dem Sonnenfeuer entgegen, das schon Anstalten machte, tiefer und tiefer zu sinken. Noch vierzehn Tage, dann konnte mit dem Schnitt des Roggens begonnen werden.

Endlos, erhebend lag der Fleiß vieler Hunderte von Menschen vor den Augen des erregten Beschauers gebreitet.

Sally erschauerte vor der Majestät des sich wiegenden Kornes.

Instinktiv schob er die rechte Hand vor, um besser sehen zu können. Allein, wie er auch seine Blicke schärfte, er konnte keine schlechten Stellen entdecken. Ohne Lücken, fest zusammengefügt, eine einzige, gleichmäßige Fläche, dehnte sich das Getreide bis zu den dunklen Wäldern, die am Horizont standen.

»Schpaß!« meinte Sally, »Säkchen hat wohl 'ne Überfahrung bekommen.«

Seine zuversichtliche Stimmung wurde noch durch den jauchzenden Jubelruf des Widewals gehoben, der scheu und rastlos die näher der Stadt zu gelegenen Obstbaumgruppen durchstreifte. Wie ein geworfener, goldgelber Federball hastete er von Zeit zu Zeit durch die flimmernde Luft hin, um ebenso schnell wieder in das dunkle Laubwerk unterzutauchen.

»Vogel Bülow! – Vogel Bülow!«

Der Ruf wirkte belebend auf Sally. Wiederum wandte er sich den wiegenden Kornfeldern zu, ob welchen die glühende Sonnenscheibe immer roter erstrahlte. Feuergarben züngelten über die brennenden Äcker, die mit jedem Halm der klingenden Sense entgegenharrten. Ein betäubender Duft nach werdender Reife ging von ihnen aus und lagerte sich auch dort ab, wo keine Schollen mehr waren.

Ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit kam über Sally.

»Schpaß!« meinte er mit zufriedener Miene, »un so ein Beheme will propheßeien mit die kriechenden Fliegen?! Keine lammes Rat for die Ernte ...? So'n Geschmuse – verflixtes!«

Mit geblähten Nüstern sog er den warmen, aufsteigenden Duft ein und breitete verlangenden Blickes die Arme, als müsse er all die Wogen des blonden Getreides umschließen, um sie nicht mehr los zu lassen für immer. Die alles umfassende Gier, die seinem Stamm in gewisser Hinsicht anhaftet, war über Sally Süßkind gekommen.

»Hiäh! – Hiäh!«

Was war das, was bedeutet das?

Das klang wie Katzengeschrei.

Sally wurde unsanft aus seiner behaglichen Laune gerüttelt.

»Katzen ...?! – Das sind keine Katzen!«

Verschiedene dunkle, sanfthingleitende Punkte schwebten in dem unendlichen Luftmeer. Sie vermehrten sich ständig. Bald höher, bald tiefer schwimmend, beschrieben sie Kreise um Kreise. Ihr weitdringender Jubelruf bezeichnete den Raum, den sie am Horizont einnahmen. Mehr als ein Dutzend dieser gleitenden Vögel revierte plötzlich ob dem Ozean der sich wellenden Halme. Sie kamen daher, als wären sie vom Himmel gefallen – aber warum sie kamen, das ging Sally wie ein flackerndes Licht auf, und er mußte dabei an Pittje Pittjewitt und seine eigenen Beobachtungen denken, die er früher gemacht hatte.

»Bussards ...!«

Mit diesem Aufschrei eilte Sally der zunächst gelegenen Getreidegasse zu, raufte eine Ähre vom Halm, enthülste ein Korn und brach es über den Nagel des Daumens. Der Roggen war in das Stadium der Milchreife getreten.

Mit spähenden Augen folgte er den geworfenen Furchen und bückte sich tiefer. Anfangs bemerkte er nichts Auffälliges; dann huschten einzelne Mäuse vorüber. Mit zierlichem Piepsen schleppten sie ihre nackten Schwänze über die trockenen Schollen.

Jetzt hob er sich auf und sah atemlos über die schwer herabhängenden Ähren. Es war ihm so, als ließe sich ein verdächtiges Rascheln vernehmen. Sally schärfte die Ohren; er hörte das Rascheln immer stärker und stärker. Und nun: dicht bei ihm, kaum zwei Schritte von dem Ranft entfernt, knickte ein Halm um, ein zweiter folgte und wurde zu Boden gezogen. Knisternd ging die geheimnisvolle Arbeit von statten.

Sally fühlte den eigenen Herzschlag. Hastig und mit beiden Händen streifte er eine Anzahl Stengel beiseite, drückte den Kopf in die gebildete Lücke, um deutlicher beobachten zu können. Und da saßen sie auf ihrem Hinterteil in hockender Stellung, die Schwänzchen sorglich zur Seite gelegt, Mäuschen bei Mäuschen, Schwänzchen bei Schwänzchen, Köpfchen bei Köpfchen, umspannten mit ihren Vorderfüßchen den Halm und schnitten ihn kurz über dem Erdreich ab, so daß nur die leere Stoppel zurückblieb. Er glaubte versteinern zu müssen.

»Ktsch!« machte Sally.

Jawohl und prosit die Mahlzeit! Die sonst so scheuen Tierchen ließen sich in ihrem Betrieb nicht stören, sahen ihn mit ihren Nagergesichtchen frech an, ohne auch nur im entferntesten auf Fluchtversuche zu sinnen, und schroteten weiter.

»Hiäh! – Hiäh!«

Die Vögel hatten niedrigen Flug genommen. Ab und zu fiel einer ins Korn und steuerte mit der gewonnenen Beute einem Findling oder vereinzelt stehenden Baum zu.

Einem Betrunkenen gleich taumelte Sally durch die sich kreuzenden Gassen. Je weiter er kam, um so größer stellte sich ihm die unheimliche Tätigkeit der nagenden Tiere vor Augen.

Er wollte an Gottes Allbarmherzigkeit und Güte verzweifeln. Sonst ein gläubiger Mensch, hatte Sally einen grimmigen Fluch auf den Lippen.

Schwadronenweise zogen die Mäuse jetzt von Acker zu Acker. In den Furchen wimmelte es von den winzigen Nagern. Röhren bei Röhren; sein Fuß sank ein infolge der Minierarbeit der geschäftigen Tierchen, und, was er vorhin von der Ferne aus nicht wahrnehmen konnte, hier, inmitten der wogenden Frucht, gewann er ein klares Bild von dem bereits vorgeschrittenen Unheil. Ganze Partien waren den feinen Zähnchen schon zum Opfer gefallen. Wie pockennarbige Stellen lag es auf den vergoldeten Feldern.

Und immer das Rascheln, das entsetzliche Rascheln! Was der Herr aus der dampfenden Scholle getrieben, was er wachsen und gedeihen ließ, worüber sein Regen geträuft und sein belebendes Sonnenfeuer einherging, woran der Schweiß von Hunderten und die Hoffnung von Hunderten klebte, das wurde durch seine eigenen Geschöpfe vernichtet.

Sally streckte die Hände gen Himmel.

Eine Ähre sank um, dort eine zweite, fünfzig, hundert auf einmal – ungezählte Ähren wurden erbarmungslos zu Boden gezogen. Unermüdlich, furchtbar, entsetzlich, nicht zu begreifen war die Arbeit der huschenden Wühler. Zu Hunderten und Tausenden schlupften sie durch die engen Gäßchen, leckten die Pfötchen, wetzten die Zähnchen, quieksten bei ihrem tollen Geschäft und schnitten die Halme. Sie scheuten sich nicht über die Wege zu springen, die langen Schwänzchen über Sallys Schuhwerk zu schleppen und mit ihrer geheimsten Beute in die zunächst gelegenen Röhren zu tauchen.

Es gibt Menschen, die so vom Ungemach abgebrüht werden, daß sie schließlich in verzweifelter Resignation widerstandslos die Hände in den Schoß legen und, ohne mit den Wimpem zu zucken, Gottes Wasser über Gottes Land hinströmen lassen.

Sally gehörte nicht zu diesen Menschen. Er war anders geartet.

Inmitten des vor ihm liegenden Feldes stand ein ruppiger Scheumann. Durch zwei in Kreuzform verbundene Knüppel mit einem darüber gezogenen, abgelebten Jackett war dieser Popanz gebildet. Lustig von seinem Hut sang eine Goldammer ihre einfache Strophe in den kommenden Abend.

In den Roggenschlag springen, den oberen Knüppel ergreifen und wieder zurück auf den Weg – diese drei Maßnahmen wurden von dem unglücklichen Produktenhändler in einer Gedankenspanne bewältigt.

»Meine Kuntrakte! – meine Kuntrakte ...!«

Bratsch ...!

Wie Simson in die Philister, so schlug Sally auf die huschenden Mäuse ein. Bei diesem Würgen mußte er an die Worte der Schrift denken, die da lauten: Und da er kam bis gen Lehi, jauchzeten die Philister ihm zu. Und er fand einen faulen Eselskinnbacken; da reckte er seine Hand aus und nahm ihn und schlug damit tausend an Mannen.

Nur Simson war stärker gewesen denn Sally. Jener hatte tausend erschlagen, Sally nur hundert und fünfzehn.

Seine Kräfte erlahmten.

Immer neue der schnellfüßigen Nager hüpften und huschten über den Weg, duckten sich in Furchen und Löchern, schnitten und grapsten und kümmerten sich nicht um ihre armen Genossen, die bereits auf dem Felde der Ehre lagen und noch im Tode ihre schneeweißen Zähnchen bewundern ließen.

Für zehn erschlagene rückten fünfzig frische Kräfte ins Treffen, von denen etliche ihre Frechheit so weit trieben, in die Hosen des streitbaren Mannes zu schlüpfen.

Da gab Sally Süßkind das aussichtslose Rennen auf, wischte sich den Schweiß von der Stirne, warf den Knüppel ins Korn und ging seines Weges. Mit verzweifeltem Herzen durchstreifte er die weite Gemarkung, aber wo er auch hinkam, überall zeigte sich dasselbe Verhängnis: Bussards, piepsende Mäuse und sinkende Halme.

Bei Dangesfurth und der Holländerkath, am Entenhorst und weiter nach Kleve wurde noch stärker gewütet. Hier lagen Stellen im Feld, die aussahen, als wäre vom Sämann vergessen worden, das Saatkorn zu streuen, und zwar auf einem Grund und Boden, der schon in Mitteljahren eine mehr denn dreißigfache Ernte einbrachte.

Es dunkelte schon, als Sally auf seinem Rückweg noch beim Leygrafenhof vorsprach. Er glaubte von der Ansicht des Besitzers profitieren zu können. Der Mann verfügte über die fruchtbarsten Hufen in der ganzen Umgegend, und selbst wenn seine Nachbarn über schlechte Zeiten zu klagen hatten – der Leygrafenhöfer saß auch dann noch bis über die Ohren zwischen seinen Roggen- und Weizensäcken, schlug auf den Tisch und machte sich nicht bange, eine opulente Flasche ›Burdo‹ zu spendieren.

Heute jedoch sah er trübe ins Wetter.

»Nü, Leygrafenhöfer ...?«

»Man weiß nicht, wie es kommt,« erwiderte dieser. »Sie sind da – und sind nicht da. Vor lauter Mausen sieht man die Maus nicht. Vor einer Woche waren sie nicht da, jetzt aber ... Sally, mir ist so, als wäre ein Mäuseverständiger gekommen und hätte Mäusesamen über die Felder geworfen: und da wurden die Kieselsteine zu Mäusen, da fielen die Sterne herunter und wurden zu Mäusen, da wurde jede Ackerkrume zur Maus, und wenn's so weiter geht, dann können wir beide uns noch als Mäuseriche begrüßen.«

»Weuß ich,« entgegnete Sally; traurig sah er in das ersterbende Licht des friedlichen Abends. Er hätte weinen können vor lauter Entsetzen.

»Herr Süßkind,« sagte der Leygrafenhöfer, »unter diesen Umständen haben Sie hoffentlich noch keine Kontrakte abgeschlossen mit Ihren Kunden?«

Der Leygrafenhöfer war ein Mann, der gern in die Gewohnheiten und Redensarten eines Protzen verfiel, aber er konnte auch sehr verständige Fragen stellen, und das Gesagte war eine verständige Frage.

Sally schnitt ein Gesicht, als hätte er unversehens auf ein Schweinerippchen gebissen.

»Hab' ich, hab' ich – mit die Müllers un Bäckers!«

»Und die Preise – sind die auch schon eingesetzt worden?«

Das war wiederum eine sehr verständige Frage von seiten des Leygrafenhöfers.

»Sind sie, sind sie ...!« rief Sally, nicht Herr über sich selbst mehr, und begann nach Art der Indianer zu tanzen.

»Das hätten Sie nicht tun dürfen,« sagte der Leygrafenhöfer.

»Weuß ich, weuß ich ...!« schrie Sally. »Aber ich dachte 'ne gute Ernte ßu haben, reell einßukaufen un ein kleines Geschäftchen ßu machen mit die Müllers un Bäckers un die übrigen Leute.«

»Je – da haben Sie dieses Mal daneben gedacht, aber es kommen auch bessere Zeiten,« war die ruhige Antwort des Leygrafenhöfers.

»Aber die Bäckers un Müllers werden bestehen auf ihren Schein, un das is das Fitale von's Ganze.«

»Das werden sie allerdings,« bekam Sally zu hören, »denn umgekehrt würden Sie in das nämliche Tutehorn blasen.«

»Weuß ich, weuß ich ...!«

In seinem wilden Schmerz stand Sally im Begriff einen Purzelbaum zu schlagen. Er tat es aber nicht, sondern fuhr fort, weitere Galoppaden zu machen.

»Nun hören Sie aber endlich mal auf mit Ihrem verfluchten Gemurkse,« meinte der fette Leygrafenhöfer, »Sie springen mir noch die ganzen Dielen zusammen – und bei diesen miserabeln Zeiten ...«

Sally hörte nicht darauf und indianerte weiter.

»Na, denn nicht – aber die Mäuse ...«

»Schweigen Sie still von die infamte Geschichte. Ich kann's nich mehr hören. Sie fressen mir auf, das heißt, Sie nich, Herr Leygrafenhöfer – aber die Mäuse fressen mir auf; sie fressen mein Geld auf, sie wollen mir haben; ich bin ein verlorener Mann, ich bin ein ruinierter Mann – ich melde Konkurs an. – Ich habe die Ehre, Herr Leygrafenhöfer.«

Und damit ging er, ohne sich weiter halten zu lassen, vom stattlichen Hof und in den warmen Sommerabend hinaus. Doch als die Natur mit ihren sanften und verlorenen Stimmen auf ihn einsprach, als die Bäume so träumerisch und sacht zu rauschen begannen, als er dann emporsah und die Wolken bemerkte, die wie große Weltteile auf einer Landkarte aussahen und in ihrer stillen Weise am Abendhimmel vorbeifuhren, wie er diesen hehren Frieden erkannte und auf sich einwirken ließ, da wurde auch Sally geläuterter und stiller in seinem Gemüt, ver-hehlte sich das Mißliche des heute Erlebten zwar nicht, sah es aber doch mit andern Augen an und ging ruhig nach Hause.

Vielleicht waren die Aussichten in den benachbarten Distrikten günstiger als in der Klever Gemarkung, vielleicht wurden die jenseits des Rheins gelegenen Ländereien nicht von der Plage heimgesucht, so daß hier die Ernte-hoffnungen bessere waren und die später zu betätigenden Einkäufe in einem nicht zu großen Mißverhältnis zu den kontraktlich festgelegten Lieferungspreisen standen. Diese Betrachtungen gingen dem einfamcn Mann durch den Kopf, als er über die große Heerstraße durch die Feier und den Frieden des Abends zog.

Als er ungefähr eine Wegstunde gegangen war und bereits die ersten Häuser der kleinen Stadt bemerkte, über welche die massige Turmprofilierung der Kirche von Sankt Nikolai ahnungsvoll sich langsam herausschob, bog er zur Linken ein und nahm seinen Weg durch die lauschigen und verwachsenen Heckengäßchen, auf denen er schneller sein Ziel erreichte, als wenn er die breite Landstraße weiter verfolgt hätte.

Zwischen den umbuschten Stiegen war es noch heimlicher denn draußen.

Von den nahen Wiesengründen stieg ein weißlicher Dunst auf, der über die Gärten zog, sich quirlte und drehte und auch die Heckengäßchen mit seinem flimmerigen Spinnwerk durchstrickte.

Vereinzelte Lichtchen blinkten bald ferner, bald näher durch die verschwiegenen Lauben.

Die Leute rüsteten sich bereits, schlafen zu gehen. Hin und wieder flackerte ein Schein auf, um dann zu verlöschen.

Kein Geräusch machte sich in der weiten Runde verlautbar.

Sally hörte nur die eigenen Schritte, die weich und gedämpft über den grasigen Boden gingen.

Er war bis in die Höhe des Marcourschen Gartens gekommen. Hier an einer Wegegabelung glaubte er menschliche Laute zu hören. Sie kamen von einem Pfad her, der von diesem Punkt abging und weiter in das Gewirr der Hecken hineinführte.

Sally blieb stehen.

Die eine Stimme war ihm bekannt; die andere aber kannte er nicht.

Das Schweigen in der Sommernacht trug die einzelnen Worte deutlich herüber.

Was kümmerte ihn im allgemeinen das Gespräch verliebter Menschen, die die Einsamkeit suchten?! Mochte jeder treiben und lassen, was er wollte; aber durch die eine Stimme fühlte er sich veranlaßt, nicht von der Stelle zu rücken. Wenn die andere diejenige seines Freundes gewesen wäre, er hätte es sich als Sünde angerechnet zu bleiben und den Hörer abzugeben. So aber blieb er und horchte. Die beiden Gestalten hatten sich inzwischen auf dem Seitenwege genähert.

»Also – Du bist einverstanden damit, daß ich komme?« fragte die unbekannte Stimme.

»Ja, wenn hierdurch ...«

Die letzten Worte waren so leise gesprochen, daß sie sich im dichten Laub der Hecken verfingen. Spurlos gingen sie unter.

»Und wann soll ich kommen?«

»Ich habe doch schon früher gesagt: morgen, wenn es Abend geworden. Vater ist morgen in Wissel.«

Jetzt hörte Sally ein verhaltenes Schluchzen; gleich darauf beruhigende Worte, die eine große Sehnsucht verrieten.

Die beiden blieben stehen.

Die folgende Frage verstand er nicht, aber wohl die Antwort darauf; sie wurde zögernd gegeben.

»Nun?«

»Von der Wasserseite her durch den Garten.«

Sie fing an zu weinen.

»Du brauchst nicht, wenn Du nicht willst.«

Das zuletzt Gesprochene hatte einen unwirschen Anflug. Trotz der Zusicherung des freien Willens lag etwas Befehlendes, Herrisches, Zwingendes in der Sprechweise der unbekannten Stimme.

»Ich will ja ...«

Das Gespräch brach ab.

Die beiden waren weiter gegangen. Sie streiften rauschend die Zweige des Buschwerks. Sally mußte sich bücken, um nicht gesehen zu werden.

Zwei schlanke Gestalten schritten dicht an ihm vorüber.

Sie gingen dem Marcourschen Garten zu.

Als sie außer Hörweite waren und sich nichts mehr vernehmen ließ als der tropfende Tau, der schwer von den Blättern herabfiel, da fühlte Sally das Herz pochen, als wollte es die Brustwand zersprengen.

Er griff mit beiden Händen danach.

Das Weinen stand ihm näher denn alles andere; er glaubte, an seinem normalen Menschen, an der Zurechnungsfähigkeit seiner Sinne zweifeln zu müssen.

Allein, er entdeckte kein Fehl daran: er sah die schwachen Sterne genau so blinzeln wie früher, er blickte umher und wußte, daß er sich zwischen den Heckengassen befand, die er aus freiem Willen aufgesucht hatte, er horchte und vernahm nichts anderes wie die tropfende Feuchte – nein, er fühlte sich körperlich und geistig normal; nur die Kniee wollten ihren Dienst versagen – und wankten.

»Die Stimme, die Stimme ...!«

Er hatte die Hände gefalten und wußte nicht, wo aus und ein und was er tun sollte. Eine große Traurigkeit kam über ihn.

Er dachte an seinen verlassenen Freund.

»Pittje, Pittje ...!«

Das war alles, was er sagte; aber es bedeutete genug, denn nun hatte er die Überzeugung gewonnen, daß sich noch ein Mensch auf der Erde befand, der ein größeres Leid zu tragen hatte denn er.

Gebeugten Kopfes und unsicheren Schrittes ging er weiter. Seine eigene Kalamität hatte er völlig vergessen. Er dachte gar nicht mehr daran; in seinen Gesichtskreis waren andere Dinge getreten, Dinge so ernster und so trauriger Natur, daß er hätte Asche aufs Haupt streuen mögen.

Helfen ...?!

Ja, wie sollte er helfen?

Es Pittje sagen ...?!

Er schreckte davor zurück: das wäre ein Unglück geworden; aber Schweigen beobachten: das wäre ein noch größeres Unglück gewesen. Er mußte handeln und sprechen, ihm die ganze, bittere Wahrheit mitteilen, denn nur so konnte er sich als Freund offenbaren – und das sollte, trotz des weit vorgerückten Abends, noch heute geschehen.

Als er bald darauf an Pittjes Wohnung vorbei kam, fand er zu seinem Befremden, daß kein Licht in der vorderen Stube mehr brannte, obgleich dieser es liebte, bis tief in die Nacht hinein über lehrreichen und guten Büchern zu sitzen.

Aber Pittjes Nachbar, der Schneidermeister Olbers, saß noch vor der Tür, ließ sich von der laulichen Luft umfächeln und hielt ein Prischen zwischen den Fingern. Dieser bedeutete ihm, daß Mutter und Sohn am Spätnachmittag nach Rees berufen seien, wo Mielkes kränklicher Mann schwer daniederläge. »Der geht »Rips«,« meinte der Schneidermeister mit sehr gewichtiger Miene, klappte den Deckel der Schnup-ftabaksdose zu und warf das Prischen nach oben.

Das lag nun sehr verquer – und für heute war auf keinen Fall mehr zu helfen.

»Herr Olbers, ich habe die Ehre.«

»Nacht, Sally.«

Und Sally Süßkind ging schweren Herzens nach Hause.


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