Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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XII.
Um-tata! Um-tata!

Den warmen, sonnigen Tagen waren regnerische gefolgt. Dunstige Wolken räkelten sich schweren Ganges über die Landschaft, ließen unaufhörlich einen seinen und kalten Regen herniedersprühen, der das Reifen des Getreides bedenklich zurückhielt. Noch immer wollten die Halme nicht falben. Der Erdboden gluckste unter der triefenden Nässe. Die gleichzeitig dabei herrschende empfindliche Kühle vergönnte es den Nährstoffen nicht, aus Halm und Stengel in die Ähren zu steigen. Die Körner kamen zu kurz; sie blieben geraume Zeit in unvollkommener Milchreife stehen. Am meisten hatten die Weizenfelder unter dem ungünstigen Einfluß der Witterung zu leiden. Auch nicht die geringste gelbliche Tönung machte sich in ihren Schlägen bemerkbar. Soweit das Auge reichte – überall die gleiche blaugrüne Farbe, die nur in weiter Ferne einen violetten Schimmer aufwies. Aller Voraussicht nach war erst in einigen Wochen auf die Ernte zu rechnen. Graue Flortücher hüllten schon am frühen Morgen die Weiten ein, seine Regenfäden schraffierten immer dichter die Luft, die Wässerchen gurgelten in Rinnsalen und Gräben, und die kreisrunden Kolke, auf denen jetzt die Seerosen blühten, begannen über ihre seichten Ufer zu treten. Um die Mitte des Juli klärte sich das Wetter auf. Die Sonne stand wieder am wolkenlosen Himmel; mit ihrem Erscheinen war auch die niederrheinische Kirmes gekommen.

Die kleine Stadt begann mit dem lustigen Treiben, die benachbarten kleinen Ortschaften folgten in Intervallen von etlichen Tagen, und kaum eine Woche verging, wo nicht irgendwo die Fahnen zum Giebel herausgehängt wurden, die Böller knallten, und in Wirtshäusern und schnell aufgezimmerten Tenten eine disharmonische Kapelle zum Tanz aufspielte. Die Klarinette mit ihrer eigentümlichen Fistelstimme überschrie alles. Bis weit in die Gegend hinein ließ sie ihre aufdringlichen Klangfiguren und scharfen Triller vernehmen, kribbelte in die Beine hinein und zog Männer und Weiber magnetisch zum Tanzboden. Der ,Perdjesmann' hatte sein Karussell aufgeschlagen; Spitzen, Goldbordüren, Spiegelscheiben und sonstige Flitter tapezierten das Innere des drehbaren Kunsttempels aus, die Schelle gellte, und die ,Perdjesmadam' stand inmitten der flirrenden Herrlichkeit, drehte die Orgel und sang dazu in herzzerreißender Weise:

»Hätt' mir nicht der Schersant geseh'n.
So hätt' es keine Not;
Nun haben sie mir fortgeführt
Und schießen mir nun tot ...«

und über das Ganze lachte so ein kräftiger und gesunder Julihimmel mit blitzenden Augen.

Am ersten Kirmestage feierte alles.

Von dem Auszuge nach Marienbaum bis zu diesem Termin hatte sich manches begeben. Jan Peerenboom war mit seiner Tragikomödie fertig geworden, und wer es hören wollte oder nicht, alle seine näheren Bekannten wurden von ihm als Probierpublikum zugestutzt, damit er aus ihrem Mienenspiel, ihrer Aufmerksamkeit und den mit unterlaufenden Gesten die Wirksamkeit des Stückes beurteilen konnte. Jan verstand bei der Lektüre zu erschüttern. Besonders die Rührstellen trug er mit einem derartig schluchzenden Pathos vor, daß Sally Süßkind eines Morgens, als er bei Gelegenheit einer solchen Rezitation am Hause des Puppenspielers vorbeikam, erschreckt und mit schlotternden Knieen vorsprach und nachfragte, ob ein Unglück passiert sei oder jemand gestorben wäre. Jedenfalls war die Peerenboomsche Puppenkomödie spruchreif geworden, eine Überzeugung, die dem begnadeten Künstler ein blankes Gestöber von Kastemännchen und Groschen vorgaukelte, mit denen er einen nicht geringen Teil seiner hypothekarischen Schulden abzutragen gedachte. Aus dieser, seiner gewonnenen Überzeugung machte er auch Pittje Pittjewitt gegenüber kein Hehl. Allerlei geheimnisvolle Andeutungen flossen dabei mit unter, aus denen hervorgehen sollte, daß Kathje nicht so mittellos wäre und schließlich noch eine erkleckliche Mitgift einschießen würde.

»Immer türlütütü, Herr Schwiegersohn,« pflegte er sich bei dieser Beweisführung in die Brust zu werfen, »denn wir Künstler brauchen uns nicht lumpen zu lassen. Immer türlütütü, Herr Pittje.«

Auch Wilm Henseler war nicht müßig gewesen. Vor dem Klever Tor hatte er unter Zuhilfenahme seiner sämtlichen Gesellen und Lehrburschen das Marcoursche Tanzzelt erstehen lassen, ein luftiger Bau, der, mit einem Riemenboden belegt und mit Plantüchern eingedeckt, wenigstens einen Raum für über hundert tanzende Pärchen abgeben konnte. Dann hatte er das Innere noch mit Tannen- und Eichengirlanden geschmückt, Fahnen aufgesteckt und Drapierungen vorgenommen und sich schließlich eine kräftige Buddel Braunbier geleistet. Trotz der regnerischen Tage wurde er nach Vesperzeit vielfach bei den geschändeten Birken gesehen, sprach auch häufiger bei dem Herrn Polizeidiener Vrill vor, wo er sich in der Handhabung und Durchführung besonders wichtiger Fälle auf dem Gebiet der Kriminaljustiz unterweisen ließ, seine mittlerweile angehäuften Indizien dem abgelebten Notizbuch des Polizeigewaltigen anvertraute, um dann eines Tages seine Nachforschungen und geheimen Erwägungen für abgeschlossen zu halten.

»Mjinheer Brill, ich melle gehorsamst,« sagte er mit leuchtenden Augen, »ich bin heute über'n Maxusstandpunkt gekommen. Allens gestrichen voll, meinetwegen wie'n Sack mit Hobelspänen. Nach Kirmeszeit mach' ich gehorsamst nach Kleve – un dann müssen sie 'ran an die Ramme. Unter drei Jahren tu' ich's nich, denn so wollen's die rungenierten un zertüpperten Birken. Pfui...!«

Und Pittje...?!

Die Begebenheiten der letzten Tage waren nicht ohne Spuren bei ihm vorübergegangen. Sein Verhalten während der Ratssitzung, das von vielen seiner Mitbürger schief beurteilt wurde, die eingegangenen Verpflichtungen, seine Verlobung und die Sorge um das Wohl und Wehe seiner schwerheimgesuchten Schwester Melke in Rees jenseits des Rheines, die sich mit ihrem kränklichen Mann und den noch unmündigen Kindern kaum über Bord zu halten vermochte – alle diese Dinge gaben zu denken und veranlaßten ihn, das Leben noch ernster und gewissenhafter aufzufassen, wie er es bislang schon getan hatte. Eine große Erkenntnis kam über ihn; sie wuchs und erweiterte sich und wurde stündlich größer und tiefer. Vornehmlich in nächtigen Stunden war sie bei ihm, wenn er keinen Schlaf finden konnte. Dann taten längst vergangene Bilder sich auf, die Gegenwart sah ihn fragend und mit rätselhaften Augen an, und verschleiert, aber noch immer deutlich genug, winkten die zukünftigen Tage aus weiter Ferne herüber. Welche Empfindungen die einzelnen Betrachtungen in ihm wach riefen, darüber gab er sich keine bestimmte Rechenschaft – konnte sich auch keine geben, denn es waren ihrer so viele, daß er nicht wußte, wo er beginnen und wo er aufhören sollte. Aber das wußte er: manche Freuden und Hoffnungen liefen mit unter, viele Enttäuschungen drängten sich mit brutalem Ellbogen dazwischen, und dann erschien eine weite Öde vor seinen geistigen Blicken, auf der nichts gedeihen wollte als Disteln und Dornen – und diese Disteln und Dornen waren eitel Mühen und Sorgen – und Arbeit. Arbeit – die suchte er ja. Nur durch sie konnte er die winkenden Hoffnungen realisieren, die Enttäuschungen weit machen und das weite Ödland, das sich fast ununterbrochen bis an den dunklen Horizont erstreckte, in fruchtbare Felder umwandeln, auf denen er im Schweiße des Angesichts pflügen und säen konnte, um schließlich mit Gottes Hilfe die Frucht seiner Mühen zu ernten. Aber die Arbeit tat es allein nicht. Er hatte das instinktive Gefühl, daß zwischen ihm und seinen Mitbürgern nicht mehr das trauliche Verhältnis obwaltete, wie er es gern gehabt hätte und wie es früher gewesen, und seine ganze seelische Veranlagung drängte doch nach Frieden und Eintracht. Gewiß, mit seinen näheren Freunden war die geistige Verwandtschaft noch inniger und fester geworden, aber so viele andere, die ebenfalls in guten und bösen Tagen getreulich zu ihm gestanden, schienen allgemach und geräuschlos abbröckeln zu wollen. Hier sprachen kirchliche Dinge mit, denn sein Protest auf dem Rathaus, sein energisches Auftreten im Interesse des Gemeindewesens und das etwas schroffe, wenn auch gerechtfertigte Benehmen in Sachen der Kirche, der er rücksichtlich seines Nebenamtes als Leichenbitter verpflichtet, verstimmte bei manchen und veranlaßte sie, ihm Irrtum, Fehl und Übereilung in die Schuhe zu schieben. Selbstverständlich benutzten Aloys Pierentrecker und Henne Terlinden die Lage der Dinge, die mißmutigen und bedrohlichen Fünkchen noch mehr ins Feuer zu blasen. Aber was wollten die Leute?! – Hatte er doch nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, und sich selber untreu werden, dazu war er denn doch ein zu selbständiger, gefesteter und insichgekehrter Charakter, der mit zäher Selbstachtung dasjenige weiter verfocht, was ihm notwendig und dringlich erschien, selbst auf die Gefahr hin, weniger ihm wohlwollend gegenüberstehende Menschen zu haben und sein immerhin einträgliches Nebenamt gefährdet zu wissen. Allein, trotz dieser Charakterstärke – das unbestimmte Gefühl, mit einer sehr ernsten Zukunft rechnen zu müssen, ließ sich nicht ohne weiteres abstreifen, und immer wieder trat ihm das Bild der weiten und trostlosen Öde vor Augen, auf der bis jetzt nur bläuliche Disteln wucherten und saure Gräser sich unaufhörlich im weichen Winde bewegten. Und dann stand er da, sah in die verlassene Gegend hinaus und wollte traurig werden. Und doch! – flimmerte nicht die liebe Sonne darüber hin mit wechselnden Lichtern, waren nicht fröhliche Farben dort ausgestreut, die, mit rechten Augen gesehn, das Gemüt erheiterten und die umdüsterte Seele belebten?! – Ja, das taten sie – und weiter dort hinten, gaukelte da nicht ein lustiges Ding, ein fröhliches Etwas, ein schillernder Falter über die starren Distelblumen und Halme?! Er konnte nicht irren; zierlich und heiter taumelte es durch die ruhigen Lüfte, und als er genauer zusah, da war es sein eigener goldener Humor, der, in einen schmucken Butterblumenvogel verwandelt, über das Traurige und Trübe der Gegend hinwegtäuschte. Und dieser Falter blieb nicht allein. Zwei andere gesellten sich ihm. Sie tändelten und spielten zusammen, obgleich sie schwerfälliger waren als der erste Gaukler, in welchem Pittje seinen eigenen Humor wiedererkannt hatte. Beim Anblick dieser Sommervögel mußte er unwillkürlich an Sally Süßkind und Wilm Henseler denken – und lächeln. Als dieses Lächeln Mutter Pittjewitt bemerkte, da war sie näher getreten, hatte liebevoll den Arm in den seinen gelegt, ihm recht tief ins Auge gesehn und leise geflüstert: »So ist's schon richtig; lache man wieder und sieh getrost in die Zukunft. Mir und Deiner armen Schwester bist Du stets ein guter Sohn und Bruder gewesen, und so was kann nicht verschlagen, denn alles will auf dieser Erde wieder erlebt sein.« Sein Gemüt erheiterte sich, er dachte an Kathje, bediente seine Kunden noch zuvorkommender denn sonst, zimmerte und reparierte in der frühen Morgenstunde an dem fahrbaren Schweinetrog, mit dem er in den Adventstagen auf den Bauernschaften herumkarrte, um in seinem Metier als Ferkelstecher mit Hilfe desselben die Weihnachtsschweine abzutun – und pfiff bei dieser Arbeit so kräftig, daß die vorübergehenden Leute meinten, ein Harzer Kanarienroller säße im Hanf und sänge auf Pfingsten. Vor einer fröhlichen Kanarienrolle können keine unliebsamen Schatten bestehen. Sie verkrochen sich alle und wagten nicht, sich wieder aus ihrem Versteck zu heben. Nur einer war übrig geblieben. Er trug Priestergewand, hatte stets die Arme übereinander geschlagen und ließ nicht ab, ihn mit seinen kalten, wasserhellen Augen zu mustern. – Nikodem!

Gleich nach seiner verunglückten Mission hatte dieser Ull Koßmann gegenüber versucht, ihm das Mißliche und scheinbar Hoffnungslose seines Vorhabens auseinanderzusetzen. Allein, das verfing nicht bei Koßmann. Fußend auf die allbewährte Praktik, den Wert der eigenen Persönlichkeit mit genügender Willensstärke zu behaupten, sich ferner durch den zuerst abgewiesenen Vorstoß nicht irre machen zu lassen, hatte er nur ein mitleidiges Achselzucken für die Befürchtungen seines Freundes und ging unentwegt auf sein Ziel los, dem der Kitzel des Heimlichen und Aparten noch einen besonderen Reiz verlieh, so energisch wie möglich die Abwickelung der delikaten aber äußerst verlockenden Frage zu betreiben, von deren Lösung er sich nicht nur bedeutende künstlerische Erfolge, sondern auch die Befriedigung einer dürstenden Sehnsucht versprach, die ihn magnetisch zu einem Wesen hintrieb, in welchem er das begehrenswerteste Weib in der Fülle des Begriffes zu glauben wähnte. Echt künstlerisch und zugleich bis in die kleinsten Fasern sinnlich veranlagt, wußte er nicht die Grenze anzugeben, wo bei ihm die lauteren, idealen Motive aufhörten und von den physischen und groben Instinkten seines Fühlens und Denkens abgelöst wurden. Von geheimen Zuckungen durchtobt, unbewußt der Eingebung zwingender Kräfte Folge gebend, drängte seine Seele unwiderstehlich nach Ausgleich, und er fühlte sich von Schauern durchrüttelt wie der Baum in der Frühlingsnacht, wenn der Sturm seine Flügel spannt und mit Brausen daherkommt. Ull Koßmann ließ sich durch die Argumente und Bedenken seines geistlichen Freundes in keinerlei Weise beirren. Derlei Naturen schrecken nicht vor jedem Hemmnis zurück. Rücksichtslos und fast in brutaler Manier schreiten sie vorwärts, unbekümmert darum, wieviel Glück hierdurch gefährdet erscheint, mit erbarmungslosen Füßen in den Schmutz gestampft wird oder rettungslos dem Verderben anheimfällt. Und so auch Ull Koßmann, der keinen Vorwand scheute, seinem geplanten Ziele näher zu rücken und die Grundlagen eines Werkes festzulegen, mit dem seine Phantasie zur Zeit sich nur mit traumhaften Ahnungen beschäftigen konnte. Eine fieberhafte Begierde nach Arbeit ergriff ihn, eine Begierde, die sich ausleben mußte und in ihrer eigenartigen, fortstürmenden Gewalt fast geeignet erschien, das rein Künstlerische in ihm mächtig zu fördern und dem Dämon des Sinnlichen gegenüber dauernd in die erste Linie zu schieben. Es wehte ihn bei dieser Begierde nach Gestaltung und alle Kräfte sich betätigen zu lassen etwas an, das an die Empfindungswelt eines keuschen und großen Herzens gemahnte, an das Ringen einer lauteren Künstlerseele, aus der das neue Werk rein und groß und ohne Nebenabsichten geboren werden sollte. Unwiderstehlich trieb es ihn in die engere Heimat von Kathje.

Gewandstudien halber hatte sich Ull Koßmann schon etliche Tage in dem kleinen niederrheinischen Flecken aufgehalten. Die Altartafeln eines Jan Joest von Calker redeten ihre eigene Sprache. Hier erinnerte nichts an akademische Korrektheit. Wie von einem magischen Silberlicht umflossen, winkten sie traulich aus einem längstvergangenen Jahrhundert herüber und regten die noch immer unentschiedene Frage an, ob nicht auch die Darstellungen des Meisters vom Tode Mariä den Werken ihres Schöpfers zugezählt werden müßten. Das Studium erquickte. Die Gemessenheit und Anmut der erzählten Legenden, die sorgsame Zeichnung, die liebevoll behandelte Landschaft, das Naive in der Charakteristik und die noch halb in der Überlieferung der van Eyckschen Schule fußende Technik – alle diese Vorzüge und Eigentümlichkeiten, verbunden mit dem Bauschigen und Knitterigen am Saum der Gewänder, strahlten eine zauberische Kraft aus und nahmen auch den Sinn Ull Koßmanns gefangen. Hier hatte ein vornehmer Luminist flackernde Farben aus weichen Konturen geweckt, sie mächtig geschürt, um sie dann wieder ganz allmählich und träumerisch-wollüstig hinsterben zu lassen. Die Saiten zartester Seelenregungen begannen hier leise zu tönen. Vor diesen Tafeln stehend, glaubte Ull Koßmann Melodien zu hören. Sie gingen ihm noch mehr zu Herzen als die alten Meisterwerke im benachbarten Xanten. Er hatte schon in früheren Tagen vor diesen Altarschreinen in stiller Verzückung gestanden, aber noch nie waren ihm diese gemalten Wunder so als Wunder erschienen, wie es nunmehr der Fall war, als er vor ihnen weilte, um die hauptsächlichsten Details mit Papier und Kohle für seine Zwecke dienstbar zu machen. In diese berückende Technik, in diese Farben modernes Empfinden, Leidenschaft und wirkliches Leben zu bringen – das war es, was ihn dauernd bewegte und ihn veranlaßte, stundenlang im silbrigen Dämmer der Kirche zu schaffen, und die Geheimnisse aus längstvergangenen Zeiten unmittelbar auf sein Empfinden wirken zu lassen.

Und während dieser Studien, in diesem mystischen Helldunkel, in dieser feierlich – lastenden Stille war ihm eines Tages Kathie begegnet. Die matten Abendlichter spielten durch die gotischen Fenster. Nur gedämpft und wie aus weiter Ferne herkommend machte sich da draußen das tägliche Leben bemerkbar. Der Odem Gottes wehte durch die ragenden Säulen, und Ull Koßmann dachte gerade daran, sich von den Werken des alten Meisters zu trennen, als sie, vom Südportal herkommend, das Mittelschiff querte, das hohe Chor betrat, um von hier aus mit ihrem Körbchen geplätteter Altardecken die Sakristei zu gewinnen.

Sie hatte kaum die obersten Stufen des Chores betreten, als sie sich gegenseitig bemerkten. Zum ersten Male im Leben standen sich beide allein gegenüber, fern der Welt und ihrem lauten Getriebe. Das war ein anderes Begegnen als in der Gnadenkapelle, wo viele hundert Menschen umherknieten, und krasser Wunderglaube die von der langen Wallfahrt geröteten und aufgedunsenen Gesichter verzückte. Ein dunkles Empfinden war über beide gekommen, und zwar jenes Empfinden, das gleichgeartete Seelen durchzittert. Kathje haftete wie gebannt an der Stelle. Das waren wieder die Augen von damals, die glühenden Augen, die sie schon beim Marienzauber gesehen, die unheimlich und verzehrend am tiefen Horizont lagen, als sie sich mit Pittje auf den Heimweg begeben hatte, und rings die Wiesen unter dem linden Hauche des Abends einschliefen. Ja, damals ...! – Und ein gespenstischer Vogel revierte ob der träumenden Fläche ...

Wie ein heftiges Erschrecken ging es über ihr schönes Gesicht. Sie konnte den Fuß nicht mehr heben; das Abendlicht fiel über ihre schlanke Gestalt, ließ ihr kastanienbraunes Haar goldig aufstrahlen und verwebte überirdische Funken ihrem verwaschenen Kleidchen. Sie stand vor ihm wie einem Bilde entstiegen. Kein Laut drang über seine Lippen, denn jedes Wort hätte den Zauber gelöst und gebrochen. Schnell griff er nach seinem Zeichengerät.

Kathje bemerkte es und rückte zur Seite.

»Stehn bleiben!« rief Ull Koßmann mit heiserer Stimme. Der Bann war gebrochen. »Herrgott noch mal – das ist ja prachtvoll!«

Immer lichter wob der Abendschein sein goldiges Feuer um Kathje.

»Weißt Du – haben muß ich das alles, sonst geht meine ganze Kunst in die Brüche. Und da gehörst Du hin – auf so 'ne Tafel gehörst Du!«

Er hatte mit herrischen Worten gesprochen; dann war er mit großen Schritten näher getreten.

»Na, so was!«

Mit zuckender Hand hatte er versucht ihre Rechte zu fassen.

Immer feuriger spielten die Abendlichter um Kathje.

Sein Atem ging schwer. Niemals im Leben hatte er so was gesehen. Wieder ergriff ihn die unwiderstehliche und fleischliche Sehnsucht, die sich in seinen gierigen Blicken mächtig ausprägte.

Obgleich Kathje die Lider gesenkt hatte – sie mußte es fühlen, was die Sinne des ihr gegenüberstehenden Mannes bewegte.

»Willst Du?«

Sie hörte die verlockende Stimme und empfand die Blicke, die heiß und versengend an ihrem Leibe herunterstreiften.

Die Angst betäubte sie, aber die Stunde offenbarte ihr alles.

»Du mußt ...«

Sie schüttelte leise den Kopf. »Nicht ...?«

Schrittweise wich sie zurück, die großen, heißen Blicke starr auf den Maler gerichtet, wie wenn sie ihn zwingen und ein weiteres Vordringen von seiner Seite verhindern wollte. Dann stieß sie einen ängstlichen Schrei aus. Noch bevor Ull Koßmann es verhindern konnte, war sie auf und davon und zwischen den Pfeilerbündeln, die zur Sakristei führten, verschwunden.

Es war nur ein kurzes Begegnen gewesen; Ull Koßmann jedoch, als raffinierter Kenner weiblicher Launen und Neigungen, gab sich mit der heutigen Stunde zufrieden.

Keiner war Zeuge gewesen, und Kathje verschwieg es. – – –

Anderen Tages hatte die niederrheinische Kirmes ihren Einzug gehalten. –

Kirmesmusik und Kirmestrubel! – Moppen- und Janhagelbuden schachtelten sich auf dem Großen Markt neben- und zwischeneinander. Schießzelte, in welchen dickbusige Jungfrauen mit frechen Gesichtern und grünen Sammetblusen die Herren Schützen bedienten, lehnten sich an den lustigen Tempel der Riesendame, vor dessen Eingang sich ein bramarbasierender Kerl mit gewichstem Schnurrbart, Schnürjacke und klirrenden Stiefeln postiert hatte, eifrig bemüht, die geehrten Herrschaften, mit Aufbietung des ganzen ihm zur Verfügung stehenden Lungenmaterials, für die Besichtigung seines Ausstellungsobjektes zu kirren. Es war unglaublich, was der runzelige Kerl mit den jugendlichen Gesten und dem martialischen Schnurrbart hinsichtlich der Riesendame in Worten und pantomimisch zu leisten vermochte. Er verglich die zu Besichtigende mit Esther, der schönen Pflegetochter Mardachais, mit der Herzogin Vasthi, der Königin von Saba und mit Abisag von Sunem – nur gestaltete sich in seinem Munde alles völliger, riesenhafter, saftiger. Er begann mit dem fleischigen Nacken, tätschelte an den wampigen Armen herum und machte schließlich einen kühnen Salto mortale bis zu den Waden herunter, daß den Gaffern vor diesen Auslassungen des mit Worten und Zeichen schildernden Sünders der Mund wässerte, und sie trotz ihres trübkatholischen Sinnes in die Tasche griffen und einen guten Groschen riskierten.

»Nur immer 'rein, die Herrschaften – Überzeugung für die Echtheit gestattet!«

»Beispielsweise nur um einen Begriff von der schönen Esther und der reichen Königin von Saba zu kriegen...« meditierte Aloys Pierentrecker, beschwichtigte hierdurch seine keimenden Bedenken, zahlte und drückte sich vorsichtig, scheu und, im Vorgefühl der kommenden Dinge wie ein Ferkel grunzend, hinter den rotsammetnen Vorhang. Der säbelbeinige Bäcker Henne Terlinden wagte ein gleiches. Aber trotz ihrer Fixigkeit und des raschen Verschwindens – Frau Grades van der Grinten, die rundliche Kaufmannsfrau, war Zeuge des heimlichen Vorgangs gewesen. Das genügte so ziemlich! – Sie griff schnurstracks die heikle Situation der in die Irre gegangenen Männer auf, wetzte ihr Mundwerk wie eine blitzende Klinge und guillotinierte ihnen geschwätzig und ohne Federlesens die ehrlichen Namen herunter. »Nur immer 'rein, die Herrschaften! – die Herzogin Vasthi wird gleich die Bühne betreten. Ein Groschen Entree. Kindermädchen und Militärs ohne Charge zahlen die Hälfte. Die Herren von der Polizei umsonst. Ich bitte gehorsamst, Herr Brill...«

»Abgelehnt,« sagte dieser und ging stolzen Schrittes vorüber.

Von der Linde her tönten jubelnde Kinderstimmen.

Dort hatte Jan Peerenboom seinen Komödienkasten aufgeschlagen. Noch stand er untätig neben seinem geheimnisvollen und fliegenden Theater. Seine Zeit war noch nicht gekommen. Erst mit dem Schlage vier sollte die Vorstellung beginnen, und, wie die ungeduldige Menge auch lärmen mochte, Jan ließ sich nicht beirren, wiegte sich selbstgefällig und mit einer gewissen schäbigen Eleganz in den Hüften, sah zum Zifferblatt der Rathausuhr empor und folgte mit dem stoischen Gleichmut eines Weltweisen dem peripathetischen Vorrücken der vergoldeten Zeiger.

Der Künstler strahlte heute in einem neuen Bekleidungsstück. Basierend auf die guten sozialen Verhältnisse, in welche er durch die Verlobung seiner Tochter mit Pittje Pittjewitt gekommen, hatte sich Jan ein übriges geleistet. Die Großkarierte, die im Laufe der Jahre fransig und fadenscheinig geworden, war zu den Akten gelegt, eine neue war an ihre Stelle getreten und paradierte nun mit ihren schwarz-weißen und scharfbegrenzten Feldern an den Beinen des Künstlers.

Noch fünf Minuten!

Immer weiter rückte der Zeiger. Groß und klein wurde ungeduldig, trampelte mit den Füßen und begann den Künstler mit Moppen- und Printenstücken zu bombardieren.

Ruhig blinzelte Jan nach der mächtigen Turmuhr.

»Ohm Peerenboom! – Ohm Peerenboom ...!« schrieen die Kleinen.

»Jantje Klaas! – Jantje Klaas!« riefen andere dazwischen.

Der Puppenspieler hatte weder Auge noch Ohr für die ungeduldige Menge. Lächelnden Mundes folgte er dem Schneckengang der glänzenden Zeiger.

»De Pöppjes! – De Pöppjes ...!«

Erneutes Getrampel; frische Moppen- und Printensalven kamen geflogen. Es half ihnen nichts; der Künstler schenkte ihnen auch nicht eine Sekunde. Da begannen einzelne zu singen, andere folgten; jubelnd klang es ihm aus hundert frischen Kehlen entgegen:

»Bier en Kümmel lößt de Ohm, Kirsch en Pomeranze – Liewen Onkel Peerenboom, Laat de Pöppjes danze.

Hier 'ne Penning, dor 'ne Penning – Vöran Baas! – Jantje Klaas – Jantje Klaas!«

»Himmel und Motten ...!«

»Hier 'ne Penning, dor 'ne Penning ...!«

Vier Uhr! »Genoveva!« brüllte Jan in diesem Augenblick über die lautlos gewordene Menge; dann war er inmitten der schlappenden Segeltücher seines Komödienkastens derschwunden.

Ein Klingelzeichen ertönte, die Gardine rollte sich auf, und in wechselnden Situationen, bald die Gemüter erschütternd, bald an die Lachmuskeln der atemlosen Zuschauer appellierend, ließ Jan die einzelnen Figuren des Ritterschauspiels vorüber marschieren. Die Verse polterten wie ein brausender Gießbach. Tragische Momente folgten sich Schlag auf Schlag, und als die Szene erschien, in welcher der Pfalzgraf Siegfried, dem Rufe der Kreuzfahrer folgend, von seinem edlen Weibe Abschied nimmt und in die traurigen aber markigen Worte ausbricht:

»Schon scharrt der Renner wiehernd an der Pforte;
Reich mir das Kriegshemd mit der Silberborte,
Aufs Ritterhaupt drück' mir den edlen Helm,
Denn blieb' ich hier – ich wär' der größte Schelm.
Doch auch im Lande, wo die Türken wohnen,
Viel' schöne Frau'n in schwülen Harems thronen –
Ich denke Deiner treu und unbeirrt
Und auch des Sohn's, der noch geboren wird.
Fürs heilge Kreuz will ich im Sattel sitzen,
Fürs heilge Kreuz mein rotes Blut verspritzen;
Viktoria! der gold'ne Halbmond sinkt,. .! –
Doch lebe wohl – der Knappe Kieke winkt,..«

da drängten sich die Kinder enger zusammen, die Männer zählten die Pflastersteine, und Frau Grades van der Grinten, die sich mittlerweile vom Tempel der Riesendame fortgeschlichen und ethischere Genüsse aufgesucht hatte, schluchzte ein über das andere Mal: »Ach Gott, der Ärmste – der Ärmste!« wobei sie ihr Taschentuch herausholte und bitterlich weinte. Die Hände auf den frommen Busen gelegt, folgte sie unter stetiger Spannung der weiteren Handlung. Jan übertraf sich selbst. Nur unter dem Beistand eines viven und flachsköpfigen Bengels, den er aus der gaffenden Jugend herausgefischt hatte und gewissermaßen als Adlatus benutzte, zog er die Fäden, agierte und ventriloquierte, daß alle vermeinten, in die klobigen Holzpuppen sei wirkliches und wahrhaftiges Leben gefahren. Die Intermezzi waren dem Humor und dem Frohsinn gewidmet, denn die Fülle der tragischen Momente wirkte allzu erdrückend und bedingte eine zeitweilige Entladung. Jantje Klaas als lustige Person sorgte dafür; er tat es in so gründlicher Weise, daß viele aus Furcht, am Lachkitzel ersticken zu müssen, auf und davon gingen. Etliche Dienstmädchen kniffen sich wechselseitig in die entblößten Arme, lediglich von dem Wunsche beseelt, durch den erzeugten Schmerz ein Gegengewicht in bezug auf ihre eruptiven Heiterkeitsausbrüche zu haben. Kinder quietschten und schlugen wiehernd ihre gescheuerten Holzschuhe zusammen. Blauen Gesichtes mußte sich der Bierbrauer Thys van de Kamp an seinen Nebenmann halten. Lachsalven über Lachsalven rollten über den geräumigen Markt hin. Und dann wieder die Tragik, die entsetzliche Tragik! – Dazwischen knarrten die Drehbretter, schrieen die Besitzer der Lebkuchenbuden, orgelte die ›Perdjesmadam‹, und zeitweilig tönte in bestimmten Intervallen die Tanzmusik aus der Marcourschen Tente herüber.

»Um–tata! – Um–tata...!«

Dort waren die städtischen Musici, im gewöhnlichen Leben biedere Handwerker, im Schweiße ihres Angesichts beschäftigt, zum Rheinländer und Schottisch aufzuspielen.

»Um–tata...!«

Ha, wie das in die jungen Beine hineinfuhr! Es war nur ein Vorspiel; der eigentliche Festball sollte erst gegen Abend beginnen. Aber auch jetzt schon elektrisierten die munteren Weisen; sie drangen selbst bis in die entlegene Kesselstraße hinein, wo die Kirmeswelle ruhiger flutete als in den übrigen Gassen.

Auch Mutter Pittjewitt hörte die lockenden Töne. Sie saß hinter den Scheiben am Fenster und strickte. Jetzt hatte sie kein richtiges Gefühl mehr für den staubigen Tanzboden. Früher war das anders gewesen, als sie noch eine Einspännerin war. Dann kamen der Mann, die Sorgen, die Kinder und der Lebensabend; da ging's nicht mehr. Jetzt saß sie immer und strickte. Es war ihr eine liebe Gewohnheit geworden; denn beim Stricken ließ sich so gut sinnen und grübeln. Alte Erinnerungen, teils lächelnd, teils mit ernsten Gesichtern, kamen und gingen. Sie brachten ihre Seele nach oben, wo so viele weilten, die sie gekannt hatte auf Erden; gleich darauf wurde sie wieder talwärts geführt, wo die Menschen wohnen mit ihren Fehlern und Vorzügen, mit ihren Leiden und Freuden – und da mußte sie an Pittje denken, an Kathje und ihre arme Tochter jenseits des Rheines, die das Schicksal hart angepackt hatte, das noch immer keine Anstalten machte, die schwere Hand von ihr zu nehmen.

Und noch ein anderer saß hinter den Fensterscheiben und hörte auf die Musik, die der weiche Sommerwind herübertrug – und das war Säkchen Reiß, der als Kommis bei Sally Süßkind gegen hundert Taler Salär und gute Behandlung in Kondition stand. Wofür Mutter Pittjewitt kein Verständnis mehr hatte, das war bei Säkchen noch im hohen Maße vorhanden. Die hergewehten Klänge drangen ihm wohlig zu Ohren, sie taten ihm gut und kribbelten ihm wie Ameisen bis in die äußersten Zehenspitzen hinein. Säkchen Reiß war ein leidenschaftlicher Tänzer.

Die miserablen Beinchen um die Holzschraube des hohen Kontorstuhles gewunden, den Kopf in die linke Hand gestützt, thronte er vor einem engbrüstigen Pult, in dessen rückwärts gelegenen Fächern sich verschiedene, mit diversen Getreideproben angefüllte Schälchen befanden. Das aufgeschlagene Hauptbuch lag vor ihm.

Seine Blicke huschten darüber fort. Er hatte überhaupt seit mehreren Stunden kein sachliches Interesse mehr für Soll und Haben, Forderungen und Schulden, Einzelfunktionen des Verkehrs und deren Anteil am Gesamtresultate, denn er duselte träumerisch suchend ins Nichts, wie einer, dem eine angenehme Hand an den Ohren herumkraut, wiegte rhythmisch den Kopf und griff von Zeit zu Zeit in die Getreideschälchen, brachte die herausgenommenen Körner in den Mund und kaute sie mechanisch herunter. Bei allen Gedanken, sie mochten rein sachlicher, trauriger oder heiterer Natur sein, pflegte Säkchen Getreideproben zu kauen, wie er denn überhaupt auch in seinem übrigen Benehmen das reinste Ebenbild seines Prinzipals war – aber im kleinen. Er lief ihm als Schatten voraus oder folgte als Schatten. Sally Süßkind hatte die Gewohnheit, an Nelkenstengeln zu knabbern, Säkchen begnügte sich mit Sommerrübsen, Wicken und Roggen; Sally trug je nach der Jahreszeit Buckskinhosen mit schwarzbraunen Galons, Gehrock und Filzhut, Säkchen desgleichen, die er auch im Sommer mit weißleinenen Beinkleidern, Nankingjackett und Strohhut vertauschte, selbstverständlich hinsichtlich der Qualität unter Rücksichtnahme auf seine hundert Taler Salär. Sally flötete, der Herr Kommis flötete auch; nur zog Herr Süßkind die wehmütigen, getragenen, klagenden Weisen vor, während sein junger Mann mehr auf das Wiegende und Prickelnde der Tanzmelodie Gewicht legte und bei Gelegenheit nicht müde wurde, irgendeine aufgelesene Walzerphrase zu pfeifen.

Säkchen Reiß saß schwer in Betrachtungen. Allein sie waren weniger bei den Zahlen und Abschlüssen im Hauptbuch, als bei den Musikanten in der Marcourschen Tente. Und diese Betrachtungen fuhren ihm zeitweilig bis in die Zehenspitzen hinein, lösten ihm die übereinander geschlagenen Beine vom Drehstuhl und brachten sie in eine Art von Tanzbewegung, so daß es den Anschein hatte, als sei der glückliche Inhaber des mehr als fragwürdigen Beinwerks schon jetzt gewillt, etliche gewagte Pas zu riskieren. Dabei wiegte er den Kopf von der einen auf die andere Seite, knackte Buchweizeneckern und träumte sich in so 'ne richtige Kirmes- und Ballstimmung hinein, laut welcher er selbst den Festordner abgab, die Polo-näse kommandierte und bei Ausbietung verlorener Gegen-stände, kraft der ihm vom Ballkomitee übertragenen Gewalt, Tusch blasen ließ. Alles flimmerte vor seinen glücklichen Augen: die Girlanden, der aufgewirbelte Staub, die Talgkerzen, die Marköre und die tanzenden Paare – und er war eben dabei, eine feine Quadrille zu arrangieren, als er durch die Ankunft seines Prinzi-pals aus allen Himmeln gezerrt ward.

»Herr Süßkind!« stammelte Säkchen.

»Was Neues?«

»Was soll's Neues geben, Herr Süßkind?!«

»Sind die eingegangenen Posten notiert?« fragte Tally.

»Es schteht,« sagte Säkchen.

»Un 's große Haus Meyer in Kleve...?«

»Schweigt noch immer, Herr Süßkind.«

»Schön,« sagte Sally, »das große Haus schweigt immer, wenn es soll machen Geschäften mit die kleineren Leute, aber ich komm' auch an die Reihe. Das Haus Süßkind kann warten. Un sonst: sind frische Kommi-schonen gekommen?«

»Herr Süßkind, ßwei sind gekommen.«

»Nü – un ...?«

»Eine auf Rapps un Kleesamen, die ßweite auf Roggen for Herrn Bäckermeister Terlinden. Aber ich schlösse nich ab, ich tät's nich, Herr Süßkind.«

»So!« sagte Sally. »Is es doch ein Wagnis von Ihnen; haben wir doch genug Kommischonen bei die jetzigen Zeiten. Herr Süßkind, ich tät's nich.«

»Säkchen, warum nich?«

»Herr Süßkind, die Mäuse...!«

»Vize kapore!« rief Sally, »was sollen die Mäuse? Es gibt keine Mäuse. Bleiben Sie mir mit die Mäuse vom Leibe; sie kriechen mir schon die Beine herunter, un will ich doch tanzen heute ßu Abend in die Marcoursche Tente. Un nu das mit die Mäuse! – un ich hab's doch Herrn Pittje un seiner ßukünftigen Frau Gemahlin versprochen. Säkchen, mit dem infamten Geschmuse...«

»Gut,« meinte Säkchen, »kann es auch sein ein Geschmuse, kann es auch sein ein Ketowes – aber ich hab' 'ne Bitte an Ihnen, Herr Süßkind.«

»Säkchen, was soll's denn?«

»Herr Süßkind, ich bitte, 's Kontor beschließen ßu wollen for heute.«

»Schpaß,« lächelte Sally.

»Herr Süßkind, ich muß noch 's Schemischen besorgen.«

»Schpaß,« lächelte Tally noch einmal.

»Herr Süßkind, ich muß meinen Zylinderhut noch aufbügeln lassen ßu heute. Ich will auch gehn ßu's Tanzen in die Marcoursche Tente; ich hab's der Rosalie Leismann versprochen.«

»Säkchen, un is abgeschlossen for heute?«

»Herr Süßkind, es schteht.«

»Un das mit die Briefe?«

»Herr Süßkind, es stimmt.« »Säkchen, gehst Du kapores – un das mit die Mäuse?«

»Kann es auch sein ein Geschmuse, Herr Süßkind.«

»Schön,« sagte Sally und brachte die hinter der linken Ohrmuschel steckende Kartäusernelke in den Mund, »Kommis sind nun einmal Kommis! – Gott, dieses Pläsier in die Welt! – Aber, junger Mann, ich will Ihnen was sagen: hat der Prinzipal Pläsier in die Welt, soll auch haben der Herr Kommis Pläsier in die Welt – 's Kontor wird geschlossen.«

»Sehr obligiert, Herr Süßkind,« dankte Herr Reiß, ließ noch etliche Buchweizeneckern, Linsen und Roggenkörner in seine Tasche gleiten, drehte sich von seinem hochbeinigen Kontorstuhl herunter, schlenkerte mit dem sehr minderwertigen Untergestell und tänzelte seinem Glück und seinem Schemischen, dem Ball und Rosalie Leifmann entgegen.

»Schpaß,« lächelte Sally, »aber die Mäuse...«

Und Frau Mutter Pittjewitt saß noch immer hinter den Scheiben und strickte, und Jan Peerenboom war mit seiner Puppenkomödie glücklich und unter frenetischem Beifall zu Ende gekommen, hatte klingenden Erfolg die Hülle und Fülle gehabt und war selig nach Hause geschoben. Jetzt wußte er es: die Welt stand ihm offen; Pittje Pittjewitt mußte mit seinem Darlehen bald abgefunden werden, denn es schaffte und dichtete sich freier als unabhängiger Künstler – und das sollte sobald wie möglich geschehen. Je eher, je besser! Die Aussicht war gut, denn als er nachzählte, konnte er fünfundvierzig Kastemännchen in den bereit gehaltenen Beutel versenken; immerhin ein leidliches Resultat für den Anfang.

»Gott verdomie!« triumphierte Jan Peerenboom. »Hurra de Pöppjes!«

Schmunzelnd ließ er sich hierauf in das ächzende Kanapee fallen und träumte von seinem Glück, den Kindern und der Yorkshire-Sau bis in den späten Abend hinein.

Aloys Pierentrecker und der säbelbeinige Bäcker studierten noch immer an der Riesendame herum, konnten jedoch nicht einig werden, ob sie es mit der Herzogin Vasthi, der schönen Esther oder der reichen Königin von Saba zu tun hatten, waren aber schließlich und nach eingehendem Studium der Ansicht, daß der Kerl mit der polnischen Sammetjacke und dem martialischen Schnurrbart den Ausschlag geben sollte. Dieser wollte sich aber nur gegen Ponierung eines süßen Likörs und verschiedener Flaschen »Langkork« hierzu verstehen. Na, das geschah nun, und als im Verlaufe der vergnügten Kneiperei die Herzogin Vasthi sich äußerst zärtlich gerierte, immer näher rückte, endlich an Aloys Pierentrecker den Narren gefressen hatte und ihm liebevoll zuplinkte – da ging es nicht anders: der für gewöhnlich bis oben zugeknüpfte Schellfisch, Vorbeter und Mitglied des Kirchenrats, wurde gesprächig.

Und der Abend ging darüber hin – und als die ersten Sterne vom heiteren Himmel blinzelten, da zogen Pittje Wtjewitt mit Zylinder und Gehrock, Kathje Peerenboom und Sally Süßkind zur Marcourschen Tente. Von weither klang es ihnen schon fröhlich entgegen.

Um–tata! – Um–tata...!

Klarinette und Bombardon taten das ihre.

Das Marcoursche Zelt war strahlend erleuchtet; jenseits desselben aber rauschten die Kornfelder durch den laulichen Abend.

Eine Schnuppe blitzte am Himmel.

Knisternd zerstob sie.


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