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14.

Als er des Morgens erwachte, schien die Sonne, das Land dampfte in Regenerquickung, Lerchen stiegen links und rechts in die Höhe, ein Ackerknecht am Wege sang ein Lied – und ihm war so wüst zu Muthe.

Der Wagen rollte auf der Straße nach Wien – er erinnerte sich nicht, gesagt zu haben, wohin er wolle, es war ihm gleich viel, nur hinweg von Prag! Zu eigentlichem Denken kam er auch nicht, höchstens zu Gedanken, und ach, wie quälerisch waren die! Von Zukunft wußte er nichts, und wollte nichts wissen, an Geld dachte er gar nicht, obwohl es just das Geld war, welches ihn unglücklich gemacht hatte.

Selten stieg die Idee in ihm auf, ob er auch Angélique Unrecht thue, aber tausend Stimmen riefen dann immer zu gleicher Zeit Nein, und so ergab sich denn in so gestörter Lage, wo Kombination, Urtheil und Sicherheit so weit abzuliegen schien, die Erkenntniß klar und deutlich, welche ihm früher wildfremd geblieben war, daß Angélique nur den glücklichen Gustav lieben könne. Ihr Wesen, meinte er, sei so verwebt mit all den bürgerlichen Ansprüchen des Glanzes und der Wohlhäbigkeit, daß ihr jedes Opfer unmöglich geworden, daß sie einer rücksichtslosen Neigung gar nicht mehr fähig sei. Und diese moderne Neigung, rief er entrüstet aus, ist in alle Ewigkeit keine Liebe, ist nichts als eben eine Neigung.

So wenig Reflexion und Anwendung sonst seine Sache war, und nur durch Unglück geweckt wurde, so hatte er doch vielleicht einen Theil des Richtigen damit getroffen. Mag es ein richtiger Weg der neuen Welt sein, das unklare Idealisiren zu verlassen, sich an wirkliche Verhältnisse anzuschließen, das unerklärt Höhere im Menschen, diese Brücke zur Gottheit, kann sie leicht darüber ganz verlieren, ihr Weg streift dicht am Abgrunde der Trivialität hin. Möge es ihr gelingen, die so viel auf kleine Nüancen gibt, darin den richtigen Punkt zu treffen. Das setzt den Anspruch an eine außerordentliche Bildung voraus, denn sie hat zu Gunsten und für die Wahrheit des Individuums viele allgemeine Haltpunkte aufgelöst, und nun muß denn auch das Individuum alle Hülfe in sich selber finden. Sonst, ja sonst fand das Mädchen die Verhaltungsregeln in jedem mittelmäßigen Roman, man war schematisirt, Edelmuth und Laster lagen sonnenklar wie nahe Ufer einander gegenüber; anders ist's mit modernen Mädchen wie Angélique, die sich keck ihren eigenthümlichen Anforderungen hingeben, und Gustav konnte wohl Recht haben, daß gerade seine Braut das Beste dabei verloren hatte. Ach, und wie schön, wie begehrenswürdig stand das reizende Geschöpf noch immer vor seinen Sinnen, noch schien es ihm eigentlich ein Frevel, sie zu schelten – schnell, schnell weiter, Postillon, ich habe Eile. Und so gab er große Trinkgelder, um nur schnell nach Wien zu kommen, obwohl er nicht im Geringsten wußte, was dort zu thun sei.

Aus jener Zeit des Ueberflusses, wo er frei über das große Vermögen verfügte, befanden sich zufällig in seiner Chatulle noch einige tausend Gulden; augenblicklichen, gemeinen Mangel bemerkte er also nicht; daß sie zu Ende gehen würden, bedachte er noch weniger, mit solchem Detail hatte sein Kummer nichts zu schaffen.

In Wien erlebte er einen Zustand, der viel Ähnlichkeit mit dem eines Nachtwandlers haben mag; er trieb sich in der Außenwelt herum, ohne sie zu sehen; er verkehrte mit ihr, in so weit die angeeigneten, halb Schritt und Tritt gewordenen Formeln der Geselligkeit: das mit sich bringen wie man denn wirklich ein ganz höflicher Mensch sein kann, ohne etwas zu denken und zu empfinden, er ging in's Theater, in's Lustspiel, ohne zu lachen, er aß und trank, und passirte für einen wohlerzognen, etwas blassen und wortkargen, aber recht interessanten jungen Mann. Jener nachtwandlerische Zustand prägte sich aber am Wunderbarsten darin heraus, daß er mehr las, als je in seinem Leben, daß er die Bücher zu Ende brachte, ohne sich dafür zu interessiren, und – daß von all diesen unklaren Eindrücken und dem schweigenden Schmerze seines Wesens sich dennoch eine ganz neue Welt in ihm ausbildete, von welcher er keine Ahnung hatte, so tief er auch schon darin befangen war.

Werden wir nicht oft genug daran erinnert, es gleiche unser innerer Mensch der fruchtbaren Erde, die alle Stoffe im geheimnißvollen Schooße verarbeite, keimen und wachsen mache, die dann plötzlich mit einer Fruchtbarkeit überrasche, deren Samen und Zeitigung uns entgangen ist? Glauben wir nicht oft genug der Spur zu begegnen, neben dem Zuthun unsrer Kräfte walte und schaffe eine zeugende Atmosphäre der Schöpfung, die uns von Zeit zu Zeit mit unerklärlich Gereiftem überrasche?

So trieb es sich um in Gustav's Innerem, und er selbst ward dessen nicht inne. Das rein Aeußerliche und Zufällige seiner bisherigen Welt war krachend zusammengestürzt, nicht der kleinste Stab war zur Haltung übrig geblieben, nicht einmal die Einsicht kam ihm zu Hülfe, es müsse nun von innen heraus eine neue Welt gebildet werden, um eine Existenz möglich zu machen.

Das Göttliche der Welt, jenes unerforschte Gewebe nahm sich seiner an, ungewohnte Regungen, Kenntnisse, Fragen speicherten sich auf in den verborgensten Schlupfwinkeln seiner Seele, und wenn sie auch sein Unglück nicht änderten, ja, wie schon erwähnt, nicht einmal die Möglichkeit für ihn andeuteten, daß es geändert werden könne, so waren sie doch von unendlicher Wichtigkeit. Sie schufen zunächst wie den Uebergang in eine andere Luftschicht, jenen feuchtschweren Dunstkreis poetischen Lebens, der oft lediglich unser Dasein, den nothwendigen Reiz unsers Daseins erhält; denn wo dieser Reiz, die Spannkraft der Seele ganz ausgeht, da tritt Schwachsinn oder Tod ein. Dieser Dunstkreis lagerte, sich ihm um Augen und Schläfe, Schattengestalten aller Art gaukelten um ihn herum, und wenn er auch nichts erkennen, wünschen, gestalten mochte, so kam dies Treiben doch seinem gesunden Jugendkörper so weit zu Hilfe, daß er fortathmen und vegetiren konnte.

Zunächst war es das Theater und der Roman, die sich ein wenig fester geformt in seinen Wünschen herausstellten; die Verhältnisse, der Antheil sind in ihnen meist so potenzirt, so stark und plump in Anspruch genommen, daß sie selbst ein wüstes Herz in einzelnen Punkten berühren. So kam er dahin, daß ihm das entsetzlich Tragische allmählig eine kleine Genugthuung verschaffte.

Aber der Aufenthalt in Wien wurde bald dadurch unangenehm, daß ihm nicht selten Bekannte aus Prag aufstießen, die sein Schicksal wußten, und ihm wie Feinde erschienen, sie mochten es berühren oder nicht. Da ward ihm erzählt, wie Angélique munter aussähe und lebte, wie ein andrer Freier sich hervorgewagt und dem Anscheine nach nicht üble Hoffnung habe – er packte wieder seine Sachen ein und reiste von dannen, wüsten Sinnes, ohne Frage nach Ort und Zeit von Station zu Station.

Das ist Berlin, hörte er eines Tags – also Berlin, sagte er sich, hier willst Du ein wenig rasten. Aber Berlin ist für solche Stimmung ganz und gar nicht geeignet: äußere Zerstreuung, jene Zerstreuung, wobei es keiner eignen Thätigkeit, keines Zuthuns bedarf, bietet es zu wenig, und seine Menschen sind nirgends weich und in der Art gefällig, wie sie ein Unglücklicher wünschen mag. Sie sind besonnen, verständig, nüchtern, um und um Produkte und Producenten eines Staates, der aus einer fortwährenden geistigen Thätigkeit und Aufmerksamkeit geschaffen ist und erhalten wird, sie haben und fühlen alle mehr oder minder ihren Bezug zum Staate; wildfremd mußte ein Mensch wie Gustav bleiben. Freilich war es diesem nicht wünschenswerth, von den Leuten bedauert, befragt zu werden, aber im Grunde war es ihm doch zu statten gekommen, sich in Wien, von der gleichen Art zu sprechen, das Nächste zu wünschen, zu vergleichen, von der gleichen Nationalität getragen zu fühlen. Das hatte er bisher nicht gewußt, jetzt aber empfand er es doch: wenn uns ein Weh in Anspruch nimmt, da geht es leicht über unsere Kräfte auch noch neue äußere Verpflichtungen auf uns zu nehmen, und diese nimmt man auf sich, wenn man in andre Sitte, Denk- und Ausdrucksweise eintritt. Oft dünkt uns in solchem Falle der bloße Umgangswechsel unerträglich: die bisherigen Bekannten kennen auch unser Detail, sie setzen voraus, und erleichtern dadurch, sie fragen nicht mehr, warum wir spät aufstehen und den Kaffee mit Sahne trinken, warum wir dies oder jenes Wort kürzer aussprechen als andere Leute; um wie viel schlimmer ist dies bei einem Ortswechsel, der so groß ist wie der Unterschied zwischen den österreichischen und preußischen Hauptstädten.

Ein alter Wiener Kaufmann, der in ein und demselben Gasthofe mit Gustav wohnte, an ein und derselben Tafel mit ihm aß, brachte ihn auf die Entdeckung, daß die Existenz in Berlin noch viel schwerer werden müsse: dieser Alte hatte nichts verloren, er betrieb ein vortrefflich Geschäft in Berlin, er befand sich sehr wohl, und doch fehlte ihm Alles, das Essen war ganz anders, die Pfeifen nach Tische waren nicht bei der Hand, alle Lebensweise war ungewohnt, unbequem. – Du mußt fort von hier, dachte Gustav, hier wirst Du zermalmt.

Sein andrer Tischnachbar war ein sanguinischer Franzose, der ebenfalls lebhaft auf ihn einwirkte, wie wir denn überhaupt just dann, wo wir's am wenigsten glauben, wo wir uns lediglich mit unsern Schmerzen beschäftigt, für alles Andere gestorben wähnen, die stärksten Eindrücke erfahren. Unsere feinsten, innerlichsten Theile sind ihrer Hüllen entkleidet, dem Einflusse offen; deßhalb bemerkt man so oft, daß im exaltirtesten Schmerze über einen Herzensverlust ein neuer Ersatz viel eher und öfter gefunden wird, als wenn unsere Organe wieder in stumpfe Ruhe eingewiegt sind.

Der Franzose war ganz Franzose und Politik: den Parisern war just einer der Coups geglückt, woraus in Ermangelung ruhiger, organischer Entwickelungen, seit langer Zeit schon ihre Geschichte ergänzt wird. Das ganze Faktum mit allem, was Glück, Zufall, Situation, drum und dran gehangen, ward in sprudelndem Enthusiasmus dem Verdienste zugeschrieben, und er mit seinen Landsleuten nahm sich in dieser Beleuchtung äußerst anregend und beneidenswerth aus.

Gustav, ohne den Begriff Objektivität zu kennen, fühlte eine Art Bedürfniß desselben, er suchte, oder sein gesunder Instinkt suchte außen liegende Interessen, er fragte nach Politik. –

Vielleicht hat jeder gesunde Mensch den unwiderstehlichen Trieb in sich, in bedrohter Lage sein Leben zu retten, das Leben nämlich vor allem Nebligen, jede baare Verzweiflung mag eine Krankheit sein, das Aufgeben der Existenz ein Mangel an wirklicher Lebenskraft. Gustav, obgleich wüst und ohne Gedanken und ohne die mindeste Aussicht, jemals noch in einen leidlichen Zustand zu kommen, griff doch selbst in seiner Bewußtlosigkeit nach dem, was einem Anhalte ähnlich sah, wie der Schiffbrüchige einsam auf unabsehbarem Meere nach einem Felsenriffe arbeitet, obwohl er weiß, daß er dort umkommen, verhungern muß, er rettet sich doch vom nächsten Tode.

Ein Leben in der Politik hatte so gar keine Berührung mit Gustav's zu Grunde gegangenen Interessen, daß er gerade deßhalb eine Hilfe, eine Unterstützung darin zu finden hoffte; in der Noth greifen wir wohl instinktmäßig nach dem Nächsten, aber wir hoffen nur vom Aeußersten.

Er setzte sich auf die Post und fuhr nach Paris, ohne die Sprache ordentlich zu kennen, ohne von Frankreich etwas Ordentliches zu wissen. Das gab die schmerzlichsten Folgen; der alte Wiener hatte ihn gewarnt, aber Erfahrungen können eben nicht gelehrt, sondern müssen gemacht werden. Unter dem fremden Volke, den ungewohnten Gebräuchen und Verkehrsarten kam er sich vor wie in der Wüste; hatte ihn Berlin wegen seiner Verschiedenartigkeit gequält, so glaubte er in Paris sterben, verderben zu müssen, sah sich wie ausgestoßen, von der ganzen Welt verlassen an; hatte er vorher geglaubt, es sei ihm ein Bedürfniß, nicht gesehn, nicht beachtet zu werden, so erschien er sich hier, wo Niemand die geringste Notiz von ihm nahm, wie gebrandmarkt, er bildete sich manchmal ein, die Menschen hätten alle eine Verschwörung gegen ihn gebildet, jeder Einzelne kenne ihn wohl, und bestrebe sich, ihm völlige Nichtachtung zu bezeigen.

In solcher Zeit bricht aller Stolz, alle moralische Kraft, einem niedrigen Tagelöhner möchten wir uns rücksichtslos ergeben, damit wir einen Menschen hätten, das Uebersehen der kleinsten Theilnahme, welche uns geboten worden ist, tritt mit Reue ausgerüstet vor unser Gedächtniß. Das war doch Einer, sagen wir uns, welcher die allgemeine Verschwörung gegen Dich einen Augenblick außer Acht ließ, warum hast Du den Augenblick nicht benutzt, er kehrt nimmer wieder. Und Angélique! Angélique! rief Gustav aus, sie ist ja doch auch einmal den Menschen treulos geworden, ach, wenn sie Dir jetzt nur noch ein Theilchen jener Theilnahme schenken, Dich zu dem schlechtesten Diener annehmen wollte, der die niedrigsten Geschäfte zu verrichten hat! Du wolltest verkümmern, wenn sie einen Andern umarmte, aber dies Verkümmern wäre ein Glück gegen diesen grausam öden Zustand!

Brauchen wir selbst bei einer ganz beachtenswerthen Bildung, die im Hintergrunde unsers Wesens ruht, eine gewisse Kraft für schwierige Lagen, um uns auf diesen Halt stützen zu können, wie rettungslos wanken und schwanken wir ohne diese Bildung! Jedem Zufall fühlen wir uns preisgegeben, denn wir haben nichts, was uns nicht geraubt werden könnte, auf Diskretion sind wir den Wogen der Welt überliefert – selbst an Wlaska konnte Gustav denken, und sich vorwerfen, daß er sie von seiner Theilnahme abgewiesen habe.

So saß er denn auf seinem glatt meublirten Stübchen, Sonne und Regen liefen draußen warm über die Straße, bunte, wirre Menschenmenge strich unten geräuschvoll auf und ab, schnell gesprochene Worte der ihm halbfremden Sprache waren zuweilen von unten herauf und draußen im Korridor zu hören und erinnerten ihn nur daran, daß er wildfremd und ohne allen Bezug da sei. Der einzige Trost dieser Zeit war ein deutsches Buch, was er im Winkel seines Koffers fand, »die Erzählungen deutscher Ausgewanderten« von Goethe. Wunderte er sich auch, wie man so einfache Dinge beschreiben, besprechen könne, war ihm auch Ursache und Mittelpunkt des Buches fremd oder doch unentdeckbar, einer wohlthuenden Wirkung ward er doch inne, und gab sich ihr zuweilen dergestalt hin, daß er sich von Thränen in den Augen überrascht fand, wie in den Armen der Heimath, wie in den süßesten Reizen derselben glaubte er sich zu fühlen bei dieser Lektüre, unter sanften, wohlgebildeten Menschen, die eine Theilnahme, ein Mitleid, einen ermuthigenden Trost auf der Lippe haben für alles große und kleine Weh, auch für selbst verschuldetes. Denn er fing jetzt an zu glauben, daß er schuld sei an seinem Unglück, weil er einzusehen begann, daß er niemals etwas gethan, gelernt, geübt habe, was ihm Halt und Nachdruck von innen heraus gewähren könne, und weil er doch sah, wie alles in den einfachen Darstellungen seines deutschen Buches auf eine Hinterwand des menschlichen Inneren gelehnt sei.

Lernen mußt Du, lernen! rief er, wie die Leute denn immer glauben, es ließe sich Alles wieder gut machen durch eine einzelne gewaltsame Anstrengung, die eine einzelne bleiben kann, auch wenn sie Jahre lang dauert.

Aber die Politik, welche ihn hergelockt hatte, und welche wie das zunächst Nothwendige aussah, was gelernt werden müsse, empfing ihn sehr übel. Da sollten Journale gelesen werden, deren tausend kleine historische Bezügnisse er nicht kannte – es ist, als wenn ein Fremder in große Familienkreise tritt, da hört er eitel Stichworte, auf welche man einfällt, lacht, bewegt wird, ihm aber sind sie fremd, er bleibt unberührt, geht wie ein halb Tauber umher, Niemand gibt sich die Mühe, ihn einzurichten, und wenn er nicht warten kann, bis er selbst ein Quantum Geschichte miterlebt hat, so muß er von dannen gehn. Wie hätte aber Gustav in seinem unruhigen, prickelnden Zustande warten können!

Seufzend ging er im Zimmer umher; selbst dafür fehlte ihm die Kraft, sich ganz und tüchtig in seinen Schmerz zu versenken, selbst für diesen Trost in Größe und Tiefe des Schmerzes war er zu oberflächlich – nach außen hin flüchten solche Leute in die Theater; das Theater ist gefällig für Alles, und schon darum eine so große Befriedigung. Es bringt alle Nüancen der Lebensreize: dem Nachdenklichen Stoff, sich zu versenken, dem Leichteren Anhalt und Bewegung, sich fortzuschaukeln, dem Zerstreuten Abwechselung, Anfänge – Gustav ging in die italienische Oper. Da, in dieser musikalischen Welt kann man ohne Anstrengung, ohne Gedankenoperation mitschwimmen, seine Innerlichkeit angeregt fühlen, ohne die Sachen beleidigend bei Namen rufen, deutliche Bekenntnisse ablegen zu müssen.

Das glänzende Haus, diese Quelle europäischer Moden empfing ihn ganz artig: Putz, Glanz, Wohlthätigkeit üben stets ihren Zauber, bringen den Duft einer geschenkten Welt, die auf Glück angewiesen sein kann. Nur ein aufgelöster, innerlich vernichteter Mensch kann in der italienischen Oper zu Paris diesem Eindrucke ganz entgehn, nicht aber ein blos gestörter, wie Gustav war. Jung, körperlich kräftig, nur von Zufälligkeiten verlassen und betrogen, konnte er sich im Grunde noch nicht schlimmer befinden, eine eigentliche Geschichte, welche die Notwendigkeit seines Lebens in sich eingeschlossen hatte, war in ihm nicht getödtet, denn er hatte noch keine gehabt, er war wie die meisten Menschen noch nichts gewesen, als eine Pflanze, die von der Natur geschaffen und gezeitigt worden. Regen und Sonnenschein lassen sie einmal gegen Gewohnheit im Stiche, sie neigt ihr Haupt, aber die Bildlingskeime ihrer Wurzel, die noch auf keine Weise in Anspruch genommen sind, ruhen noch unverletzt in ihr, ein warmer Regen, ein kräftiger Sonnentag können alles wieder gut und besser machen. Solch sogenanntes Unglück ist nur eine Decke, die abgehoben werden kann, die meisten Menschen lassen sich durch die herkömmliche Meinung, die stehenden Formeln der Gedanken – und schlußweise unglücklich reden; im Grunde haben sie nur die Gelegenheit zu suchen, wie ihnen ein Freimachen gelinge; diese Gelegenheit ist Alles, ist ein Glück, was selten so genannt wird – hemmt die unergründlich kräftige Natur nicht, weckt vielmehr die ewig existirende Befähigung, glücklich zu werden, und ihr könnt das Glück alle Tage finden. Das wahre Unglück besteht darin, daß die Menschen sich jämmerlich glauben.

Alle Gedanken liegen in allen Menschen, auch die gebildetsten in den ungebildeten Leuten; sie können von diesen nicht entwickelt, nicht gedacht werden, aber als Hauch werden sie empfunden mehr oder weniger: Gustav wußte von dem eben angeführten Ideengange nichts Rechtes, aber er empfand ein tröstliches Behagen, wie es solcher Ideengang hätte erzeugen können, als er sich während der lockenden Ouverture auf seinen Sitz niederließ, mitten unter geputzten schönen Leuten, denen es auf der Stirn geschrieben stand, daß sie jeder Freude, jeder feinen oder kleinen Lockung gewärtig seien.

Gegen Ende der Oper ward er auf eine Loge gegenüber aufmerksam, der Hut verbarg ein junges Damengesicht, Lebhaftigkeit des Gesprächs und der Bewegung gab nur wechselnd ein wenig des Profils seinen Blicken; aber es war hinreichend, ihn in die lebhafteste Aufregung zu versetzen. Die Oper war zu Ende, die Dame erhob sich, er sah ihr volles Antlitz, und mit dem Ausrufe: »Angélique!« sprang er auf und eilte nach der Thür. Aber schon waren die Korridors mit Hinausgehenden angefüllt, er konnte nur langsam vorwärts, auch wußte er die Logennummer nicht; als er an den wahrscheinlichen Ort kam, war Alles leer. Das weite Paris fiel ihm ein, eine quälende Angst überkam ihn, er drängte sich mit leidenschaftlicher Hast Treppe auf, Treppe nieder; umsonst, er eilte an den Ausgang; aber es gab mehr als einen; noch einmal drückte er sich durch die Menschen zurück, auf der Treppe kam er nicht weiter, und mußte umkehren – da, da am Ausgange war sie, und blickt sie nicht ebenfalls zurück, und winkt sie nicht? Monsieur – mais Monsieur! hieß es von allen Seiten gegen den rücksichtslos durcheilenden Gustav. –

Angélique! rief er im Portale, als eben der Wagen rasselnd fortrollte in's weite unendliche Paris hinein – hastig stürzte er wohl nach einem Fiaker, aber der Wagen war nicht mehr zu erkennen, nicht mehr einzuholen, zwecklos, trostlos fuhr der erregte Gustav bis nach Mitternacht in den Straßen umher.

In den nächsten Tagen durchirrte er nun ganz Paris, jedes Caffeehaus, alle Theater, öffentliche Orte, Spaziergänge wurden aufgesucht – Angélique war nirgends zu finden. Das Resultat war folgendes: Gustav war in einen lebhafteren Verkehr mit der Pariser Welt genöthigt, seine Aufmerksamkeit war herausgefordert worden, mancherlei reizende Eindrücke, denen nachzuhängen Zeit und Stimmung nicht gestattete, hatten sich angesiedelt und wucherten in der Stille; dies zeitigte den verborgen ruhenden Gedanken, dem Unglück zum Trotz Reize des Lebens aufzusuchen, Freuden gewaltsam zu erzeugen, welche der herkömmliche Verlauf nicht gewähren wollte. Ferner: eine glühende Scham überstieg ihn, nochmals leidenschaftlich um ein Mädchen bemüht gewesen zu sein, das ihn mit dem Glücke verlassen habe. – Menschen, die niemals über Heiligkeit und sittliche Notwendigkeit starker Neigungen nachgedacht haben, bieten oft den unerfreulichen Anblick dar, daß sie einen ordinairen Stolz mit in Anrechnung bringen beim Bemühen um ihre Liebe. Dieser triviale Feind bester Regungen, die an sich in gar keinen Konflikt mit konventionellen Rücksichten der Art gerathen sollen, verwüstet oft die besten Keime. Gustav ließ sich plötzlich dergestalt davon überwältigen, daß er jetzt nicht mehr umgeblickt hätte, wenn er Angélique auf der Straße begegnet wäre. Und ihr zum Trotz, sagte er, willst Du jetzt Dein Leben genießen. Nur die edelsten und zugleich gebildetsten Naturen widerstehen der Lockung dieses Gegensatzes, beim Verlust der theuersten Reize sich durch die wohlfeilsten zu entschädigen, ein Gegensatz, welcher durch Drang, sich zu äußern, dem Unwillen und Trotze thätlich Raum zu geben auf das Ergiebigste unterstützt wird.

Gustav suchte jene flüchtigen Bekanntschaften großer Städte, welche so herausfordernd und Zerstreuung versprechend sind – dazu bedurfte es aber größeren Eingehens in Sprache und Interesse der Pariser, es mußte geredet, und irgend ein Interesse, wenn auch ein triviales, angeregt oder doch geheuchelt werden, denn die Pariser Grisette basirt ihr Element wie die Salondame auf Conversation. Der Reiz der Französinnen ist viel weniger ein blos äußerlicher, sie sind im Durchschnitt nicht besonders schön, und bedürfen zur Eroberung aller Beihilfe, welche Tournüre, Gewandtheit, kurz welche Aeußerungen gewähren, die nicht in das blos Körperliche zu rechnen sind. Dieser Anstrengung wurde Gustav bald müde, besonders da ihn nur Gereiztheit zu diesen Bekanntschaften getrieben hatte, und da er im Grunde nur einen sanfteren und gefälligeren Eindruck auf sein verletztes Herz brauchte, so blieb er bei seiner Zimmernachbarin, der sentimentalen Laurette rasten, die ihm mit einer gewissen Innigkeit zu begegnen wußte. Es wird übrigens bald zu bemerken sein, daß hier bei dem Worte sentimental nicht an den Begriff zu denken ist, welchen sich die Deutschen davon machen.


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