Artur Landsberger
Bankhaus Reichenbach
Artur Landsberger

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26.

Bereits am Nachmittag desselben Tages hielt ein Dienstauto der Berliner Staatsanwaltschaft vor Schloß Reichenbach. Der Erste Staatsanwalt am Landgericht I bemühte sich persönlich. Er gab seine Karte ab und bat um eine Unterredung mit Frau Hedda.

Die empfing ihn sofort, bot ihm Zigaretten an und leitete selbst das Gespräch ein.

»Also bitte, Herr Staatsanwalt! – Ich hatte Ihren Besuch erwartet.«

»Heute?« fragte der erstaunt – und Frau Hedda erwiderte:

»Es wäre vielleicht von Nutzen gewesen, wenn Sie mich schon vor sechs Wochen aufgesucht hätten.«

»Wenn Sie mir etwas zu sagen hatten, gnädige Frau, was Ihrer Ansicht nach geeignet war, den Fall zu klären, warum sind Sie dann nicht zu mir gekommen?«

»Nehmen Sie es mir nicht übel, aber mit dem Staatsanwalt geht es mir wie mit dem Zahnarzt: man verschiebt den Besuch – so sehr man von der Notwendigkeit überzeugt sein mag – so lange hinaus wie irgend möglich.«

»Das sollte man aber nicht tun. Man verschlimmert es damit.«

»Sagen Sie das nicht! Die Schmerzen werden nach dem Besuch gewöhnlich schlimmer statt besser.«

»Doch nur, wenn man zu lange damit gewartet hat.«

»Das, Herr Staatsanwalt, kommt auf den Zahnarzt an. Es soll auch solche geben, die falsche Zähne ziehen – Zähne, die völlig gesund sind und die sie fälschlich für krank und verdorben gehalten haben.«

»Irren ist menschlich. Aber den Irrtum zu verhüten, sollte jeder, der dazu imstande ist, als Pflicht empfinden.«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, so haben Sie sich von der Unschuld Reichenbachs überzeugt.«

»Nein! Aber ich bin bereit, mich von Ihnen überzeugen zu lassen.«

»Und wieso gerade von mir?«

»Reichenbach hat Ihnen heute nacht einen Besuch abgestattet.«

»Wem machen Sie daraus einen Vorwurf?«

»Zunächst einmal den Beamten, die über ihn zu wachen hatten.«

»Und nächst diesen?«

»Gnädige Frau – Sie zu kritisieren habe ich nicht das Recht.«

»Ich gebe es Ihnen.«

»Dann nehme ich mir die Freiheit, Ihr Verhalten als ungewöhnlich zu bezeichnen.«

»Sie meinen, ich hätte die Pflicht gehabt, Herrn Reichenbach von meinen Dienern festnehmen und nach Brandenburg bringen zu lassen.«

»Sie hätten vermutlich Ihren Schmuck nicht eingebüßt.«

»Sie wissen? – Haben Sie eine Erklärung?«

»Reichenbach hat den Ausbruch mit Hilfe eines Zellengenossen bewerkstelligt.«

»Und der ist auch – ausgebrochen?«

»Natürlich! Dem kam es vermutlich nur darauf an, Reichenbach zu verfolgen, um das Versteck der Devisen auszukundschaften.«

»Statt dessen hat er mir meinen Schmuck gestohlen.«

Der Staatsanwalt nahm ein versiegeltes kleines Paket aus der Tasche und reichte es Frau Hedda:

»Sie gestatten, daß ich Ihnen den Schmuck wieder zustelle. – Bitte, sehen Sie nach, ob es alles ist. Womöglich hat dieser Schurke einen Teil in Sicherheit gebracht oder einem seiner Komplicen zugesteckt.«

Frau Hedda öffnete das Paket und sagte:

»Es fehlt nichts. Wie soll ich Ihnen danken?«

»Indem Sie Vertrauen zu mir fassen.«

»Ich – zu Ihnen! – Nach welcher Richtung?«

»Liegt Ihnen daran, daß dieser Bankdiebstahl restlos aufgeklärt wird?«

»Das ist doch selbstverständlich.«

»Sie glauben demnach nicht an Reichenbachs Schuld?«

»Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß er unschuldig ist.«

»Und wer ist Ihrer Ansicht nach der Schuldige?«

»Wieso legt man plötzlich auf mein Urteil Wert?«

»Man wußte bis heute nacht nicht, daß Sie und Reichenbach . . .«

»Sie meinen Herrn Reichenbach. – Und wenn Sie etwa sagen wollen, daß zwischen Herrn Reichenbach und mir unerlaubte Beziehungen bestehen, so darf ich Sie berichtigen und Ihnen sagen, daß das nicht der Fall ist.«

»Darf ich fragen, womit Sie sich dann diesen nächtlichen Besuch erklären?«

»Daß ein Mensch – zumal ein empfindsamer wie Herr Reichenbach, zugreift, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet, für ein paar Stunden aus diesem Zuchthausmilieu herauszukommen, erscheint mir weiter nicht wunderbar. Und da er in der Nähe von Brandenburg war, wo er seine Jugend verbracht hat und auch später oft zu Gast gewesen ist, so ist es nur natürlich, daß er sich hierher wandte.«

»Wen konnte er in dem Schloß anders suchen als Sie?«

»Darüber nachzudenken habe ich keine Veranlassung.«

»Sie geben aber zu, daß, wenn nicht Liebe ihn in dies Schloß trieb, daß es dann nur die Aussicht gewesen sein kann, hier etwas über den Bankdiebstahl zu erfahren.«

»Ist das ein Verhör? – Falls nicht, möchte ich Ihnen sagen, daß ich diese Art der Konversation ablehnen muß.«

»Sie sind sehr gewandt, gnädige Frau.«

»Auch für Komplimente bin ich nicht empfänglich. – Und was mein Interesse an diesem Bankdiebstahl betrifft, dessentwegen Sie sicherlich die Beschwerde dieses weiten Weges auf sich genommen haben, so will ich Ihnen gern verraten, daß es sich in dem Wunsch erschöpft, Herrn Reichenbach so bald wie möglich rehabilitiert zu sehen.«

»Darf ich fragen, weshalb Sie das wünschen?«

»Nein! das dürfen Sie nicht – zumal Sie mich vermutlich gar nicht verständen, wenn ich versuchte, es Ihnen zu erklären.«

»Sie sind sich hoffentlich darüber klar, daß eine Rehabilitation Reichenbachs nur möglich ist, wenn eine restlose Aufklärung des Falls erfolgt, zu der Sie meinem Gefühl nach sehr bedeutend beitragen könnten.«

»Soweit ich mich erinnere, haben Sie in Ihrem Plädoyer erklärt, daß der Fall bis in alle Details restlos aufgeklärt sei. Sie haben das auch nachgewiesen – woraufhin dann die Verurteilung des Angeklagten erfolgte.«

»Ich habe von dem, was ich gesagt habe, nichts zurückzunehmen.«

»Ja, was wollen Sie dann eigentlich? Sind Sie nur gekommen, um mich auf Grund dieses nächtlichen Besuches mit in die Affäre zu ziehen? Hat sie noch nicht Opfer genug gekostet?«

»Ich beschäftige mich mit dem Fall nicht aus Zeitvertreib oder Neugier – auch nicht aus Sport, sondern von Berufs wegen. Und Sie erinnern sich, daß dieser ganze Prozeß dadurch zu einer Art Sensation wurde, daß der Angeklagte Reichenbach . . .«

»Ich bat Sie schon einmal, Herr Reichenbach zu sagen.«

»Ich will weder Ihnen noch ihm damit wehtun – es ist so üblich. Also ich wollte sagen, daß der Prozeß seinen besonderen Charakter lediglich dadurch erhielt, daß der Angeklagte – Herr Reichenbach – sich weigerte, zu sagen, wo er in jener Nacht gewesen ist.«

»Ich erinnere mich.«

»Hätte er – und nach der Erfahrung dieser Nacht ist die Vermutung vielleicht gestattet – erklärt, er habe die Nacht auf Schloß Reichenbach verbracht . . .«

»Nicht in der Form, wie Sie denken!«

»Lassen wir die Form zunächst mal unerörtert.«

»Ich habe, was meine Person betrifft, nichts zu verbergen oder zu verschweigen.«

»Um so unverständlicher ist mir dann die Beharrlichkeit, mit der der Angeklagte auf diese Frage die Antwort verweigert hat.«

»Finden Sie das so sonderbar? Herr Reichenbach steht auf dem Standpunkt, daß man lieber eine Strafe auf sich nimmt als eine Dame zu kompromittieren.«

»Wenn doch nichts Kompromittierendes vorgefallen ist?«

»Das hätten Sie uns zu allerletzt geglaubt. Und Sie hätten eine solche Indiskretion womöglich noch zu ungunsten des Herrn Reichenbach gedeutet.«

»Wenn Sie das annahmen, warum haben Sie sich nicht von selbst gemeldet?«

»Weil . . .« sie stockte.

»Bitte, sagen Sie's,« drängte der Staatsanwalt.

»Ich habe Rücksichten auf meinen kranken Mann zu nehmen.«

»Sollte es nicht Karl Morener gewesen sein, der Sie davon zurückgehalten hat?«

»Wie kommen Sie darauf?« – Und da der Staatsanwalt sie forschend ansah und schwieg, so fuhr sie fort: »Das ist ja unheimlich.«

»O nein! Das alles geht mit geraden Dingen zu. Ich bin weder ein Prophet noch ein Gedankenleser. Vielleicht etwas hellhöriger infolge meines Berufs als Sie. Und da ich fürchte, daß man Ihre Güte mißbraucht, so möchte ich Sie aufklären.«

»Sie – mich? – Ich habe den Eindruck, als wenn Sie durch mich etwas zu erfahren suchen.«

»Durchaus nicht. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß der Fall für mich völlig geklärt ist.«

»Das ist ja Ihr Irrtum!«

»Sie vergessen eins, gnädige Frau. Damit, daß Karl Morener ein Geständnis ablegt, ist Herr Reichenbach noch nicht rehabilitiert.«

Frau Hedda fühlte, daß sie blaß wurde. Ihre Knie zitterten. Sie sah den Staatsanwalt an, der nicht etwa triumphierte, vielmehr mit derselben Sicherheit und Ruhe ihr gegenübersaß.

»Wie kommen . . . Sie . . . darauf . . . daß . . . Karl Morener . . .?« fragte sie zitternd – und der Staatsanwalt fuhr fort:

»Solche Geständnisse sind natürlich mit Vorsicht aufzunehmen. In diesem Falle freilich habe ich mich von der Richtigkeit schnell überzeugen können.«

»Ja – wie . . . ist . . . das . . . möglich?«

»Ich habe, bevor ich zu Ihnen kam, bei mehreren bekannten Geldverleihern festgestellt, daß sich Karl Morener zur Deckung einer verunglückten Spekulation in albanischen Werten Geld etwa in Höhe der gestohlenen Summe gegen hohen Zinsfuß zu leihen suchte.«

»Wie kamen Sie darauf?«

»Das war nach dem Geständnis, das er Ihnen abgelegt hat, doch selbstverständlich.«

»Herr Reichenbach hat Ihnen das verraten?« fragte Frau Hedda erregt.

»Nein! Aber sein Zellengenosse – derselbe, der Ihnen den Schmuck gestohlen und Ihre Unterhaltung mit – Herrn Reichenbach belauscht hat.«

»Und Sie haben festgestellt, daß Karl Morener mit dem Geld seine Schuld beglichen hat?«

»Dazu war er zu vorsichtig. Denn damit hätte er sich verraten. Er ist sie schuldig geblieben.«

»Und wo ist das Geld?«

»Das wird er auf irgendeinem geheimen Wege nach Rio beordert haben. Die Flucht war natürlich seit langem vorbereitet.

»Dann ist Heinz Reichenbach also rehabilitiert?«

»Leider nicht! – Aber Sie könnten vielleicht dazu beitragen. Ich kann mir nämlich noch immer nicht erklären, wie irgend jemand, also auch Karl Morener, ohne die Hilfe des Herrn Reichenbach – oder sagen wir mal, zum mindesten ohne dessen Schlüssel unbemerkt an den Geldschrank gelangen konnte. Reichenbach ist ein gutmütiger, ja, ich glaube sogar ein psychopathischer Mensch. Morener, der sicherlich der Aktivere von beiden ist, wird ihm gebeichtet und seine Hilfe erbeten, vielleicht sogar erzwungen haben.«

»Erzwungen haben – wie meinen Sie das?«

»Vielleicht, daß – Herr Reichenbach etwas zu verschweigen hatte – was diesem Morener bekannt war.«

»Erpreßt also?«

»So kann man es nennen.«

»Und was sollte das sein?«

»Ich weiß es nicht. Aber Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, gnädige Frau, wenn ich den Ausbruch aus dem Zuchthaus und den nächtlichen Besuch in einem Sinne deute . . .«

». . . der, wie ich Ihnen schon einmal sagte, falsch ist.«

»Vielleicht, daß Morener diese Beziehungen fälschlich vermutet hat.«

»Sie sind auf völlig falschem Wege, Herr Staatsanwalt!«

»Vielleicht, daß Sie dann die Freundlichkeit haben, mich zu berichtigen – wenn nicht im Interesse der Wahrheit, dann mit Rücksicht auf – Herrn Reichenbach.«

»Sie sagten, wenn ich Sie richtig verstanden habe, bereits, daß mit Karl Moreners Schuld noch nicht die Unschuld Heinz Reichenbachs bewiesen wäre.«

»Wenn er damit als Täter vielleicht auch ausscheidet, so bleibt er doch immer noch der Beihilfe verdächtig – es sei denn, es bestände doch eine Möglichkeit, daß jemand das Verbrechen ohne seine Hilfe in dieser Art ausführen konnte.«

»Also wie ich voraussagte! Statt einer Rehabilitierung ein Opfer mehr!«

»Das läßt sich im Augenblick noch nicht sagen. – Aber würden Sie mir bitte folgende Fragen beantworten: Ist Herr Reichenbach öfter des Nachts in Ihrem Schloß gewesen?«

»Seit einem Jahr war es das erstemal.«

»Und wie kam das? – Haben Sie ihn gebeten? oder ist er von selbst gekommen?«

»Ich bat ihn – das heißt, jetzt erinnere ich mich: Karl Morener ersuchte mich, drängte mich, ihn zu mir zu bitten – Sonderbar, daß mir das jetzt erst einfällt!«

»Gerade für diesen Abend?«

»Ja.«

»Und welchen Grund gab er an?«

»Ich sollte ihn bestimmen, seine Reise nach Rio aus Rücksicht auf das Geschäft aufzugeben.«

»Sie haben das auch versucht?«

»Ja.«

»Mit Erfolg?«

»Ja.«

»Können Sie das beweisen?«

»Er wollte es sich überlegen – und rief eine Stunde, nachdem er fort war – es mochte gegen fünf Uhr früh sein – bei mir an und sagte: »Ihr Wunsch ist erfüllt – weiter wollte ich nichts sagen.«

»Sie würden das beeiden?«

»Selbstverständlich.«

»Und weshalb haben Sie bisher von alledem nichts gesagt.«

»Sie wollten es nicht.«

»Wer – Reichenbach und Morener?«

»Ja.«

Der Staatsanwalt schien wieder nachdenklich.

»Ich habe eine Bitte,« sagte er. »Ich möchte, daß Sie der ersten Vernehmung Karl Moreners beiwohnen.«

»Ja – wo meinen Sie, daß die stattfindet? – Haben Sie die Absicht, nach Rio zu fahren? – Ich glaube, die weite Reise würde sich nicht lohnen. Denn er wird für Sie da drüben vermutlich nicht zu sprechen sein.«

»Karl Morener und seine Braut sind bereits in unserer Hand.«

»Wa . . .? – Sie haben . . .? – Ja, die sind doch . . .«

»Sie hatten das Pech, daß unser Radiotelegramm gerade in dem Augenblick eintraf, als sie in der Nähe Saarbrückens – noch auf deutschem Boden – zu einer Notlandung gezwungen waren.«

»Das sagen Sie mir erst jetzt? – Und da verlangen Sie, daß ich zu Ihnen Vertrauen habe?«

»Sie sind bereits auf dem Wege nach Berlin.«

»Dann haben Sie womöglich die Absicht, auch dies Fräulein Reichenbach mit hineinzuziehen?«

»Das wird sich nicht vermeiden lassen.«

»Ich schwöre Ihnen, sie weiß nichts.«

»Diese Flucht macht sie zum mindesten verdächtig. Sie leugnen natürlich beide, irgend etwas mit dem Bankdiebstahl zu tun zu haben.«

»Wie können Sie das wissen?«

Der Staatsanwalt zog ein Diensttelegramm aus der Tasche und reichte es Frau Hedda. Die las.

»Die soeben festgenommenen Karl Morener und Hanni Reichenbach sind vor ihrem Abtransport nach Berlin von mir vernommen worden. Morener beteuert seine Unschuld und erklärt, daß er, und zwar im kritischen Augenblick der Hauptverhandlung, der Frau Morener gegenüber die Schuld nur auf sich nahm, um zu verhindern, daß diese sich durch eine freiwillige Zeugenschaft kompromittierte. Er beteuert auf das bestimmteste seine Unschuld, betont aber zugleich, daß seiner festen Überzeugung nach auch Heinz Reichenbach, für den er alles getan habe, was in seiner Macht stand, zu unrecht verurteilt worden sei. Beide Verhaftete machen auf mich einen günstigen Eindruck. Braun. Amtsrichter.«

Frau Hedda legte das Telegramm aus der Hand und sagte:

»Finden Sie nicht, daß es glaubhaft klingt?«

Der Staatsanwalt erwiderte:

»Sie urteilen nach dem Gefühl – ich verlasse mich auf meinen Verstand.«

»Das habe ich früher auch getan – und Irrtum auf Irrtum gehäuft.«

»Ich bitte Sie, ein Fall, der so klar liegt. Schon vor der Hauptverhandlung waren wir durch eine anonyme Zuschrift auf diesen Karl Morener aufmerksam gemacht worden.«

»Was stand darin?«

»Daß Karl Morener, der Neffe des Chefs, als Täter in Frage käme, da er in letzter Zeit in albanischen Werten unglücklich spekuliert und etwa eine halbe Million Mark verloren habe.«

»Und Sie haben das unberücksichtigt gelassen?«

»Es kamen täglich Dutzende solcher anonymen Zuschriften, die oft nur den Zweck hatten, von der richtigen Spur abzulenken und einen klaren Tatbestand zu verwirren. Man tut daher gut, sie nicht zu überschätzen – selbst wenn sie, wie in diesem Falle, ausnahmsweise mal nicht aus der Luft gegriffen sind. – Der Fall liegt wirklich einfach. Dieser Karl Morener liebte eine Frau. Um die Mittel zur Flucht zu beschaffen, läßt er sich auf gewagte Spekulationen ein. Termingeschäfte natürlich. Auf der einen Seite sieht er sich den Gläubigern gegenüber, die drängen, auf der anderen Seite droht der Verlust der Frau. Alle Versuche, sich Geld zu beschaffen, scheitern. Da kommt ihm der Gedanke mit der Bank! Nur einer, der genau mit allem Bescheid weiß, konnte diesen Trick erdenken und durchführen und den Verdacht so raffiniert von sich ab und auf einen andern ablenken. Sein erster Gedanke war vermutlich, mit dem gestohlenen Gelde sein Geschäft abzudecken. Vorsicht hielt ihn ab, als er den Prozeß sich entwickeln sah. Kaum ist das Urteil gesprochen, da rüstet er – vorher wäre es natürlich einem Geständnis gleichgekommen – zur Flucht. – Auch ohne sein Geständnis wäre er überführt. Sein Widerruf im Augenblick, wo die Flucht mißglückt, ist kindlich. Der Eifer, mit dem er – Herrn Reichenbach zu entlasten sucht, ist auffallend und verdächtig. Viel besser, das heißt für Reichenbach günstiger, wäre es, wenn er ihn zu belasten suchte.«

»Das verstehe ich nicht. Er kann ihn doch nicht belasten, wenn er weiß, daß er nichts mit der Sache zu tun hat.«

»Man deckt seinen Komplizen. – Das tun alle Verbrecher!«

»Das sind doch keine Verbrecher!«

»Haben Sie für einen so raffiniert ausgeführten Diebstahl eine andere Bezeichnung?«

Frau Hedda war zumute, als wenn sie jemand mit einem Brett vor den Kopf schlug. Sie versuchte, sich in die Gedankengänge des Staatsanwalts einzufühlen.

»Wenn Karl Morener also versuchen würde, sich zu entlasten und die Hauptschuld auf Reichenbach zu wälzen, so würde das bei Ihnen Reichenbach in ein günstigeres Licht setzen?«

»Damit, daß er Reichenbach belastet, würde er sich doch entlasten.«

Frau Hedda erhob sich:

»Herr Staatsanwalt, ich fühle mich außerstande, Ihnen weiter zu folgen. Bitte, sagen Sie mir, ob Sie mich in den nächsten Tagen benötigen.«

»Haben Sie vor, eine Reise zu machen?«

»Ja.«

»Darf ich fragen, wohin?«

»In die Schweiz – zu meinem Mann.«

»Sie werden mich über Ihre Adresse auf dem Laufenden halten?«

»Ich verspreche es Ihnen.«

Der Staatsanwalt schlug die Hacken zusammen, verbeugte sich und ging. –

Frau Hedda nahm aus dem Schreibtisch den letzten Krankenbericht, den sie am Tage zuvor aus dem Sanatorium Schönegg erhalten hatte, und las ihn noch einmal:

»Der Luft- und Aufenthaltswechsel hat sich als förderlich für Ihren Gatten erwiesen. Vom ersten Tage an zeigte er Interesse für Dinge, die seine eigene Person angehen. Der Sonntag ist bei uns badfrei: ›Wo bleibt mein Bad?‹ fragte er. – Auf die Erklärung, die man ihm daraufhin gab, erwiderte er: ›Ach so! Ja! Ja! dann ist morgen Montag. Das war immer ein harter Arbeitstag für mich. Aber hier wird man faul.‹ – Ich bot ihm Bücher und Zeitungen an. – Heute früh fragte er, wo er sich eigentlich befände und ob er nun nicht bald heimkehren könne. Ich sagte ihm, er sei, um auszuruhen, in einem Sanatorium am Vierwaldstädtersee. Daraufhin begann er von seinen Schweizer Reisen zu erzählen – ob es in der Vorstellung geschah, daß er diese Reisen als Morener oder Reichenbach gemacht hatte, ließ sich nicht feststellen. Abends war er freilich wieder gänzlich apathisch und abgespannt. Ich führe dies auf die Anstrengung zurück, die es ihm ständig verursacht, sein Erinnerungsvermögen zu beleben. Aber er arbeitet an sich – und das ist ein gutes Zeichen.«

»Ich will ihm helfen,« sagte Frau Hedda und rüstete in aller Eile für ihre Reise in die Schweiz.


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