Artur Landsberger
Bankhaus Reichenbach
Artur Landsberger

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3.

Frau Hedda hatte es während der zwei Jahre ihrer Ehe nach Möglichkeit vermieden, mit Karl Morener ohne Dritte zusammenzutreffen. Um so mehr, als Karl Morener jede Gelegenheit, die sich dank Heddas Vorsicht aber selten bot, benutzte, um ihr zu sagen, daß er das Leben ohne sie nicht ertragen könne. Sie hatte ihm dann regelmäßig erwidert: »Mach dich und mich nicht unglücklich.« – Daraus folgerte Karl, daß auch er ihr zum mindesten nicht gleichgültig geworden war – obschon er sich immer wieder sagte, daß ihre Beziehungen auch vor Heddas Ehe über einen freundschaftlichen Charakter niemals hinausgekommen waren. Warum also versuchte sie dann mit allen Mitteln diesen einwandfreien Verkehr nun, wo sie – es klang ihm wie Hohn – seine Tante geworden war, zu unterbinden? Aus keinem anderen Grunde, folgerte er, als aus Furcht, daß sie sich vergessen und ihre Gefühle nicht beherrschen könnte. Ihrer Liebe sicher, vertiefte er sich immer mehr in das Gefühl heimlicher Gemeinsamkeit und sah in jeder Geste und jedem Versuch Heddas, ein Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden, einen Beweis ihrer furchtsamen Zuneigung. Ja, als sie ihm eines Abends auf einer Gesellschaft zwanglos in den Salon folgte, wo es sich besser tanzen ließ als in dem vollen Tanzsaal, glaubte er, daß sie sich freier fühlte und war froh, als sie nach wenigen Augenblicken sagte: »Komm, tanz in den Saal, was sollen die Leute denken?«

Als Karl jetzt von dem Zusammenbruch seines Onkels erfuhr, war sein erster Gedanke: Der Weg ist frei! – Er machte sofort Versuche, sich mit Frau Hedda in Verbindung zu setzen. Den Bescheid, daß sie für niemanden zu sprechen sei, ließ er für sich nicht gelten. Nicht, weil er Moreners Neffe und somit der einzige Blutsverwandte war, vielmehr aus dem Gefühl heraus, daß auch sie – sie mochte von Moreners Krankheit noch so ergriffen sein – jetzt den Wunsch haben mußte, ihn zu sehen. Als die Zofe schließlich seinem Drängen nachgab und Frau Hedda meldete:

»Herr Karl Morener läßt sich nicht abweisen,« erwiderte sie:

»Sagen Sie ihm, daß ich ihn um zehn Uhr heute abend erwarte.«

Als Karl um zehn Uhr voller Erwartung den Salon betrat, war er mehr als erstaunt, Frau Hedda nicht allein zu finden. Außer der alten Gräfin Wahl-Reuth, ihrer alten, aber altmodischen Tante, saßen Heinz Reichenbach, der Gutsverwalter und zwei Abteilungsdirektoren der Firma um einen runden Tisch herum, auf dem eine Reihe von Büchern und Papieren lagen.

»Behalten Sie Platz, meine Herren!« sagte Frau Hedda, als Karl auf sie zuging, sich verbeugte und ihr die Hand küßte. Und zu Karl gewandt fuhr sie fort: »Du findest uns mitten in der Arbeit.«

Sie bot ihm den leeren Stuhl neben sich an und fuhr fort, als Karl sich gesetzt hatte:

»Mein Mann hat mir durch diese notarielle Urkunde« – sie entfaltete ein Schriftstück und legte es auf die Mitte des Tisches, so daß alle es sehen konnten – »Generalvollmacht für den Fall erteilt, daß er durch Krankheit vorübergehend an der Ausübung der Geschäfte verhindert sein sollte. Sie werden sich über diese ungewöhnliche Fürsorge eines Fünfzigers von der Schaffenskraft meines Mannes wundern. Sie ist schon wenige Monate nach Eingehung unserer Ehe erfolgt – und zwar auf meine Veranlassung, da ich« – sie betonte die folgenden Worte – »diesen seelischen Zusammenbruch schon damals voraussah.«

Auf die verdutzten, fragenden Blicke hin, mit denen man sie daraufhin ansah, führ sie mit der gleichen Ruhe und Bestimmtheit fort:

»Mehr darüber zu sagen, ist mir nicht möglich. Es gehört im übrigen auch nicht zu dem, was wir hier zu erledigen haben. Es handelt sich in erster Linie um die Weitergabe dieser Vollmacht, da ich natürlich die Geschäfte meines Mannes allenfalls überwachen, aber nicht führen kann. Aus diesem Grunde habe ich« – sie wandte sich an die beiden Abteilungsdirektoren – »Sie, Herr Meßter, und Sie, Herr Urbach, zu dieser Unterredung gebeten. Sie sind seit über zwanzig Jahren in der Firma und werden daher am besten die Interessen von Reichenbach & Co. wahrnehmen. Hier ist die von mir für Sie ausgestellte Vollmacht. Ich hoffe, Sie werden es nicht ablehnen, die Verantwortung auf sich zu nehmen.«

Die Verblüffung über diese Entscheidung war womöglich noch größer als zuvor bei der geheimnisvollen Andeutung, daß sie den seelischen Zusammenbruch ihres Gatten schon lange vorausgesehen habe.

Am stärksten getroffen fühlte sich Karl, der völlig verständnislos Frau Hedda ansah und kein Wort fand, um seiner Verblüffung Ausdruck zu geben. Der fünfundfünfzigjährige Abteilungsdirektor Meßter erhob sich, nachdem er sich durch Blicke mit seinem Kollegen Urbach verständigt hatte, und sagte:

»Herr Urbach und ich sind gerührt von soviel Vertrauen. Aber wir meinen, daß es doch wohl den Herren Prokuristen zukäme,« er machte bei diesen Worten eine kurze Bewegung zu Karl Morener und Heinz Reichenbach hin, »die Firma während der hoffentlich nur kurzen Abwesenheit Ihres Gatten zu vertreten.«

Der um wenige Jahre jüngere Urbach gab durch Nicken des Kopfes zu verstehen, daß dies durchaus auch seine Meinung sei. Aber Heinz Reichenbach sagte:

»Ich bin überzeugt, daß Frau Morener für diese Entscheidung ihre Gründe hat und bitte die Herren daher, die Vollmachten anzunehmen.«

Karl Morener hatte die Absicht, zu schweigen. Aber da jetzt aller Augen auf ihn gerichtet waren, so sagte er:

»Ich möchte nicht, daß mein Freund Reichenbach durch mich eine Kränkung erfährt, die er nicht verdient.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Frau Hedda.

»Du hältst mich nicht für vertrauenswürdig und schaltest, um mich zu schonen, auch Reichenbach aus.«

»Ich glaube, du irrst dich,« widersprach Reichenbach. »Vielleicht ist es umgekehrt.«

»Ich bitte dich, nach meinem Onkel bist du auf Grund deiner Tüchtigkeit doch der Berufene. Ich schlage vor, daß du zusammen mit einem der beiden Herren die Leitung übernimmst.«

»Du verkennst die Situation, Karl,« erwiderte Frau Hedda. »Wir sind hier nicht zusammengekommen, um deine Vorschläge, sondern um meine Entscheidungen entgegenzunehmen.«

»Dann sehe ich mich veranlaßt, meine Prokura niederzulegen.«

»Das wäre nicht im Sinne meines Mannes.«

»Dann gib mir eine Erklärung.«

»Nach Erledigung des Geschäftlichen,« erwiderte Frau Hedda.

Karl folgte kaum noch der Verhandlung, deren Ende er herbeisehnte. Als sich Frau Hedda schließlich erhob, atmete er auf.

»Ich danke Ihnen, meine Herren!« sagte sie, »und ich hoffe, Sie haben an der Anwesenheit der Gräfin keinen Anstoß genommen. Aber unter soviel Herren als einzige Frau war mir doch unbehaglich.« – Sie gab jedem die Hand, nur Karl nicht, zu dem sie sagte: »Und nun zu uns! Du hast wohl nichts dagegen, wenn meine Tante auch dieser Unterredung beiwohnt?«

Eine Antwort erwartete sie nicht, bat vielmehr die Gräfin und Karl in den kleinen Salon. Hier standen in einer Nische drei tiefe Sessel um ein rundes Tischchen herum, auf dem eine Schüssel mit Sandwichs, drei Gläser und eine Flasche alter Portwein standen.

Wie hat sie das vorher wissen können? schoß es Karl durch den Kopf. Aber sie ließ ihm nicht Zeit, den Gedanken fortzuspinnen, sondern sagte völlig unvermittelt und mit einer Stimme, die durchaus nicht spöttisch klang:

»Und nun kommt die große Aussprache.«

»Unter diesen Umständen möchte ich mich,« erwiderte Karl zögernd und sah dabei die Gräfin an, »so schwer es mir fällt, auf das rein Geschäftliche beschränken.«

»Da hast du's, Hedda!« rief die Gräfin Wahl-Reuth. »Ich habe dir gleich gesagt, der Herr Morener wird sich geniert fühlen.«

»Vielleicht habe ich das bezweckt.«

»Wir können das doch unmöglich unser Leben lang fortführen,« sagte Karl.

»Was meinst du?« fragte Hedda.

»Uns aus Furcht vor uns selbst aus dem Wege zu gehen.«

»Du redest dir ein . . .?«

»Ich wünsche es mir! – Und wenn ich mich irre – sage es mir nicht! Wenigstens nicht jetzt – wo ich in der bestimmten Erwartung zu dir kam, daß diese Quälerei jetzt endlich ein Ende haben soll.«

»Und warum gerade jetzt – dachtest du?«

»Weil . . .« Er zögerte und sagte dann: »Das weißt du doch so gut wie ich – mache es mir doch nicht so schwer!«

»Du meinst, weil Heinrich Morener krank und nicht bei klarem Bewußtsein ist?«

»Ja, das meine ich.«

»Weil es also – vorausgesetzt, wir liebten uns – zur Zeit gefahrlos wäre?«

»Das wäre es ganz gewiß.«

»Also dein Leben würdest du für diese Liebe nicht aufs Spiel setzen?«

Karl stutzte einen Augenblick – dann sagte er:

»Jede Stunde! – wieso zweifelst du?«

»Weil du zwei Jahre nicht den Mut gefunden hast – im selben Augenblick aber, wo du nichts zu fürchten brauchst, eine Entscheidung suchst.«

»Du hattest mir den Weg versperrt.«

»Sollte ich dir vielleicht ein heimliches Stelldichein geben?«

Karl, der seit Jahren mit sich im Kampf um diese Frau lag, bald hoffte, bald verzweifelte, sah sich plötzlich vor die Entscheidung gestellt. Mühsam beherrscht, sagte er:

»Dann hast du also erwartet, daß ich dich mit Gewalt hole?«

»Der Versuch hätte jedenfalls mehr Eindruck auf mich gemacht als sanftes und stilles Sichbescheiden.«

»Dann bin ich also ein Opfer der guten Manieren geworden,« sagte Karl und war verzweifelt. »Früher, da hätte ich nicht danach gefragt – da wäre ich bis ans Ende der Welt mit dir geflohen.«

»Eine Weltreise ist eine teure Angelegenheit, Karl!«

»Mach mich nicht rasend!«

»Sei unbesorgt! Dich hat man gezähmt!«

»Wenn ich mich zurückhielt, so geschah es mit Rücksicht auf dich.«

»Diese Rücksicht warst du vor allem deinem Onkel schuldig.«

»Wie meinst du das?«

»Von dem Augenblick an, in dem ich die Frau Heinrich Moreners war, gab es für uns natürlich keine Möglichkeit mehr.«

»Du sprichst von der Zeit vor deiner Ehe?« fragte Karl erstaunt.

»Ja, was dachtest du?«

Karl faßte sich an den Kopf und sagte:

»Ich gebe zu – ich habe arg gelitten in diesen zwei Jahren – Tag und Nacht immer nur der eine Gedanke – da weiß man schließlich nicht mehr, was ist wahr und was hat man nur gedacht und geträumt – aber das Eine weiß ich trotz allem genau . . .«

»Ja! ja!« unterbrach ihn Hedda. »Ich weiß, was du sagen willst.«

»Wie kannst du das wissen?«

»Daß ich es war, die dieser Ehe mit deinem Onkel das Wort geredet hat.«

»Warum hast du das getan?« fragte Karl beinahe feierlich.

»Vielleicht, um die Stärke deines Widerstandes zu erproben – der ja gleichzeitig ein Gradmesser für deine Liebe war.«

»Und als ich zu meinem Onkel ging, um die Einwilligung für unsere Ehe zu erbitten – was hast du da gedacht?«

»Daß du ihm viel Gutes von mir erzählen wirst.«

»Das habe ich auch getan.«

»Damit habe ich gerechnet – und mir gesagt: er wird nein sagen und dich zu bestimmen suchen, zu seinen Gunsten auf mich zu verzichten.«

»Und dann?«

»Dann, hoffte ich, würde es einen Kampf auf Leben und Tod um mich geben!«

»Aus dem wer von uns beiden als der Sieger hervorgehen sollte?«

»Der Stärkere!«

Karl sah zur Erde und schwieg.

»So hätte ein Nedlitz um mich gekämpft!« fuhr Hedda fort. »Aber der junge Herr Morener räumte aus Gründen der Zweckmäßigkeit das Feld. Er überließ die angeblich geliebte Frau dem alten Onkel, der, wie sich bald zeigte, nicht nur der Reichere und Stärkere war, sondern in seiner ganzen Art den Nedlitzens so sehr glich, daß es mir nicht schwer fiel, zu ihm aufzuschauen und ihn zu achten.«

»Du liebst ihn wohl gar?« fragte Karl.

»Darüber bin ich dir keine Rechenschaft schuldig Ein ganzer Kerl ist er jedenfalls. Und damit du es weißt: Nichts ist mir an einem Manne mehr zuwider als Halbheit. Lieber ein ganzer Verbrecher als ein halber Ehrenmann!«

Das waren für Karl Peitschenhiebe. Das Schlimmste, daß er fühlte, sie verdient zu haben. Um so mehr, als alles, was sie sagte, dem Sinne nach auch seiner Natur entsprach. Die war durch den schnellen Aufstieg seines Onkels, der an ihm Vaterstelle versah, von Lehrern und Erziehern gewaltsam unterdrückt worden.

»Was ist dir? Woran denkst du?« fragte Hedda.

»Wenn man an die Kette gelegt wird,« erwiderte Karl, »wird man halt zahm. Aber nur in Gedanken – das ist das Schlimme. Der Verstand gehorcht, aber das Gefühl!« – Er stand auf, ballte wütend die Faust und schien im selben Augenblick wie verwandelt.

»Was ist mit dem Gefühl?« fragte Hedda und trat dicht an ihn heran – als wenn sie ihn reizen wollte.

»Ich kann mich nicht länger beherrschen!« rief Karl.

»Ich will auch nicht! – Aber dir geht es genau so! Oder glaubst du, ich fühle es nicht, wie du dich quälst und belügst?«

Er streckte die Arme nach ihr aus. Sie wollte zu ihrem Sessel zurück. Aber sie konnte sich nicht von der Stelle rühren.

»Du gehörst mir!« sagte er und nahm ihre Hand. »Und je mehr du gegen mich angehst, um so stärker fühle ich es.«

Sie entzog ihm die Hand und sagte:

»Geh!«

»Du liebst mich!«

»Nein!«

»Dann will ich es dir beweisen!« – Er riß sie an sich. Sein Atem schlug ihr ins Gesicht. Ihr Widerstand schien gebrochen. Da, im letzten Augenblick, riß sie sich los, wankte ein paar Schritte zurück und rief:

»Ich liebe dich nicht! Geh!«

Dann stürzte sie laut schluchzend aus dem Zimmer.

Karl stand, die Arme ausgebreitet, zitternd am ganzen Körper – und starrte ihr nach.

Die alte Gräfin, die den Vorgang wie eine spannende Szene auf der Bühne mit der Lorgnette verfolgt hatte, trat an Karl heran, klopfte ihn auf die Schulter und sagte:

»Nun, junger Herr, sind Sie noch nicht zufrieden?«

Karl wandte sich zu ihr, wies zur Tür und fragte erstaunt:

»Zufrieden? – wo sie fort ist? – und mir die Tür gewiesen hat?«

Die Gräfin schüttelte den Kopf, ging zum Bücherregal, las die Buchrücken und sagte:

»Das kommt davon, wenn man die Klassiker nicht kennt. Dann versteht man auch nicht, mit Frauen umzugehen.« – Sie nahm ein Buch heraus, schlug es auf, sagte: »Hören Sie!« – und las:

»Sie fürchtet sich vor dem ersten Kuß,
Weil sie dann immer dich küssen muß.
Ist erst einmal die Glut entfacht –
Wie soll sie sie stillen? Keine Macht
Auf Himmel und Erden hält sie zurück,
Sie stürzen hinein in das sündige Glück!«

»Das ist zwar nur von einem halben Klassiker,« sagte die Gräfin – »und schön sind die Verse auch nicht. Aber es paßt auf meine Nichte, als wenn der gute, alte Richard Voß es speziell für euren Fall gedichtet hätte.«

»Dann liebt sie mich also doch?« fragte Karl.

»Lieben?« wiederholte die Gräfin und schüttelte den Kopf. Dann sagte sie: »Nein! aber sie ist eine Frau! eine leidenschaftliche Frau! – Verstehen Sie nun?«

»Warum wehrt sie sich dann?«

»Weil sie zugleich eine stolze Frau – und eine Frau mit Grundsätzen ist!«

»Sie glauben also . . .?«

»Ich halte es für möglich.«

»Was?«

»Daß Sie bei Ihrem zweiten Versuch mehr Glück haben werden. Nur dürfen Sie ihr dann nicht wieder so lange Zeit zum Philosophieren lassen, sondern müssen wie ein echter Nedlitz gleich zum Angriff schreiten.« Sie reichte ihm die Hand, und als er sie zum Munde führte, sagte sie lächelnd:

»Und noch auf eins müssen Sie acht geben: daß die Tante Amalie nicht wieder dabei ist.«

Als Karl ging, wußte er, daß es jetzt nur darauf ankam, zu handeln – schnell zu handeln.


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