Artur Landsberger
Bankhaus Reichenbach
Artur Landsberger

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5.

Wochen vergingen, ohne daß sich Heinrich Moreners Zustand veränderte. Man ließ Frau Hedda nicht zu ihm – weniger des Kranken wegen, auf dessen Befinden es ohne jeden Einfluß gewesen wäre, als auf Rücksicht auf sie, deren Niederkunft bevorstand.

Körperlich hatte sich sein Zustand wohl gebessert. Er schlief wieder vier bis fünf Stunden des Nachts, obschon man nur noch mit harmlosen Mitteln nachhalf. Trotz dieser körperlichen Besserung stellte sich aber plötzlich eine Sinnesverwirrung ein, für die die Ärzte zunächst keine Erklärung hatten. Heinrich Morener redete sich eines Tages ein, nicht mehr er, sondern der verstorbene Leonard Reichenbach zu sein. Ja, das Sonderbarste war, er änderte Haltung und Bewegung, und als man ihm, in der Absicht, ihn von seiner Wahnidee zu überzeugen, Briefe und andere Schriftstücke vorlegte, die von seiner Hand stammten, brauste er auf und rief:

»Betrüger! Das habe ich nicht geschrieben! Das stammt von dem Halsabschneider Heinrich Morener, der mich hier gefangenhält.«

Diese krankhafte Vorstellung vertiefte sich von Woche zu Woche mehr. Er schrieb Briefe als Leonard Reichenbach an seine Frau und beschwor sie, sich nicht von diesem Morener einfangen und gegen ihn aufhetzen zu lassen. Er bat sie, alle notwendigen Schritte zu seiner Befreiung zu tun. Die sämtlichen Ärzte seien von Morener bestochen. – Er schrieb an den Staatsanwalt und forderte Moreners Verhaftung wegen Freiheitsberaubung und Urkundenfälschung. – Er schrieb von glühender Liebe erfüllte Briefe an seine »Tochter« Hanni und warnte sie vor Karl Morener, der es darauf abgesehen habe, sie zu heiraten. Er beschwor sie, den Namen Reichenbach hochzuhalten und lieber in beengten Verhältnissen zu leben als eine solche Mesalliance zu schließen. – Er verfaßte schließlich geschäftliche Berichte, die durchaus klar und vernünftig waren und addressierte sie »an meinen Neffen Heinz Reichenbach«. Sie verfolgten immer das gleiche Ziel, indem sie Mittel und Wege nannten, durch die man Heinrich Morener das Bankhaus Reichenbach wieder entreißen könne. Hätten sich die Ärzte die Mühe gemacht, und diese Berichte Bankleuten zur Begutachtung vorgelegt, ohne die Quelle zu nennen, so hätten sie erfahren, daß die Gedankengänge nicht nur klar und vernünftig, sondern genial und vielleicht auch durchführbar waren. Und hätte ein Zufall diese Berichte in die Hände Heinz Reichenbachs geführt – wer weiß, ob der kranke Heinrich Morener nicht die Erfolge des gesunden zerstört und Reichenbachs tatsächlich das Bankhaus wieder in die Hände gespielt hätte. Jedenfalls handelte es sich hier um ein psychopathisches Phänomen, das der Wissenschaft interessante Einblicke in ein krankhaftes Geistesleben und Schriftstellern reichen Stoff für einen spannenden Roman gegeben hätte. – Die Ärzte hingegen begnügten sich mit der Diagnose: der Patient hatte Jahre hindurch den Wunsch, in allem seinem Vorgänger Leonard Reichenbach ähnlich zu werden. Dieser Gedanke hat so intensiv von ihm Besitz ergriffen, daß er sich immer tiefer in die fremde Persönlichkeit versenkte und bei jeder Frage, vor die er sich gestellt sah, nicht mehr als Morener, sondern als Reichenbach dachte und entschied. Sein starker Wille hatte dann dazu geführt, daß er schließlich primär nicht mehr als er selbst, sondern als Reichenbach dachte – etwa wie man durch ständiges Sprechen einer fremden Sprache die eigene vernachlässigt und schließlich, wenn man gezwungen ist, sie gelegentlich doch zu sprechen, aus der fremden übersetzt. So hat der Patient allmählich aufgehört, als Morener zu denken und nur noch als Reichenbach gedacht – bis sich durch dies Verdrängen der eigenen Person schließlich die krankhafte Vorstellung in ihm festsetzte, der zu sein, der zu sein er sich wünschte. –

Seit seiner Erkrankung sah man Frau Hedda nirgends. Nicht einmal auf Schloß Reichenbach gönnte sie sich irgendwelche Zerstreuung. Sie ging weder zu Leuten, noch sah sie Gäste bei sich. Sie kümmerte sich tagsüber um die Bewirtschaftung des Gutes, und es kam ihr zustatten, daß sie sich von Kindheit an auf den Gütern ihres Vaters auf allen Gebieten der Landwirtschaft betätigt hatte. Die Art, in der sie mit dem Personal verkehrte, verschaffte ihr überall Sympathien und Respekt. Keiner der Angestellten kam auch nur einen Augenblick lang auf den Gedanken, daß Karl Morener, der regelmäßig des Abends zum Essen erschien, aus einem andern Grunde kam, als dem, die Frau »Baronin« – so hieß sie allgemein auf dem Gute – über die Geschäfte in dem Bankhaus auf dem Laufenden zu halten. Was war auch natürlicher, als daß er, der Neffe des Herrn, diese Pflicht auf sich nahm, mit deren Erfüllung er der Frau Baronin zugleich über die Einsamkeit hinweghalf.

Auffälliger war die veränderte Lebensführung Karl Moreners. Zwar sah man ihn hin und wieder noch zu Pferde. Aber nicht, wie Jahre hindurch, genau wie eine Uhr allmorgendlich von acht bis zehn, sondern unregelmäßig zu den verschiedensten Zeiten und stets allein. Dem Tennis-, Golf- und Poloplatz blieb er ganz fern. Und hier war es, wo man sein Ausbleiben besonders spürte und daher besprach. So glaubwürdig seine Erklärung war, daß er durch die Krankheit seines Onkels geschäftlich in Anspruch genommen sei – den Damen und Herren der Gesellschaft, die gewöhnt waren, den Sommer auf dem grünen Rasen zu verbringen und andere für sich arbeiten zu lassen, schien dieser Grund nicht überzeugend – und sie fanden es zum mindesten auffällig, daß er sich selbst an Sonntagen und auf den Turnieren nicht zeigte. So bildete es bald den Gesprächsstoff, daß dahinter eine Frau stecken müsse. Von dieser Vermutung bis zu der Entdeckung, daß diese Frau niemand anders als die Baroneß Nedlitz sei – Hedda behielt auch im sportlichen Leben ihren Mädchennamen bei – war nur ein Schritt. Denn man hatte die beiden Jahre hindurch auf allen Sportplätzen zusammen gesehen. Ja, man fand es in diesen Kreisen, denen die Kunst, korrekt zu erscheinen, als höchste gesellschaftliche Tugend galt, von Karl Morener taktlos, die Baroneß Nedlitz derart zu kompromittieren. Sie fanden, daß er die Pflicht hätte, nun wenn möglich noch regelmäßiger seinen sportlichen Neigungen nachzugehen.

Der einzige, der ihn mit Leidenschaft und Überzeugung verteidigte, war Heinz Reichenbach. Er ging dabei weit über das Maß hinaus, das man von einem, der nicht persönlich von der Nachrede betroffen wurde, erwarten konnte. Es war daher nicht weiter erstaunlich, als eines Tages eine Dame nach einer seiner üblichen Verteidigungsreden meinte:

»Ich verstehe gar nicht, Herr Reichenbach, weshalb Sie sich immer so erregen. Schließlich sagen wir Ihrem Freunde ja nicht nach, daß er silberne Löffel gestohlen hat. Eine Liaison mit einer so schönen Frau wie der Nedlitz ist für einen Mann wie Morener doch nur eine Empfehlung.«

»Aber nicht für die Baroneß!« erwiderte Reichenbach.

»Schätzen Sie Ihren Freund so niedrig ein?«

»Ich schätze die Frau so hoch ein – ja, ich lege meine Hände für diese Frau ins Feuer.«

»Kennen Sie sie denn so genau?«

Diese Frage verursachte allgemeines Lächeln.

»Genau genug,« erwiderte Reichenbach, »um zu wissen, daß sie eine Dame ist.«

»Und wenn zwischen ihr und Karl Morener eine Liebelei bestände – wäre sie in Ihren Augen keine Dame mehr?«

»Dazu müßte sie erst ein anderer Mensch werden.«

»Bei uns« – sie wies auf sich und ein paar Freundinnen, die um sie herum standen – »wäre Ihrer Ansicht nach eine solche Wandlung nicht nötig?«

»Der eine nimmt es eben leichter als der andere.«

»Sagen wir lieber, der eine Mann ist geschickter als der andere.«

Da die Freundinnen zustimmten und lachten, so sagte Reichenbach:

»Halten Sie mich etwa für besonders ungeschickt?«

»Hallo!« riefen die Damen. »Jetzt haben Sie sich gefangen!«

»Ich wüßte nicht.«

»Damit, daß Sie sich bei der Baroneß vergeblich bemüht haben, ist noch lange nicht gesagt, daß auch Karl Morener keinen Erfolg hatte.«

»Ich bitte doch!« wehrte Reichenbach ab.

»Sie schwärmt nun mal für Menschen, die ein paar Klassen unter ihr stehen. Zwischen Ihnen und ihr ist ihr der Kontrast nicht groß genug.«

»Ich verbitte mir – vor allem, was meine Person betrifft – aber auch im Zusammenhang mit Karl Morener – jede Verdächtigung dieser Frau!«

»Was ist das für ein Ton, Herr Reichenbach? – Sie sprechen mit Damen! – Sonderbar, daß man Ihnen das sagen muß.«

Reichenbach ließ sich von einem Balljungen seine Sachen bringen. Er verbeugte sich und ging.

Die Damen standen sprachlos und sahen ihm nach. Nach einer Weile sagte eine junge Frau:

»Wenn sich ein Reichenbach so benimmt, was soll man da von den anderen Männern erwarten.«

»Wie erklärt ihr euch das?« fragte eine andere. Und eine dritte erwiderte:

»Wir haben seine Eitelkeit gekränkt – das ist alles!«

»Für einen Mann allerdings genug, um ihn seine Kinderstube vergessen zu lassen.«

»Er liebt die Baroneß und hat sich einen Korb geholt.«

»Weiß seine Cousine das?«

»Schon möglich, daß sich Hanni deshalb nicht mehr hier sehen läßt.«

»Das hat doch andere Gründe. Mein Papa hat erzählt, daß Frau Reichenbach einen Prozeß noch von ihrem Manne her weitergeführt und dadurch auch den Rest ihres Vermögens verloren hat.«

»Die arme Hanni! sie tut mir leid.«

»Eine Pute ist sie! Dreimal schon konnte sie einen reichen Mann haben.«

»Mit Ehe?«

»Das ist doch gleich.«

»Erlaub mal!«

»Für ein Mädchen wie sie, das nichts hat.«

»Wenn eine Frau es geschickt anstellt, bekommt sie den Mann auch nachher dazu, sie zu heiraten.«

»Aber nicht Hanni!«

»Sie hat den Namen.«

»Dafür zahlt man heute nichts mehr – nicht mal dafür, um einen schlechten Namen loszuwerden.«

»Heinrich Morener hat es sich doch etwas kosten lassen.«

»Für einen Reichenbach hält ihn darum doch niemand.«

»Ich habe gehört, der alte Morener wollte seinen Neffen mit Hanni verheiraten.«

»Das wäre doch eine Glanzpartie für sie gewesen!«

»Sie soll ihn abgelehnt haben.«

»Und das hast du ihr geglaubt?«

»Sie hat es mir nicht erzählt.«

In diesem Augenblick erschien – seit Wochen zum ersten Male – Hanni Reichenbach auf dem Sportplatz.

»Hallo! Endlich!!« riefen alle und taten erfreut. Hanni, die schmal und blaß, in ihrem einfachen Tennisdreß aber unendlich fein aussah, schüttelte ein Dutzend Hände und sagte:

»Es wird wohl das letztemal heut sein.«

»Ja warum?« fragten sie teilnahmsvoll.

»Es ist – ihr wißt ja . . .«

»Hanni! Du hast dich verlobt?«

»Aber nein!«

»Wir wissen es ja!«

»Wer sollte mich armes Mädchen . . .?«

»Einer, der viel Geld hat.«

»So einer tut es schon gar nicht. Und wenn er es täte, dann müßte er mich schon sehr lieb haben – und ich ihn natürlich auch.«

»Du verlangst viel! Geld und Liebe!«

»Also wen meint ihr denn?«

»Karl Morener.«

»Wie kommt ihr darauf?«

»Man erzählt es sich. Er soll sich um dich bemühen.«

»Ihr wollt mich aushorchen.«

»Wir wissen auch, daß du ihm einen Korb gegeben hast.«

»Dann wißt ihr mehr als ich.«

»Wir wissen sogar, weshalb du ihm einen Korb gegeben hast.«

»Da bin ich doch neugierig.«

»Weil du einen andern liebst.«

»Ihr seid gründlich, das muß ich sagen.«

»Gibst du es zu?«

»Nichts gebe ich zu. Und was Karl Morener betrifft, so schwöre ich« – sie hob das Rackett hoch, um ihrem Schwur Nachdruck zu verleihen –, »daß er sich mir nie in irgendeiner Form genähert hat.«

»Also stimmt es mit ihm und der Baronin.«

»Was ist denn das nun wieder?«

»Ein Geheimnis!«

»Mir scheint doch, daß ihr es alle wißt!«

»Bei deinen Beziehungen zur Familie Morener wollen wir uns lieber nicht den Mund verbrennen.«

»Wollen wir nicht lieber Tennis spielen?«

»Dazu haben wir noch immer Zeit.«

Hanni sah sich zu den Spielplätzen hin um und fragte:

»Ist Heinz Reichenbach noch nicht hier?«

Die Damen sahen sich verständnisvoll an – und ein junges Mädchen sagte:

»Er war hier.«

»Er ist schon fort?« fragte Hanni erregt. »Aber er kommt doch wieder?«

»Kaum.«

»Mit wem hat er gespielt?«

»Mit niemandem. Er hatte wohl die Absicht, aber es kam nicht dazu.«

»Ist er geschäftlich abberufen worden?«

»So kann man es nennen. Denn in diesem Falle ist die Liebe wohl ein Geschäft.«

»Wessen Geschäft?« Sie verbesserte schnell und sagte: »Wessen Liebe?«

»Ja, das ist noch nicht genau heraus. Allem Anschein nach aber hat Karl Morener das Rennen gemacht – während sich Heinz Reichenbach unter›ferner liefen‹ befindet.«

»Ich verstehe nichts.«

»Bist du aber naiv, Hanni!«

»Handelt es sich um eine Frau? – Gar um die Baroneß Nedlitz?«

»Siehst du! Du weißt es ja! – Wozu also erst die Verstellung?«

»Was hat das mit meinem Vetter zu tun?«

»Du hättest hören sollen, wie er sie verteidigt hat – sie und seinen Freund Karl. – Ein schöner Zug von ihm, wo er doch selbst bis über die Ohren in die Baroneß verliebt ist.«

»In die Baroneß – verliebt ist?« wiederholte Hanni und verbarg ihre Erregung. »Woher wißt ihr das?«

»Die Baroneß versteht es jedenfalls besser als du.«

»Laßt die Frau in Ruh! Sie ist zu bedauern.«

»Weil ihr Mann seit ein paar Monaten in einem Sanatorium liegt? Ich glaube nicht, daß sie sich selbst bedauert.«

»Sie hat heute nacht einen Knaben zur Welt gebracht – und liegt in hohem Fieber.«

Da schwiegen sie, gingen auf ihre Plätze zurück und setzten das Spiel fort. – Hanni Reichenbach aber verschwand im Klubhaus. Sie überzeugte sich, daß ihr Vetter nicht mehr da war, verließ den Sportplatz und fuhr mit der nächsten Straßenbahn nach Hause.


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