Artur Landsberger
Bankhaus Reichenbach
Artur Landsberger

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25.

Der beliebte Satz, daß man in ein Zuchthaus leichter hinein als wieder hinaus komme, hat doch nur bedingte Bedeutung. Jedenfalls traf er auf unsere drei Ausreißer in diesem Falle nicht zu. Das alte Brandenburger Zuchthaus, das nach Plänen erbaut war, die über hundertfünfzig Jahre zurücklagen, war unübersichtlich und bot »Kennern«, die hier den größten Teil ihres Lebens zubrachten und sich fast ausschließlich mit dem Problem des Ausreißens befaßten, Möglichkeiten, die selbst bei größter Wachsamkeit des Personals gelegentlich eine Flucht ermöglichten. Wenn der Rote aber geglaubt hatte, daß man auf dem gleichen Wege wieder einschlüpfen könne, irrte er sich. Pünktlich zu der vereinbarten Stunde trafen sich die drei in aller Frühe des nächsten Morgens mit einem Teil der Kolonne des »Schmetterling« wieder in dem Wald, kleideten sich hastig um, nahmen Abschied, dankten und setzten sich in der Richtung auf das Zuchthaus hin in Bewegung. Da es bereits anfing, hell zu werden, schlichen sie an den Mauern der Häuser entlang, ohne zu merken, daß sie bereits erkannt und verfolgt wurden. Die Verfolger machten ein etwas erstauntes Gesicht, als sie wahrnahmen, daß die drei sich mit Anwendung aller Kraft bemühten, die Mauer zum Zuchthaus hinaufzuklettern. Und da sie es als grotesk empfanden, sie bei dieser Arbeit zu stören, so blieben sie in einiger Entfernung stehen und sahen zu.

Die drei, die sämtlich von dem Ergebnis ihres nächtlichen Ausflugs befriedigt waren, aber noch keine Gelegenheit gefunden hatten, ihre Erlebnisse auszutauschen, waren bereits auf dem inneren Zuchthaushof angelangt und quälten sich eben im Schweiße ihres Angesichts, die Zuchthausmauer zu übersteigen, um auf den zweiten Hof zu gelangen, als eine Wache sie anhielt und fragte, wohin sie eigentlich wollten.

»In unsere Zelle,« erwiderte der Rote.

»Dann seid ihr die drei aus der Zelle einundfünfzig, die heut Nacht ausgerissen sind.«

»Nachturlaub,« erwiderte der Rote. Aber die Wache gab ein Signal, auf das hin eine Patrouille erschien, sie festnahm und in das Quergebäude führte. Wenige Augenblicke später standen sie vor dem Direktor.

»Morjen!« sagte der, als er sie sah. Er war bereits von allem unterrichtet. Auch die Kolonne hatte man, gleich nachdem sie sich von den dreien getrennt hatte, festgenommen. »Ihr seid mir ja ein paar nette Schmetterlinge! Mondscheinpartie zu Rade in die schöne Umgebung. Fehlt nur noch die Vereinskapelle.« – Und dann erfolgte die Vernehmung, die sich hauptsächlich darum drehte, festzustellen, auf welchem Wege die drei entwichen waren. Dann untersuchte man ihre Taschen. Die von Heinz Reichenbach waren leer. In denen des Blonden fand man Zigaretten und Lebensmittel. Aus dem Rock des Roten, der krampfhaft die Taschen zuhielt, zog man eine Perlenkette, ein Platinarmband mit Perlen und ein paar kostbare Smaragdringe.

»Und das haben Sie mitgemacht?« fragte der Direktor erstaunt Heinz Reichenbach.

Der erkannte sofort den Schmuck Frau Heddas und sagte verwirrt:

»Ich verstehe gar nicht . . . das ist doch . . .« Aber im selben Augenblick fand er auch schon die Zusammenhänge – und so beherrscht er sonst war – in diesem Augenblick vergaß er sich, erhob die Faust gegen den Roten und rief:

»Lump! – Deshalb also.«

Der Rote schien verlegen und sagte:

»Ich hatte ja die Absicht, zu teilen.«

»Wo waren Sie?« fuhr der Direktor sie an. »Reichenbach, Sie brechen aus dem Zuchthaus aus, um anderswo einzubrechen?«

»Es verhält sich anders – ich versichere Sie . . .«

»Wie verhält es sich?«

»Ich kann es unmöglich sagen.«

»Immer dasselbe! Sie stellen die tollsten Dinge an und hinterher verschanzen Sie sich dahinter, daß Sie schweigen müssen. Einmal wirkt das vielleicht. Das zweitemal nicht mehr. Ich sehe schon, Sie kommen ans dem Zuchthaus nicht mehr heraus.«

Der Blonde beteuerte, daß er bei seiner Mutter gewesen sei, was der Direktor nachzuprüfen versprach, während der Rote erklärte:

»Ick bin wo in ein offnes Fenster jestijen – wo, det saj ick nich. Aber der« – er wies auf Reichenbach – »hat nischt damit zu tun.«

»Aber die Annonce stammt von ihm – wie? Und auf die hin hat dann die ganze Exkursion stattgefunden.«

»Wenn det so einfach wäre,« erwiderte der Rote. »Et sollte nämlich janz anders kommen. Aber et kam nu so.«

»Wie sollte es denn kommen?«

»Ick weeß noch ville mehr.«

»Wo sind Sie heut nacht eingebrochen?«

»Janich – ick saj Ihnen ja, det Fenster stand offen. Ick hab och 'n Zeugen dafor.«

»Also wo waren Sie? Wem haben Sie den Schmuck gestohlen?«

»Bei 'ne Dame!«

»Wie heißt sie?«

»Uff Wort, det weeß ick nich.«

»Die Adresse?«

Der Rote sah Heinz Reichenbach an und fragte ihn:

»Stört et dir, wenn ick et saje?«

»Schweig!« befahl Heinz.

»Sie sind ja ein ganz gefährlicher Mensch!« fuhr der Direktor Heinz Reichenbach an.

»Herr Direktor!« setzte sich Heinz zur Wehr – aber der sagte verächtlich:

»Spielen Sie sich nicht auf. Bei dem Bankdiebstahl konnte man irgendwie noch Sympathien für Sie haben – weil man noch nicht wußte, wes Geistes Kind Sie sind. Aber jetzt sind Sie durchschaut – und zwar gründlich.«

Reichenbach hielt es bei diesem Tatbestand für zwecklos, seine Unschuld zu beteuern – zumal er unmöglich die Wahrheit sagen konnte, ohne Frau Hedda in eine völlig unmögliche Lage zu bringen. Er war sich über die Zusammenhänge natürlich klar. Der Rote hatte den Ausbruch nur angeregt, weil er hoffte, Heinz werde die Gelegenheit benutzen, den gestohlenen und verborgenen Devisen einen Besuch abzustatten. Seine Absicht war es sicherlich, ihm den Schatz abzujagen. Mehr als das beschäftigte ihn die Vorstellung, was Frau Hedda denken würde, wenn sie den Diebstahl entdeckte. Auf den Gedanken, daß er – nein! das dachte er nicht zu Ende. Aber selbst wenn sie annahm, daß irgendein Dieb zufällig die kurze Zeit ihres Zusammenseins mit Reichenbach dazu benutzt hatte, um in ihr Schlafzimmer zu dringen und sie zu bestehlen – sonderbar blieb das Zusammentreffen auf alle Fälle – dann würde auf ihre Anzeige hin bei dem Bemühen, den Täter zu ermitteln, der Verdacht auf ihn fallen, der auf irgendeine Weise aus dem nahen Zuchthaus entwichen war und womöglich auch Spuren hinterlassen hatte. Das würde sie sich sagen – und schweigen. –

Zwar war das Wichtigste erreicht. Man kannte den Täter. Aber Heinz war von der Eröffnung, daß Karl Morener es war, nicht befreit, sondern tief erschüttert. Das ist ja fast so schlimm, wie wenn ich es wäre, sagte er sich. So stark war auch in ihm das Gefühl der Zusammengehörigkeit von Menschen, die wie Reichenbachs und Moreners nach außen hin zum mindesten geschäftlich ein und dieselbe Familie waren. Und aus diesem Gefühl heraus kamen ihm die ersten Zweifel. Ob Karl Morener auch wirklich der Täter war. Zwar fand er keine Gründe, die Karl veranlassen konnten, die Schuld auf sich zu nehmen. Er liebte Hanni Reichenbach. Die aber hing mit beinahe dünkelhafter Pietät an ihrer Familie.

Möglich, daß die ihn bestimmt hatte, sich schuldig zu bekennen, um den Namen Reichenbach wieder zu Ehren zu bringen? Aber dem widersprach, daß sie sich an ihn hing – und indem sie ohne Ehe mit ihm auf und davon ging, verstieß sie gegen die elementarsten Gesetze des Anstandes – und man brauchte bei Gott keine Reichenbach zu sein, um durch einen solchen Verstoß die ganze Familie zu kompromittieren. Was geschah aber, wenn er glücklich nach Rio gelangte, und im Gefühl des Geborgenseins sein Geständnis widerrief? – Wem gegenüber hatte er es denn abgelegt? Frau Hedda war im selben Augenblick, in dem ihr Name fiel und die Zusammenhänge bekannt wurden, unglaubwürdig. – Je mehr Heinz Reichenbach darüber nachdachte, wie die Dinge lagen und sich aller Voraussicht nach weiterentwickeln würden, um so unwahrscheinlicher schien es ihm, daß seine Lage in absehbarer Zeit sich ändern würde.

Der Direktor des Brandenburger Zuchthauses trennte zunächst die drei Zellengenossen und benachrichtigte den zuständigen Staatsanwalt. Aber ehe der noch die erste Amtshandlung vornahm, verlangte der Rote den Zuchthausdirektor zu sprechen – angeblich, um ein Geständnis abzulegen. Er wurde vorgeführt und erklärte:

»Mein Jewissen drängt mir, zu sajen, daß der Milljonär den Diebstahl in die Bank nich bejangen hat, sondern eener mit Namen Karl.«

»Wer sagt Ihnen das?«

»Ick saj et ja.«

»Und wer hat es Ihnen gesagt?«

»Keener.«

»Woher wollen Sie es denn wissen?«

»Ick weeß et eben . . .«

»Seit wann?«

»Det is doch ejal.«

»Haben Sie das etwa heut nacht ausgekundschaftet?«

»Möglich.«

»Wo waren Sie denn?«

»Weeß ick nich.«

»Sie sind doch diesem Reichenbach gefolgt, weil Sie annahmen, er werde Sie zu der Stelle führen, wo er die Devisen versteckt hat.«

»Stimmt.«

»In welcher Richtung war das?«

»Janz entjegengesetzt.«

»Was soll das heißen?«

»Berlin wird es wohl nich sind.«

»Aha! – Also Richtung Magdeburg.«

»Ich kenn mir in die Jejend nich aus.«

»Weit kann es ja nicht gewesen sein.«

»Ob det nu weit wa oder nich – jedenfalls heißt er Karl.«

»Leute, die Karl heißen, gibt es zu Tausenden. Wie heißt er denn weiter?«

»Det is et ja eben.«

»Haben Sie's denn gewußt?«

»Jewiß doch.« Er dachte nach. – »So was wie so'ne Dame vom Film. – Sie kennen ihr och – so'ne jroße Schwarze.«

»So ungefähr wissen Sie's auch nicht?«

»Es lijt mir auf die Zunge.«

»Mit dem Märchen werden Sie Ihrem Freund nicht helfen.«

»Halt! jetzt een Moment! – Jetzt hab ick's – – Me – re – no – na – rena – Morena –«

»Morena etwa?«

»Erna Morena! Natürlich! So'ne feine, schlanke! Det heeßt, hier is et 'n Kerl. Karl heißt er – Karl Morena.«

»Karl Morener! Natürlich! sieh an – Na, den Namen hat Ihnen wohl Heinz Reichenbach gesteckt.«

»Uff Ehre – ach so! die haben se mir ja abjemacht uff drei Jahre – also bei was denn? – So wahr ick hier stehe: – so, wie ick Ihnen hier höre – und kann mir uff mein Jedächtnis verlassen – so stand se neben ihm ins weiße Hemde janz unjeniert und hat jesagt: ›Den Diebstahl in die Bank, deswejen du ins Zuchthaus sitzt, hat Karl Morena bejangen.‹«

»Wo standen Sie denn?«

»Uff'n Balkon hab ick mir versteckt.«

»Was hat er darauf erwidert?«

»Er wollt es erst nich jlauben. Aber meint se, Karl hat et ihr doch jestanden – und noch eener – seiner Cousine – Na, wie hieß die 'n jleich, ick gloobe Hanni.«

»Stimmt.«

»Sie kennen ihr?«

»Und Sie würden, was Sie sagen, aufrechterhalten, wenn ich Ihnen die Damen gegenüberstelle?«

»Det jeht nich.«

»Wieso denn nicht?«

»Weil die mit 'n Karl wej is.«

»Wohin?«

»Nach Rio.«

»Heut nacht war sie doch noch da.«

»Nich doch – die andere.«

»Wie, die Hanni ist mit Karl Morener auf dem Wege nach Rio?«

»Die sind helle – von die Devisen werden se woll nischt wiedersehn.«

»Sie wollen dem Reichenbach doch helfen?«

»Nu ja! For wat ick sitze, da sitz ick. Aber det eener for'n andern sitzt, wenn et nich ausjemacht is, det kann mir ärjern.«

Der Direktor sagte sich, daß die Dame, der Reichenbach diesen nächtlichen Besuch abgestattet hatte, niemand anders sein konnte als Frau Hedda Morener. Der Rote sprach also die Wahrheit und klärte damit einen Justizirrtum auf, an dem weniger die Justiz, als das völlig unverständliche Verhalten Heinz Reichenbachs die Schuld trug. Übertriebene Rücksichtnahme und die Furcht, eine Dame zu kompromittieren, deren Rolle in dieser Affäre noch völlig ungeklärt war, war für ihn ausschlaggebend gewesen. Das hatte zur Folge gehabt, daß seine Verteidigung beinahe wie eine Selbstanklage gewirkt hatte.

»Sie glauben, dieser Morener ist mit der Dame bereits auf der Flucht?« fragte der Direktor.

»Se meinen den Karl? Den krijen Se nich.«

»Wann er gefahren ist, unter welchem Namen und mit welchem Schiff hat die Dame nicht gesagt?«

»Ick habe nu jenug jesagt.«

»Er ist am Ende schon in Rio?«

»Det stände doch in die Zeitung. Von so'n Flug machen se doch heute mehr her, als seine Zeit von Christi Himmelfahrt.«

»Ah so, er fliegt also.«

»Hab ick nich jesagt.«

»Es genügt mir. Wenn sich Ihre Angaben als richtig erweisen, so wird man das voraussichtlich bei Zumessung des Strafmaßes berücksichtigen.«

»Kann man denn die Dame den Schmuck nich einfach wieder zustellen?«

»Selbstverständlich kann man das.«

»Ohne Umwej über Berlin.«

»Wie meinen Sie das?« – Er verstand natürlich sehr gut.

»Weil's doch so nah is und die Herren vons Jericht schon soviel zu tun haben.«

»Damit würde ich mich strafbar machen.«

»Wer erfährt 'n det?«

»Darauf kommt es nicht an.«

»Uff wat denn? wenn die Dame dicht hält.«

»Also!« – wehrte der Direktor ab. »Das wird sich finden.«

»Et laj doch alles so da, als ob sie sajen wollte: bediene dir.«

»Darüber habe nicht ich zu befinden.«

»So'n Leichtsinn müßte man bestrafen.«

Der Direktor läutete. Ein Aufseher kam und führte den Roten in seine Zelle zurück.


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