Artur Landsberger
Bankhaus Reichenbach
Artur Landsberger

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20.

Das Gericht erschien. Die Verhandlung war wieder eröffnet.

»Wir fahren in der Zeugenvernehmung fort,« sagte der Vorsitzende. Der nächste Zeuge war Ernst Kumbier, der Wirt des Schmetterlings aus der Colonnenstraße. Er wurde vereidigt. Sodann forderte ihn der Vorsitzende auf, die Vorgänge jener Nacht, soweit sie sein Lokal betrafen, also auf persönlicher Wahrnehmung beruhten, zu erzählen.

Ernst Kumbier, der Typ eines Kaschemmenwirts, der in seinem zu Ehren des Gerichts angelegten schwarzen Rock grotesk feierlich wirkte, begann:

»Zu erzählen is da nich viel. Es war, wie es alle Nacht is. Im Schmetterling is eben Betrieb. Überhaupt bei's Bockbier.«

»Kennen Sie die Angeklagten?«

Der Wirt wandte sich zur Anklagebank und sagte lachend:

»Na, da sitzt ja der Gregor! – und Bobchen! – und der lange Franz! – und die Meechen!«

»Stammgäste?«

»Sozusagen – gute Gäste – 'n bißchen laut – und immer gleich drauf und los, wenn's an sie rankommt.«

»Erinnern Sie sich, daß sie in der fraglichen Nacht sämtlich bei Ihnen waren?«

»Versteht sich.«

»Saßen sie allein – oder wer saß noch bei ihnen?«

Der Wirt zögerte erst und sagte dann:

»Da saß sonst noch wer dran.«

»Wer denn?«

»Mal der – mal der.«

Reichenbach wurde ihm gegenübergestellt.

»Kennen Sie den Herrn?« fragte der Vorsitzende.

»Aber ja.«

»Verkehrt er bei Ihnen? Erkennen Sie ihn bestimmt als einen Ihrer Gäste?«

»Jewiß doch!«

»Aber kein Stammgast – wie?«

»Ein feiner Herr – und ein juter Gast.«

»Kommt er oft zu Ihnen?«

»Jelegentlich. – Aber denn jibt er was aus.«

»Saß er an einem Tisch mit den Angeklagten?«

»Warum nich. – Damit verjibt er sich noch nischt.«

»Sie haben das gesehen?«

»Ich hab doch meine Augen überall. Wat meinen Sie, wat die Brüder sonst anstellen würden. Ick sehe alles und ick höre alles.«

»Was haben Sie denn gehört?«

»Zum Beispiel, daß er um fünfe rum telephoniert hat. Das fällt doch uff.«

»Das will ich meinen. – An wen hat er denn telephoniert?«

»Keene Ahnung.«

»Aber was er gesagt hat, haben Sie gehört?«

»Natürlich! – ›Ihr Wunsch ist erfüllt,‹ hat er jesagt, ›schlafen Sie ruhig weiter.‹«

»War das alles?«

»Ja.«

»Hat er bezahlt?«

»For alle.«

»Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«

»Wenn eener zahlt – und noch dafor for alle – natürlich fällt det uff.«

»Was haben Sie sich denn dabei gedacht?«

»Nischt.«

»Das versteh ich nicht.«

»Ick rechne bloß. – Wenn ick mir bei alles, wat ick da höre, wat denken würde – nachher, da käme ick aus 'm Jerichtssaal überhaupt nich mehr raus.«

»Haben Sie gehört, daß an dem Tisch der Angeklagten von Einbruch und Diebstahl gesprochen worden ist? Ich mache Sie darauf aufmerksam, Sie stehen hier unter Eid.«

»Von was soll'n Se 'n sonst reden? 's sind doch ernste Menschen.«

»Von einer Bank und von einem Geldschrank haben Sie nichts gehört?«

»Von so was is oft die Rede. Det fällt nich weiter uff.«

»Also, nun mal konkret gesprochen.«

»Wat is 'n det nu wieder? Det kenne ick ja janich.«

»Sie halten es also für möglich, daß der Zeuge Reichenbach mit den Angeklagten über eine Bank und einen Geldschrank gesprochen hat?«

»Warum soll er 'n das nich jetan haben? Is das verboten nach's neue Strafjesetzbuch. Denn kann ick schließen.«

»Das genügt mir,« erwiderte der Vorsitzende, wandte sich an den Staatsanwalt und die Verteidiger und fragte:

»Ist noch eine Frage an den Zeugen zu richten?« – Und da die verneinten, so rief er dem Gerichtsdiener zu: »Der nächste Zeuge!«

Der nächste Zeuge war Heinz Reichenbach. – Und alle hofften, daß der Prozeß damit endlich die erwartete sensationelle Wendung nehmen würde. Anfangs schien es auch so. Denn der Verteidiger des Angeklagten Gregor Haase erhob sich und erklärte:

»Ich beantrage, den Zeugen unvereidigt zu vernehmen. Der Zeuge hat seinerzeit unter dem Verdacht der Täterschaft gestanden, der so dringend war, daß man zu seiner Verhaftung schritt. Nach Ansicht der Verteidigung bestehen diese Verdachtsmomente fort. Es liegt daher im Interesse des Zeugen selbst, unvereidigt vernommen zu werden.«

Der Staatsanwalt erhob sich und widersprach:

»Wieso die Aussetzung der Vereidigung im Interesse des Zeugen liegt, ist unerfindlich. Im übrigen haben wir hier nicht die Interessen des Zeugen wahrzunehmen, sondern die Wahrheit zu ergründen. Die aber können wir am sichersten aus dem Munde des Zeugen erfahren, der nicht vorbestraft ist und den Namen einer der angesehensten Familien der Stadt trägt. Der Verdacht, der Zeuge könne unter seinem Eide etwas anderes als die Wahrheit sagen, ist daher unbegründet.«

»Wo bleibt die Logik, Herr Staatsanwalt?« rief der Verteidiger. »Sie haben den Zeugen eines der raffiniertesten Diebstähle für fähig gehalten, glauben aber nicht, daß er imstande wäre, unter seinem Eide Falsches zu bekunden, um sich der Strafverfolgung zu entziehen! Im übrigen weise ich die Unterstellung, daß ein Zeuge aus gutem Hause, der unter seinem Eide aussagt, glaubwürdiger ist als jeder andere unbescholtene Mann aus dem Volke, zurück.«

Der Vorsitzende erklärte:

»Eine derartige Berichtigung des Herrn Staatsanwalts steht dem Herrn Verteidiger nicht zu, sondern ist Sache des Verhandlungsleiters. Da die Worte des Herrn Staatsanwalts aber keine Veranlassung zu derart allgemeinen Schlußfolgerungen geben, wie sie der Herr Verteidiger zu ziehen beliebt, so liegt auch für mich kein Grund vor, einzuschreiten.«

Gleich darauf beschloß das Gericht, die Vereidigung des Zeugen Reichenbach, dem Antrag der Verteidigung entsprechend, vorläufig auszusetzen.

»Das schließt nicht aus,« wandte sich der Vorsitzende an Reichenbach, »daß Sie alles, was Sie jetzt bekunden, hinterher beeidigen müssen.«

Das Publikum war über die Eidesaussetzung befriedigt, entnahm es doch daraus, daß sowohl Verteidigung wie Gericht noch immer mit der Möglichkeit einer Schuld Reichenbachs rechneten. Ihre Zuversicht aber, doch noch eine Sensation zu erleben, schöpften sie aus dem Auftreten des Verteidigers, von dem sie eine regelrechte Attacke auf den Zeugen Reichenbach erwarteten.

»Sie kennen die Angeklagten?« fragte der Vorsitzende – und Reichenbach erwiderte nach einem flüchtigen Blick auf die Anklagebank:

»Ich erkenne sie wieder.«

»Wollen Sie uns erklären, aus welchem Grunde Sie den Verkehr mit diesen Leuten gesucht haben – was an sich doch auffällig und ungewöhnlich ist.«

»Ich habe keine Erklärung.«

»Das genügt mir nicht. – Seit wann besteht dieser Verkehr?«

»Ich kann Ihnen Bestimmtes darüber nicht sagen.«

»Sie weichen aus. – Sie sind jedenfalls mehrfach mit diesen Leuten zusammengekommen. Zu welchem Zweck?«

»Ich habe keinen bestimmten Zweck damit verbunden.«

»Das klingt sehr unwahrscheinlich.«

»Es gibt sehr Viele, die sich für das Leben dieser Art Menschen interessieren.«

»Ans Neugier also?«

»Neugier oder Interesse – das ist in einem Fall wie diesem kaum ein Unterschied.«

»Sie sind eine Abenteuernatur?«

»Ich weiß nicht, was Sie darunter verstehen.«

»Hat es für Sie Reiz, sich in Gefahr zu begeben?«

»Ja.«

»Hör doch!« rief eine Dame mit rotem Kopf und kniff ihre Nachbarin in den Arm. –

»Sie fühlen den unwiderstehlichen Drang dazu?«

»Es reizt mich jedenfalls.«

»Und in welcher Form geben Sie diesem Drange nach?«

»Muß ich mich darüber hier auslassen?«

»Nur sofern es Sie nicht belastet.«

»Dann verweigere ich die Aussage.«

Eine große Erregung ging durch den Saal.

»Da haben wir's!« rief der Verteidiger und sprang auf.

»Aus Ihrer Antwort kann man entnehmen,« sagte der Vorsitzende, »daß Sie die Gesellschaft dieser Leute gesucht haben, um sich ihnen auf ihren Diebstahls- und Einbruchszügen anzuschließen.«

»Das bestreite ich.«

»Es braucht ja nicht in gewinnsüchtiger Absicht geschehen zu sein. Ich begreife das sogar. Das Moment der Gefahr genügt Ihnen. Dann weiß ich aber nicht, weshalb Sie nicht die volle Wahrheit sagen. Oder haben Sie den Leuten, damit man Sie mitnimmt, versprechen müssen, reinen Mund zu halten?«

»Ich habe nichts versprochen.«

»Ich habe aber den Eindruck, daß Sie sich fürchten, zu reden.«

»Das gebe ich zu.«

»Ich kann die Angeklagten hinausführen lassen, wenn Sie glauben, daß Sie dann freier reden.«

»Danke! Wie weit ich in meinen Aussagen gehe, mache ich lediglich mit mir und meinem Gewissen ab.«

»Sie haben die Pflicht, zu reden. Ich kann Sie zwingen.«

»Sie können mich nicht zwingen, etwas gegen mein Gewissen zu tun.«

»Wir haben ein Zeugniszwangsverfahren, das Strafe bis zu sechs Wochen Haft androht.«

»Das wird an meiner Haltung nichts ändern.«

»Waren Sie in der fraglichen Nacht mit den Angeklagten zusammen im Schmetterling?«

»Ja!«

»Haben Sie mit ihnen zusammengesessen?«

»In einem Lokal wie der Schmetterling sitzt man bald hier bald da – man steht auch viel herum.«

»Sie haben in dieser Nacht also auch mit anderen zusammengesessen?«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Wußten die Angeklagten, wer Sie sind?«

»Das weiß ich nicht.«

»Solche Leute interessieren sich doch, zu erfahren, wer man ist, wenn man ihre Gesellschaft sucht – schon aus Furcht, es mit einem Spitzel zu tun zu haben.«

»Da sie mich nicht gefragt haben, ist es möglich, daß sie es wußten.«

»Man hat Sie vermutlich betrunken gemacht und dann ausgefragt.«

»Mir ist das jedenfalls nicht zum Bewußtsein gekommen.«

»Weil Sie bewußtlos betrunken waren. Es ist auffallend, zum mindesten aber unerhört fahrlässig, daß Sie die Bankschlüssel bei sich führten, wenn Sie sich in solche Gesellschaft begaben.«

»Ich gehe nie ohne die Schlüssel fort.«

»Sie sehen ja, was Sie damit angerichtet haben. Sie haben nicht einmal gemerkt, daß man Ihnen die Schlüssel aus der Tasche gezogen und nach Ablauf einer Stunde etwa wieder zugesteckt hat.«

»Davon habe ich allerdings nichts gemerkt.«

»Sie entsinnen sich aber, bewußtlos auf der Straße gelegen und sich in noch halb benommenem Zustand zu einem Arzt geschleppt zu haben.«

»Ja!«

»Wie lange Sie in diesem Zustand gelegen haben, wissen Sie nicht!«

»Nein!«

»Sie geben aber die Möglichkeit zu, daß man Sie inzwischen irgendwohin transportiert und später wieder auf die Straße zurückgebracht hat.«

»Das müßte dann, während ich bewußtlos war, geschehen sein.«

»Selbstverständlich. Ganz nüchtern waren Sie wohl selten, wenn Sie sich in dieser Gesellschaft befanden. Vermutlich haben Sie die Leute überhaupt erst aufgesucht, wenn Sie schon unter Alkohol standen.«

»Das bestreite ich.«

»Sie werden ihnen doch nicht in nüchternem Zustand die Geheimnisse der Bank ausgeplaudert haben.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Sie haben diesen Diebstahl zum mindesten fahrlässig mitverschuldet.«

»Ich bin kein Jurist, um das feststellen zu können.«

»Ihre Vernehmung ist vorläufig beendet. Sie bleiben aber hier, da wir Sie voraussichtlich noch benötigen.«

Staatsanwalt und Verteidigung behielten sich vor, im späteren Verlauf der Verhandlung noch Fragen an den Zeugen zu richten.

Das Publikum war enttäuscht. Aber weder das Gericht, noch der Staatsanwalt hatten ein Interesse daran, den Fall, der so klar war, daß er als Schulbeispiel für den Indizienbeweis gelten konnte, dem Publikum zuliebe zu vertiefen oder zu komplizieren. Die abnormen Neigungen des Zeugen Reichenbach interessierten sie gar nicht. Wenn der ein Vergnügen darin fand, die Nächte mit Verbrechern und ihren Dirnen bei Schnaps und Bier zu verbringen – was ging es sie an? Selbst, wenn er es als eine Art Sport betrieb, ihre dunklen Geschäfte als Amateur mitzumachen.

Ganz anders dachte das Publikum. Vor allem die Damen. Denen war es sofort klar – und sie lächelten über die ahnungslosen Richter – daß Heinz Reichenbach einer der beiden Dirnen sexuell hörig war. Das nutzten die Verbrecher natürlich aus. Und es war ihrer Ansicht nach durchaus denkbar, daß er in dieser Hörigkeit hemmungslos sich selbst zu einem Verbrechen verleiten ließ. Nahm man das aber an, so gab es in dem Fall, der dem Staatsanwalt und dem Gericht soviel Beschwerden machte, keine einzige Unklarheit mehr. Man stritt im Publikum, ja man wettete, ob Reichenbach das Opfer Frieda Graus oder Else Sommers war, und man erregte sich über die Phantasie- und Ahnungslosigkeit der Richter, die auf das zunächst Liegende nicht kamen, derart, daß man seinen Unwillen durch lautes Sprechen wie: »Cherchez la femme!« und ähnliche Zurufe Ausdruck gab.

»Noch ein Laut aus dem Publikum,« rief der Vorsitzende, »und ich lasse den Zuschauerraum räumen.«

Der nächste Zeuge war der Kellner des Schmetterling, den der Vorsitzende fragte, ob die Angeklagten in der fraglichen Nacht in dem Lokal gewesen seien. Die Frage wurde bejaht. Jetzt wies der Vorsitzende auf den Zeugen Reichenbach, der vorn auf der Zeugenbank saß, und fragte den Kellner:

»Kennen Sie den Herrn da?«

»Jawohl.«

»War der in dieser Nacht in Gesellschaft der Angeklagten?«

»Jawohl.«

»Sie erinnern sich genau?«

»Ganz genau.«

»Haben Sie den Herrn sonst in Gesellschaft der Angeklagten gesehen?«

»Jawohl.«

»Häufig?«

»Öfter!«

»Das is nich wahr!« schrie der Angeklagte Gregor Haase und schlug mit der Faust auf die Anklagebank. Und auch die übrigen Angeklagten widersprachen lebhaft.

Der Vorsitzende verwies zur Ruhe.

»Sie sagen unter Ihrem Eide aus, daß der Zeuge und die Angeklagten in jener Nacht zusammen in ihrem Lokal gewesen sind.«

»Jawohl.«

»Haben sie viel getrunken?«

»Allerhand.«

»Hatten Sie den Eindruck, daß sie den Zeugen absichtlich betrunken machten?«

»Sie heckten was aus gegen ihn – das sah ich.«

»Haben Sie gesehen, daß einer der Angeklagten ihm die Schlüssel aus der Tasche gezogen hat?«

»Jawohl.«

»Du lügst, du Schwein!« brüllte der Angeklagte Gregor und erhob die Faust.

Er erhielt eine Ordnungsstrafe. Aber der Zeuge schränkte angesichts Gregors Faust seine Bekundung ein und sagte:

»Sie haben ihm an der Tür allerhand aus den Taschen gezogen – ob da nun auch Schlüssel bei waren, weiß ich nich – aber es war mir so.«

»Und was geschah dann?«

»Das übrige hat sich draußen abgespielt.«

»Sie haben den Zeugen auf der Straße niedergeschlagen?«

»Das habe ich vom Fenster hinter der Gardine gesehen.«

»Und dann?«

»Habe ich wieder bedient, da noch Gäste da waren.«

»Und um den Mann haben Sie sich nicht gekümmert?«

»Ich misch mir nich rein – von wegen der Schankkonzession vom Chef.«

»Die Angeklagten sind dann später in das Lokal zurückgekehrt?«

»Jawohl.«

»Wie lange Zeit lag dazwischen?«

»Na, doch so immerhin eine Stunde!«

»Zwei Minuten!« brüllte Gregor und erhielt abermals einen Verweis.

»Erinnern Sie sich genau?«

»Jawohl.«

»Wie spät mag es gewesen sein, als die Angeklagten in das Lokal zurückkehrten?«

»So um fünfe rum – es wurde schon hell.«

»Als sie das Lokal das erstemal verließen, war es noch dunkel?«

»Stockfinster. – So um viere rum.«

»Was erzählten sie dann, als sie wiederkamen?«

»Sie hatten die Tasche voll Marie und suchten die Mädels zu 'ne Frühfahrt.«

»Aha! Hatten sie das Auto denn bei sich?«

»Die Sore war zu heiß – das hatten sie anderswo derweile untergestellt.«

»Und hinsichtlich der Zeit von einer Stunde, die dazwischen lag, ist jeder Irrtum auf Ihrer Seite ausgeschlossen?«

»Jawohl!«

»Was haben die Angeklagten denn nun Ihrer Ansicht nach in der Zwischenzeit gemacht?«

Der Zeuge sah den Vorsitzenden verdutzt an und sagte:

»Nu wollen Sie mir wohl auf den Busch klopfen? Ich hab nichts zu tun mit dem Bankdiebstahl.«

»Sie meinen also, daß sie in der Zwischenzeit dem Bankhaus Reichenbach einen Besuch abgestattet haben?«

»Darüber erlaube ich mir keine Ansicht zu haben. Was die Angeklagten sind, so waren das meine Jäste – gegen die sag ich nischt aus.«

»Wo ist denn der Zeuge Reichenbach in der Zwischenzeit geblieben?«

»Keine Ahnung! – Den haben se vielleicht zu eins von die Mädels geschafft.«

»Er ist aber auf der Straße zum Bewußtsein gekommen,« erklärte der Verteidiger – und der Zeuge erwiderte:

»Da hab'n sie 'n denn hinterher eben wieder hingeschafft.«

»Und wo ist das Geld geblieben?«

»Das werden Sie wohl nicht erfahren. Für fünfhunderttausend Mark, da sitzen die gerne ihre drei oder fünf Jahre ab.«

Der Vorsitzende wandte sich an die Verteidiger:

»Nach dieser eidlichen Aussage des nicht vorbestraften Zeugen verzichten Sie wohl auf Ihre Entlastungszeugen aus dem Schmetterling, die sämtlich schwer vorbestraft sind.«

»Falls Sie sie unvereidigt vernehmen, habe ich kein Interesse daran.«

»Dazu werden wir bei den Vorstrafen wohl gezwungen sein.«

Die Verteidigung leistete Verzicht.

Aber der Angeklagte Gregor Haase stand mit rotem Kopf und funkelnden Augen da, hob die Faust gegen den Zeugen herunter und rief:

»Du Aas bist bestochen!«

Auch die übrigen Angeklagten sprangen auf und wandten sich gegen den Zeugen. Der drehte sich zu ihnen um, zog die Schultern hoch und sagte:

»Tut mer ja leid, aber ich steh unter Eid.«

Der Zeuge wurde entlassen, die Beweisaufnahme geschlossen. Der Fall schien genügend geklärt. Zumal der Angeklagte Bob Klawitter, ein berühmter Fassadenkletterer, bei einem Lokaltermin, der während der Verhandlung stattfand, aus der Rolle gefallen war. Als man Versuche anstellte, mit Hilfe einer Strickleiter von dem Bureau Reichenbachs aus in das darunterliegende Bureau Direktor Urbachs zu gelangen, packte ihn der Ehrgeiz, er schob den Sachverständigen der Polizei beiseite, riß den Strick vom Fenstersims und schwang sich frei von der oberen in die untere Etage – wobei er unglücklicherweise fast an denselben Stellen die Sandsteinwand mit den Füßen berührte, an denen sie deutlich Flecke aufwies, die – wie man annahm – von dem Täter herrührten. Das war kaum noch ein Indizium – es war ein unfreiwilliges Geständnis: Haase, der intellektuelle Urheber, der das Ganze einfädelte und überwachte, Bob Klawitter, das ausführende Werkzeug, und Franz Lippschütz, der Mann, der Schmiere stand, während den beiden weiblichen Angeklagten die Aufgabe zugefallen war, den Zeugen Reichenbach, falls er vorzeitig zum Bewußtsein zurückkehren sollte, fernzuhalten. Selten wohl hielt ein Staatsanwalt ein Plädoyer, aus dem die Schuld der Angeklagten überzeugender und lückenloser hervorging. Er beantragte gegen die drei männlichen Angeklagten Zuchthausstrafen von viereinhalb, dreieinhalb und zwei Jahren – gegen die beiden weiblichen Angeklagten wegen Beihilfe Gefängnisstrafen von zwei und einem Jahre.

Er führte aus:

»Die Presse, die sich ewig auf der Jagd nach Sensationen befindet, hat sich auch dieses Falles mit einer Leidenschaft bemächtigt, als handle es sich um eine Cause célèbre, während es in Wirklichkeit nichts anderes als ein von gewohnheitsmäßigen Verbrechern raffiniert in Szene gesetzter Diebstahl ist, wie sie die Kriminalgeschichte jedes Landes zu Hunderten aufweist. Lediglich der Umstand, daß anfangs ein Prominenter der Bankwelt in den Verdacht der Täterschaft geriet, gab die gewünschte Gelegenheit, dem Kriminalfall eine sensationelle gesellschaftliche Note zu geben. Wenn der Zeuge Reichenbach verdächtigt und vorübergehend verhaftet wurde, so hat er sich das selbst zuzuschreiben. Ein Mann, der tagsüber an verantwortlicher Stelle einer großen Bank steht und die Nächte mit Berufsverbrechern und Dirnen verbringt, darf sich nicht beklagen, wenn er in Situationen gerät, die geeignet sind, seinen geschäftlichen und moralischen Ruf zu untergraben!«

Frau Hedda beugte sich zu Karl Morener und flüsterte ihm zu:

»Das ertrag ich nicht!«

»Beherrsch dich, bitte!« erwiderte Karl. »In vier Wochen ist das vergessen.«

»Ob die Motive dieses Verkehrs«, fuhr der Staatsanwalt fort, »snobistischer oder pathologischer Art sind, interessiert uns nicht, da Herr Reichenbach nicht Angeklagter, sondern Zeuge ist. Was die Staatsanwaltschaft jedoch zu prüfen hatte, war die Frage des Kausalzusammenhanges. Mit anderen Worten: inwieweit hat der Zeuge Reichenbach diesen qualifizierten Diebstahl verschuldet und darüber hinaus: hat er in irgendeiner Form daran teilgenommen. Die Beweisaufnahme hat ein strafrechtliches Verschulden nicht ergeben, wohl aber einen auf zivilprozessualem Wege feststellbaren Anspruch auf Schadenersatz, über den das Strafgericht nicht zu befinden hat. Schwieriger liegt die Frage, wieweit der Zeuge Reichenbach den Sport getrieben hat. Ob er sich auf den Verkehr mit den Verbrechern außerhalb ihres Berufs beschränkt oder ob sein Interesse so weit ging, daß er an ihren Einbruchsfahrten teilgenommen hat. Da die Angeklagten den Verkehr mit dem Zeugen leugnen, obgleich der nicht vorbestrafte Kumbier ihn unter seinem Eide bestätigt hat, so konnte dies psychologische Rätsel nicht gelöst werden, zumal das sonderbare Verhalten des Zeugen Reichenbach jede Klärung von vornherein ausschloß. Die Staatsanwaltschaft steht auf dem Standpunkt, daß Reichenbach nicht aus gewinnsüchtiger Absicht, sondern als Amateur gehandelt hat. Die Frage drängt sich auf, könnten die Verbrecher derart genau über Einzelheiten orientiert sein, die nur ganz wenigen Eingeweihten bekannt waren? Von wem also stammte die Annonce? – In diesem Falle zweifellos von dem Zeugen Reichenbach. – Die daraus folgende Frage wiederum lautet: haben die Angeklagten den Zeugen durch Zufluß von Alkohol oder anderen Giften in einen Zustand gebracht, in dem er ahnungslos ausplauderte, was er in normalem Zustand niemals verraten hätte – oder hat er ihnen diesen Tipp freiwillig gegeben – sagen wir mal: »aus Freude am Einbruch«, aus Neugier, ob sie die Idee erfassen und den Einbruch ausführen würden. Das wäre dann vielleicht eine pathologische Veranlagung – und zugleich der Schlüssel für diesen Verkehr, der sich auf andere Weise schwer erklären läßt. Es wäre aber damit zugleich die Frage aufgeworfen, ob der Zeuge Reichenbach die Angeklagten zu der von ihnen begangenen strafbaren Handlung angestiftet hat. Der Anstifter wird bekanntlich wie der Täter bestraft.«

Die Verteidiger wurden unruhig. Aber der Staatsanwalt wandte sich zu ihnen und fuhr fort:

»Ich weiß, meine Herren, Gegenstand des Plädoyers darf nur sein, was Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist. Wesentlicher Gegenstand der mündlichen Verhandlung aber war die Feststellung, wieweit der Zeuge Reichenbach mitgewirkt hat. Die geschickte Art, in der er die Fragen des Herrn Vorsitzenden beantwortet hat, lassen verschiedene Deutungen zu. Wenn ich mich mit diesen Deutungen befasse, und zwar auf Grund der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung, so verstoße ich damit gegen keine strafprozessuale Bestimmung. Ich fühle mich sogar dazu verpflichtet. Und zwar im Interesse der Angeklagten. Denn die Staatsanwaltschaft hat die Pflicht, als objektive Behörde auch die Momente heranzuziehen, die für die Angeklagten sprechen. Wenn aber feststeht, daß der Zeuge Reichenbach in monatelangem Verkehr die Angeklagten systematisch zu diesem Verbrechen gereizt und ihnen immer wieder vor Augen geführt hat, wie groß die Gewinnchance, wie klein dank seiner ausgiebigen Annonce das Risiko ist, so wird das zum mindesten hinsichtlich des Strafmaßes für die Angeklagten von Bedeutung sein.«

»Das ist ja ungeheuerlich!« rief Reichenbach.

Ehe ihn der Vorsitzende zur Ordnung weisen konnte, erwiderte der Staatsanwalt:

»Ich wüßte sonst keinen Grund, aus dem Sie ständig die Aussage darüber verweigert haben, wo Sie in der Nacht des Diebstahls gewesen sind.«

»Wenn Ihnen das nicht klar geworden ist, so ist das nicht meine Schuld.«

»Wenn jemand wie Sie vor die Wahl gestellt ist, eines unter erschwerenden Umständen begangenen Diebstahls verdächtigt zu werden oder einzugestehen, lediglich aus Abenteuerlust mit gewohnheitsmäßigen Verbrechern verkehrt zu haben, so entscheidet er sich für das Letztere.«

»Ich habe damit gerechnet, daß es der Kriminalpolizei gelingen würde, den Diebstahl aufzuklären.«

»Soll das heißen, daß Sie die Angeklagten nicht verraten wollen?«

»Vielleicht.«

»Geben Sie nicht immer so dumme Antworten.«

Heinz Reichenbach sprang auf und ging ein paar Schritte auf den Staatsanwalt zu. Es schien, als wenn er ihn attackieren wollte. Aber der Vorsitzende war gewandt genug, zu sekundieren.

»Herr Staatsanwalt!« sagte er mit so lauter Stimme, daß Heinz Reichenbach unwillkürlich stehenblieb und sich zu ihm umwandte. »Sie dürfen den Zeugen nicht beleidigen. Wenn ich an seinen Antworten Anstoß nehme, rüge ich sie. Im übrigen stelle ich fest, daß Sie Ihr Plädoyer unterbrochen haben. Wir befinden uns wieder in der Beweisaufnahme. Die Verhandlung ist wieder eröffnet.«

Der Staatsanwalt wandte sich wieder an Reichenbach.

»Obgleich die Angeklagten also Ihr Vertrauen so arg getäuscht und Ihnen so übel mitgespielt hatten, hielten Sie sich trotzdem verpflichtet, sie nicht zu verraten?«

»Ich kann im Augenblick nicht sagen, wie ich mich dazu verhalten hätte.«

»Aber ich kann Ihnen sagen, wie Sie sich verhalten haben,« erklärte der Vorsitzende, der die Leitung der Verhandlung wieder an sich riß. »Sie haben geschwiegen, obgleich Sie unter dem schweren Verdacht standen, der Täter zu sein.«

»Ich sagte ja schon, daß ich das Vertrauen in die Kriminalpolizei setzte . . .«

»Wenn Ihre Freunde Ihnen nicht das Automobil gestohlen hätten,« erklärte der Staatsanwalt, »dann säßen Sie vermutlich jetzt hier auf der Anklagebank.«

»Ich hätte es nicht ändern können.«

»Was?« rief der Vorsitzende. »Sie hätten auch dann geschwiegen? Soviel näher stehen Ihnen diese Gewohnheitsverbrecher als die Interessen der Bank? – Antworten Sie!«

»Es gibt auch höhere Interessen.«

»Die eigenen!« rief der Staatsanwalt. »Mir scheint nach alledem, daß Ihre Freundschaft mit den Angeklagten doch nicht rein platonischer Natur gewesen ist.«

»Auf eine derartige Frage kann ich Ihnen nur außerhalb des Gerichtssaals die passende Antwort geben.«

»Soll das etwa heißen . . .?« fuhr ihn der Staatsanwalt an – aber der Vorsitzende fiel ihm ins Wort und fragte Reichenbach:

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich bedaure, Ihnen darauf die Antwort verweigern zu müssen.«

»Sie haben eine völlig falsche Vorstellung,« fuhr ihn der Vorsitzende an – »sowohl über Ihre Pflichten als Zeuge wie über die sehr zweideutige Rolle, die Sie in diesem Prozesse spielen. Wir haben Sie auf Antrag des Verteidigers unvereidigt gelassen, weil wir Sie nicht in die Gefahr bringen wollten, Ihrer eigenen Sicherheit wegen etwas Falsches unter Eid auszusagen. Das berechtigt Sie aber nicht, hier nach Belieben auszusagen oder die Aussage zu verweigern. Wenn der Herr Staatsanwalt sich veranlaßt sah, eine Frage an Sie zu richten, die Sie kränken konnte, so habe ich diese Frage durchgehen lassen, da Ihr Verhalten tatsächlich kaum eine andere Deutung zuläßt.«

Das Publikum hing in höchster Erregung an Reichenbachs Mund und erwartete seine Erklärung.

»Er verteidigt sich schlecht,« sagte Karl Morener zu Frau Hedda – die leise erwiderte:

»Er verteidigt sich überhaupt nicht – denn er denkt nicht an sich.« – Und was sie weiter dachte: er denkt an mich – verschwieg sie.

Heinz Reichenbach stand vor dem Richtertisch und verzog keine Miene.

»Sie werden von mir nicht erwarten,« sagte er, »daß ich mich gegen einen derart lächerlichen Vorwurf verteidige.«

»Und daß die fünf Angeklagten durch Ihre Schuld ins Zuchthaus wandern – finden Sie das auch lächerlich?« rief der Verteidiger.

»Durch meine Schuld?« fragte Reichenbach entsetzt.

»Habe ich sie angegeben oder auch nur belastet?«

»Sie wissen sehr gut,« sagte der Vorsitzende, »daß die Angeklagten diesen großen Bankdiebstahl niemals hätten ausführen können, wenn sie nicht durch den Verkehr mit Ihnen über alle Details genau unterrichtet worden wären.«

»Dann bin ich also schuld an ihrer Verurteilung?«

»Letzten Endes ja!« erwiderte der Vorsitzende.

Heinz Reichenbach wechselte die Farbe. Er führte die Hand an den Kopf und schien zu überlegen:

»Einen Augenblick!« rief er und wiederholte halblaut vor sich hin: »Ei–nen Augen–blick!« Dann streckte er sich, warf den Kopf zurück und sagte mit lauter und fester Stimme: »Ich habe eine Erklärung abzugeben.«

Ein Geständnis! lag es auf allen Zungen. Das Publikum erhob sich – unbewußt – vor Erregung. Auch die Verteidiger standen auf. Heinz Reichenbach aber erklärte:

»Ich bekenne – und bin bereit, es zu beschwören –, daß ich niemals mit Verbrechern verkehrt, die Angeklagten vor jener Nacht niemals gesehen habe.«

Eine unerhörte Erregung ging durch den Saal.

»Er bricht sein Wort,« flüsterte Karl Morener. Aber Frau Hedda erwiderte:

»Er wäre ein Lump und nicht Heinz Reichenbach, wenn er anders handelte.«

Reichenbach aber fuhr fort:

»Auch in jener Nacht bin ich nur durch einen Zufall mit ihnen zusammengetroffen. Ich war auf dem Nachhausewege und wollte telefonieren. So kam ich in das Lokal, das ich nie zuvor betreten habe und dessen Namen ›Schmetterling‹ ich zum ersten Male durch den Herrn Untersuchungsrichter gehört habe. Als ich nach Verlauf weniger Minuten wieder auf die Straße trat, sah ich, daß mein Automobil verschwunden war. Ich eilte in das Lokal zurück und schlug Lärm. Man beförderte mich unsanft wieder auf die Straße. Ich lief bis zur nächsten Ecke und wieder zurück. Ich rief laut nach einem Schupo. Im selben Augenblick erhielt ich einen Stoß ins Genick – mir wurde schwarz vor den Augen – ich taumelte – fiel und verlor für einen Augenblick das Bewußtsein. Als ich mich wieder erheben wollte, nahm mich eine Frau unter den Arm und half mir auf. Ich wollte ein Auto nehmen und stellte fest, daß ich ausgeraubt war. Ein Schupobeamter, dem ich die Vorgänge erzählte, verwies mich auf das zuständige Polizeirevier – konnte mir aber – da ich das Lokal nicht anzugeben vermochte, nicht sagen, welches Revier das zuständige war. Als ich ihm erklärte, daß man mir mein Automobil gestohlen habe, forderte er mich auf, weiterzugehen und drohte, mich andernfalls wegen ruhestörenden Lärms festzunehmen. Ich schleppte mich durch die Straßen, bis ich einen Arzt fand, dem ich mich in diesem desperaten Zustande überantwortete. – So ist der Sachverhalt. Und daß die Angeklagten, die weder wußten, wer ich war, noch ob ich Schlüssel bei mir führte, innerhalb der wenigen Minuten, die nicht einmal ausreichten, um zur Bank zu gelangen, geschweige denn, den komplizierten Diebstahl auszuführen, zu mir zurückkehren, um mir die Schlüssel wieder in die Tasche zu stecken –, daß sie in der kurzen Zeit das Verbrechen begangen haben sollen, ist vollkommen ausgeschlossen!«

Das Publikum war verblüfft. Die Angeklagten, die sich schon im Zuchthaus sahen, waren aufgestanden und atmeten auf. Ihre Verteidiger sahen neugierig den Staatsanwalt an und da sie auf seinem Gesicht nicht lesen konnten, wie er die Erklärung des Zeugen Reichenbach aufnahm, so wandten sie sich an den Vorsitzenden, der seinen Blick fest auf den Zeugen richtete und nichts weiter sagte als:

»Sehr unglaubwürdig.«

Einer der Verteidiger erhob sich und bat ums Wort, das ihm erteilt wurde. Sodann erklärte er:

»Nach der sensationellen Enthüllung des Zeugen Reichenbach fällt das stolze Anklagegebäude des Herrn Staatsanwalts zusammen. – Es fehlt danach jede Voraussetzung für eine Schuld der Angeklagten. Die Verteidigung erwartet, daß die Staatsanwaltschaft die Klage fallen läßt.«

Der Staatsanwalt stand schon während der letzten Worte des Verteidigers und erwiderte:

»Die Verteidigung irrt sich. Die Erklärung des Zeugen Reichenbach kommt der Staatsanwaltschaft durchaus nicht unerwartet. Obgleich die Beschlußkammer den Antrag der Staatsanwaltschaft, das Verfahren auch auf den Zeugen Reichenbach auszudehnen, abgelehnt hat, hat es die Staatsanwaltschaft für ihre Pflicht gehalten, den gegen ihren Willen außer Verfolgung gesetzten Heinz Reichenbach nicht aus den Augen zu lassen, da er ihr nach wie vor der Anstiftung, Mittäterschaft oder Beihilfe dringend verdächtig erschien. Das Auftreten des Zeugen Reichenbach vor Gericht hat diesen Verdacht vertieft. Es gibt wohl niemanden hier im Saal, den nicht während der Vernehmung des Zeugen das Gefühl beschlichen hat, daß der Zeuge Reichenbach Wesentliches verschweigt. Er hat zugegeben, daß die Straflosigkeit der Angeklagten, die sämtlich Gewohnheitsverbrecher sind, ihm mehr am Herzen liegt als die Interessen der Bank, die den Namen seiner hochangesehenen Familie führt. Er hat auch angedeutet, daß er, falls man ihn wegen Diebstahls zur Verantwortung ziehen würde, die Angeklagten nicht verraten hätte. Dafür gibt es keinen anderen Grund, als daß es seine Komplicen sind!« – Der Staatsanwalt machte eine Pause, bis die Erregung im Saal sich gelegt hatte. Dann fuhr er fort: »Die Erklärung, die der Zeuge Reichenbach hochtönend in letzter Stunde vor Verkündung des Urteils hier abgegeben hat, ist ein großer Bluff, eine Verspottung des Gerichts, das er zu niedrig einschätzt, wenn er glaubt, daß es diese Erklärung auch nur einen Augenblick lang ernst nimmt. In dem Glauben, den Verdacht der Mittäterschaft von sich abgelenkt zu haben, fühlt er sich nun stark genug, um den seiner Ansicht nach entscheidenden Schritt zur Rettung seiner Komplicen zu wagen. Er hat diesen Diebstahl erdacht! Und auf die Frage, die uns alle so lange und so intensiv beschäftigt hat: aus welchem Grunde konnte ein Mann wie er Verkehr mit notorischen Verbrechern unterhalten – auf diese Frage, die zu beantworten er sich sträubte, lautet die Antwort: er brauchte diese Leute, um von sich abzulenken. Er schlich sich in ihr Vertrauen und verleitete sie. Er wußte, daß als Täter nur er in Frage kommen konnte. Also mußte er, obgleich er der eigentliche, der intellektuelle Täter blieb, auf künstlichem Wege Täter schaffen, die ihn entlasteten. Um aber den Verdacht von sich ab und auf sie zu lenken, hat er ihnen statt der üblichen Teilung der Beute, die er für sich behalten wollte, einen hohen Preis für den fingierten Diebstahl an seinem Auto, der Brieftasche und der Perlnadel offeriert. Die Angeklagten waren kurzsichtig genug, sich auf dies Glatteis führen zu lassen. So allein erklärt sich auch die in der Kriminalgeschichte einzig dastehende Tatsache, daß der Bestohlene wegen dieser Diebstähle bis heute keine Anzeige erstattet hat! Und schließlich die wesentliche Frage: hat der Angeklag . . . der Zeuge wollte ich sagen – Gründe gehabt, die ihn zu diesem ungewöhnlichen Verbrechen trieben? – Auf diese Frage lautet die Antwort: er hatte Gründe – und schwerwiegender Art. Der Angeklagte – der Zeuge« – verbesserte er abermals – »war aufs äußerste verbittert. Als für den schwer erkrankten Geschäftsinhaber des Bankhauses Reichenbach ein bevollmächtigter Vertreter ernannt werden mußte, glaubte er, der Prokurist und Träger des Namens Reichenbach, der Nächstberechtigte zu sein. Die Gattin des Herrn Morener überging ihn und ernannte zwei bisher ihm nachgeordnete Abteilungsdirektoren, die dadurch zum mindesten de iure seine Vorgesetzten wurden. Die Folge war, daß der Zeuge sich zurückgesetzt fühlte und sich mit der Absicht trug, das Bankhaus zu verlassen. Es ist mir gelungen, festzustellen, daß der Zeuge Reichenbach bereits im Mai, also zu einem Termin, der etwa einen Monat nach dem großen Diebstahl lag, nach Rio de Janeiro auszuwandern gedachte.«

Die Erregung des Publikums war bis zur Siedehitze gestiegen. Aber auch den Richtern und Verteidigern sah man an, wie stark sie von den Ausführungen des Staatsanwalts beeindruckt waren. Der fuhr in dem Bewußtsein, in die äußersten Winkel einer mehr als dunklen Prozeßaffäre hineingeleuchtet zu haben, fort:

»Ich vermute, daß diese Flucht in Begleitung einer Frau geplant war.«

»Endlich!« seufzte eine elegante Dame im Publikum wie erlöst auf. Aber auch vielen anderen sah man es an, daß diese so ersehnte Wendung des Prozesses ihnen Erleichterung verschaffte.

»Es ist durch den Zeugen Kumbier, dessen unter Eid gemachten Aussagen im übrigen auch die Bekundungen des Zeugen Reichenbach Lügen strafen, erwiesen, daß der Zeuge Reichenbach in der fraglichen Nacht gegen Morgen, also nach dem geglückten Bankdiebstahls vom ›Schmetterling‹ telephoniert hat:

›Ihr Wunsch ist erfüllt! Weiter wollte ich nichts sagen. Schlafen Sie weiter! Gute Nacht!‹ – Der Sinn dieser an sich geheimnisvollen Worte wird nun niemandem mehr unklar sein. Der Wunsch, dem Bankinhaber aus gekränkter Eitelkeit einen fühlbaren Schlag zu versetzen, also Rache an ihm, beziehungsweise seiner Gattin, zu nehmen, und sich zugleich Mittel für eine neue Existenz in einem fremden Erdteil zu schaffen, erklärt zur Genüge dies mit scharfem Geist erdachte und durchgeführte Verbrechen. – Wie so oft in der Geschichte der Kriminalität hat auch in diesem Fall der Täter in dem Gefühl, daß ihm nichts mehr passieren könne, zuviel gewagt und sich damit verraten. Bevor ich die Vertagung zwecks Ausdehnung der Anklage auf den Zeugen Reichenbach beantrage, wende ich mich noch einmal – und zwar zum letzten Male, an ihn: Wenn Sie wollen, daß wir Ihre letzten Bekundungen ernst nehmen, so beantworten Sie uns die Frage:

Wo haben Sie sich in der fraglichen Nacht aufgehalten und an wen haben Sie am frühen Morgen vom ›Schmetterling‹ aus telephoniert?«

Atemlose Stille herrschte im Saal. Nur ein »nein« von dem Ecksitz auf einer der letzten Reihen, auf der Karl Morener neben Frau Hedda saß, funkte wie ein Blitz durch den Saal und traf Heinz Reichenbach, der stehend die Rede des Staatsanwalts mitangehört hatte.

Leise erhoben sich auf einer der letzten Reihen zwei Menschen. Karl Morener hielt die kalte Hand Frau Heddas, öffnete geräuschlos die Tür und führte sie hinaus auf den Flur. Niemand sah es. Niemand hörte es. Nur Heinz Reichenbach fühlte, wie ein kalter Schauer durch seinen Körper ging.

Auf dem Flur standen Frau Hedda und Karl Morener sich gegenüber. Er hielt noch immer ihre Hand.

»Laß mich los!« befahl sie.

»Was willst du tun?«

»Die Fragen des Staatsanwalts beantworten.«

»Du wirst es nicht tun!«

»Gib mich frei!«

»Geh! – Aber dann sage alles!«

»Alles?«

»Daß ich es war, der den Diebstahl beging.«

Frau Hedda ließ den Arm sinken und hauchte:

»Du?«

»Dir zuliebe!«

Frau Hedda wankte. Karl legte den Arm um sie und führte sie zur nächsten Bank. –

Drin im Gerichtssaal antwortete Heinz Reichenbach nach Augenblicken unheimlichen Schweigens dem Staatsanwalt:

»Ich sage weder, an wen ich telefoniert habe, noch wo ich in der fraglichen Nacht gewesen bin.«

Der Staatsanwalt streckte den Arm aus – und obgleich er hinter seinem Pult drei bis vier Meter von ihm entfernt stand, schien es, als wenn sich eine Hand auf Reichenbachs Schulter legte. Mit lauter Stimme, die bis auf den Flur drang, sagte er:

»Sie sind verhaftet!«

Draußen fiel Frau Hedda in eine tiefe Ohnmacht. – Und wenige Wochen später verurteilte man Heinz Reichenbach wegen qualifizierten Diebstahls zu einem Jahre Zuchthaus.


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