Artur Landsberger
Bankhaus Reichenbach
Artur Landsberger

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19.

Vierundzwanzig Stunden nach der Einlieferung der drei gewerbsmäßigen Verbrecher und der dazugehörigen Dirnen wurde Heinz Reichenbach aus der Haft entlassen und außer Verfolgung gesetzt. Die Strafsache bei der Staatsanwaltschaft hieß nunmehr nicht mehr Reichenbach und Genossen, sondern nach einem mehrfach vorbestraften Zuchthäusler, bei dem man auch das Automobil Reichenbachs gefunden hatte: Gregor Haase und Genossen.

Heinz hatte dank seinem Fatalismus die Tage im Untersuchungsgefängnis gut überstanden. Hätte man ihn wegen eines Verstoßes gegen die »Vorschriften betreffend die Beleuchtung von Kraftwagen« zur Verantwortung gezogen, so hätte ihn das vermutlich sehr viel mehr erregt. Den Vorwurf, auf eine ungewöhnlich raffinierte Weise einen Geldschrank geplündert zu haben, nahm er nicht einen Augenblick lang ernst – auch dann noch nicht, als er erkannte, daß die zu seiner Verhaftung führenden Momente unter Umständen nicht zu widerlegen waren. Und da er von der Sache selbst innerlich unberührt blieb, sich auch nicht vorstellen konnte, daß außer den amtlichen Organen irgendein Mensch in ihm etwas anderes als das Opfer einer Reihe unglücklicher Zufälle sah, so schreckte ihn nicht einmal die Möglichkeit einer Verurteilung. Nicht etwa, weil er sich in der Rolle des Märtyrers gefiel, oder an seinen guten Stern und daher an den schließlichen Sieg der Wahrheit glaubte – womit ihn Karl Morener hatte trösten wollen – auch nicht aus Ergebung in sein Schicksal, das nicht abzuwenden war – so weit ging sein Fatalismus nicht, wenngleich er ihn die äußeren Begleitumstände leichter ertragen ließ – es war vielmehr das Gefühl heimlicher Übereinstimmung mit Frau Hedda, mit der ihn nun ein Geheimnis verband, das auch durch die Mitwisserschaft Karl Moreners nicht an innerlichem Reiz verlor. Er erinnerte sich an das Gespräch, das er an jenem ersten Abend bei Heinrich Morener mit ihr geführt hatte. Wörtlich stieg es plötzlich wieder in seiner Erinnerung auf. Er hatte von den großen Momenten im Leben gesprochen, in denen die wahre Natur des Menschen so explosiv hervorbricht, daß man aufhört, an die Äußerlichkeiten des Lebens zu denken. So erfüllte es sich jetzt an ihm. Damals hatte sie geantwortet: »Das klingt ja beinahe, als wenn Sie Ihr Schicksal mit meinem verknüpfen wollen.« – Und er hatte erwidert: »Das Schicksal geht seinen Weg und kümmert sich nicht um unsere Wünsche.« Nun war die Stunde da – und seine Prophezeiung ging in Erfüllung. – Während er entschlossen war, sich nicht zu verteidigen und zu allem, was Richter und Anwalt als Beweis seiner Schuld oder Unschuld vorbrachten, zu schweigen, erschien plötzlich Hedda im Untersuchungsgefängnis, warf mit ein paar Worten seinen Entschluß um – und entschied sein Schicksal. Denn ihre Worte: »tun Sie mir die Liebe,« enthob ihn der Mühe, auch nur einen Augenblick lang über die Gründe nachzudenken, die Frau Hedda zu dieser Bitte veranlaßt haben mochten. –

Über Erwarten schnell folgte der Verhandlungstermin. Drei Zuchthäusler und zwei Dirnen saßen auf der Anklagebank. Der Verein, dem sie angehörten, stellte zwei Verteidiger, – obgleich durch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft der Fall in allen seinen Einzelheiten klar zu liegen schien und anderen Einbruchsdiebstählen mehr oder weniger glich, so gaben ihm doch die Begleitumstände eine erhöhte Bedeutung. Weniger vom juristischen Standpunkt aus. Der Tatbestand der verletzten Paragraphen schien erfüllt. Aber über die Juristenkreise hinaus interessierte der selten oder gar einzig dastehende Fall, daß ein Mann aus erster Familie, in verantwortungsvoller sozialer Stellung, Umgang mit Kreisen pflegte, die man als den Auswurf der Menschheit zu bezeichnen pflegte. Wenn es sich noch um einen Juristen oder Sittenschriftsteller gehandelt hätte, der von Berufs wegen gezwungen war, Einblick in das Leben dieser Kreise zu gewinnen – aber ein Bankier, von dem man wußte, daß er in seiner freien Zeit ein Sammler alter Kunstgegenstände und einer der besten Kenner alter Porzellane war, und der dann plötzlich die Leidenschaft verspürte, die Nächte mit Zuchthäuslern und Dirnen zu verbringen – für eine Passion dieser Art mußte es Gründe geben, denen nachzuspüren es sich schon lohnte.

Vermutlich aber war es noch etwas anderes, was sich schwer wie Gewitterwolken über den großen Schwurgerichtssaal legte, in dem der vielen Zeugen wegen die Verhandlung stattfand. Im Zuhörerraum, den sonst bis zu achtzig Prozent die Zunft der Verbrecher füllte, saßen heute zum größten Teil Herren, vor allem aber Damen der Gesellschaft. In ihrer Vorstellung war Heinz Reichenbach ein Schillerscher Karl Moor, für den sie sich brennend interessierten. Der totgeglaubte Sinn für Romantik erwachte in diesen sonst auf Sport und Black Bottom eingestellten Seelen. Alle gesellschaftlichen Beziehungen zu Staatsanwälten, Richtern und Anwälten wurden genutzt, um Karten für die Hauptverhandlung zu erhalten. Neugierige Telephonistinnen konnten in diesen Tagen endlose und leidenschaftlich geführte Gespräche über die Toilettenfrage belauschen.

So kam es, daß der Zuschauerraum am Tage der Verhandlung einer Tribüne beim Concours hippique [Pferderennen] glich. Auch die Ferngläser fehlten nicht. Die Herren erschienen in dem wieder im Kommen begriffenen Cut mit heller Weste, hellen Handschuhen und hohem Hut. Viele trugen eine Blume im Knopfloch – kurzum, es war eine Modenschau in sich, und hätte auch auf den Außenstehenden so gewirkt, wenn nicht auf jeder Reihe zwischen den Herren und Damen der Gesellschaft ein paar Ganoven mit Halstuch und Mütze gesessen hätten. Menschen aus zwei verschiedenen Welten staunten sich an. Eine besonders elegante, noch sehr junge Dame sagte zu ihrem Nachbarn, der vielleicht ihr Mann war:

»Ich schäm mich tot.«

»Wieso?« fragte der Herr.

Sie wies auf das Ganovenpaar neben sich und sagte:

»Ich bin falsch angezogen! Dabei habe ich vom letzten Zilleball noch das Apachenkostüm, das mir so gut steht.«

»Unsinn!« erwiderte der Mann. »Das sind doch Professionals.«

»Was ist das?« fragte sie.

»Echte!« flüsterte er – und da sie noch immer nicht verstand, so fuhr er fort:

»Das sind wirkliche Verbrecher!«

Die Dame griff nach dem Arm ihres Mannes und schrie laut auf. Sämtliche Zuschauer sahen zu ihr hin und erhofften die erste Sensation. Da es dem Herrn aber gelang, sie zu beruhigen, so erfolgte nichts.

»Sicher hat der Apache nebenan sie bestohlen,« meinte eine Dame. Aber ein Ganove erwiderte:

»I Jott bewahre! Glauben Sie, dett hätt se bemerkt? Höchstens ins Bein gekniffen hat er se.«

»Deswegen schreit sie nicht!« erklärte die Dame – und der Ganove dankte für die Aufklärung.

Fast alle Damen im Zuschauerraum standen und beäugten durch ihre Gläser die fremden Gestalten – bis der Gerichtsdiener erschien und laut brüllte:

»Die Benutzung von Theatergläsern ist verboten! – Sie verstoßen gegen die Würde des Gerichtssaales! – Wenn der Herr Präsident das sieht, setzt es Ordnungsstrafen – Hinsetzen!« –

Im selben Augenblicke wurde es im Saal mäuschenstill. Diesen Ton waren die Herrschaften nicht gewöhnt. Und da die Ganoven, die bisher kaum Notiz von ihnen genommen hatten, sie jetzt frech angrinsten, so fühlten sie sich geniert. Sie rückten näher aneinander heran, so daß zwischen den einzelnen Gruppen kleine Zwischenräume entstanden, die auch räumlich die Menschen zweier Welten voneinander trennten.

Die beiden Verteidiger saßen bereits auf ihren Plätzen.

Die Tür links vor dem Zuschauerraum wurde geöffnet. Ein Polizeiwachtmeister und ein Gefängniswärter betraten den Saal, hinter ihnen die drei Angeklagten Gregor Haase, Franz Lippschütz, Bob Klawitter. Dann folgten wieder ein Wachtmeister und ein Gerichtsdiener.

»Gefesselt!«

flüsterten erregt die Damen ihren Männern zu, während die Angeklagten beim Betreten der Anklagebank schnell verständnisvolle Blicke mit ihren Kollegen wechselten. Sie sahen sauber aus, waren frisch rasiert, trugen steife Wäsche und dunkle Jackettanzüge. Über die offensichtliche Enttäuschung, die ihr bürgerliches Aussehen auf die Zuschauer machte, half ein wenig hinweg, daß der Hauptangeklagte Gregor Haase gefesselt war.

Die drei Angeklagten staunen das Publikum an. Sie können sich an dem Schmuck der Damen gar nicht satt sehen. Gregor Haase, ein hochaufgeschossener Mann, Mitte der Zwanzig, schmal und engbrüstig, mit scharf vorspringender Nase, fliehendem Kinn und ungleich großen Augen, dachte: denen möchte ich mal anderswo als im Gerichtssaal begegnen, – aber sofort kamen ihm Zweifel, ob der Schmuck wohl echt sei, und er flüstert seinem Nachbarn Franz Lippschütz, von dem er wußte, daß ihn die gleichen Gedanken beschäftigten, zu: »Tinneff!«

»Sieh mal die Tatzen!« sagte eine Dame zu ihrer Nachbarin und wies auf die Hände Bob Klawitters, die wie die Pfoten eines Raubtiers über dem Geländer der Anklagebank lagen. »Wenn die sich nachts um deinen Hals legen.«

»Süß muß das sein,« erwiderte die und fühlte eine kalte Gänsehaut über ihren Rücken laufen.

»Ich könnte mich für so ein Tier interessieren.«

»Ich habe auch genug von manikürten Männern, die nach Chanel duften.«

»Lohnender sind die hier auf alle Fälle.«

»Sieh mal, wie der Zweite uns anschaut.«

Die Dame zog daraufhin instinktiv Spiegel, Puderdose und Lippenstift aus der Tasche und legte blitzschnell neu auf.

Jetzt reckten alle die Hälse und sahen zur Tür. Die beiden weiblichen Angeklagten, Else Sommer und Frieda Grau, wurden hereingeführt. – Zwei übermäßig zurechtgemachte Bubiköpfe, darunter hübsche, aber trotz der Jugend durch das Laster gezeichnete Gesichter. Saubere, helle Waschkleider und seidene Strümpfe, in den Händen eine lederne Handtasche, die man ihnen während der Untersuchungshaft gelassen hatte. Sie nickten den Angeklagten zu und setzten sich ungeniert auf die hintere Reihe der Anklagebank.

»Das sollen Kokotten sein?« fragte die Dame enttäuscht.

»Ich bin auch sprachlos.«

»Und so etwas wird geliebt!«

»Männer wie die können doch ganz andere Frauen haben.«

»Die Eine sieht aus wie meine Köchin – nur ordinärer.«

»Auf so einer Frisur sitzt doch kein Hut.«

»Das möchte ich auch wissen, wie sie das machen.«

»Dabei sieht es aus wie Dauerwellen. Gar nicht übel eigentlich.«

»Gewiß nicht halb so teuer wie bei unserem Friseur.«

»Schade, daß man sie nicht nach der Adresse fragen kann.«

»Vielleicht weiß es der Herr neben dir,« sagte sie und beugte sich dabei zu dem Ganoven, der neben ihr saß.

»Was'n?« fragte der unbeteiligt.

»Ach, wir sind ganz entzückt von den beiden Damen.«

»Was'n for Damen?«

»Die da oben so für sich sitzen.«

»Patente Mädel!«

»Vor allem die wundervollen Frisuren! Wissen Sie vielleicht, wo die Damen sich bedienen lassen?«

»Sie wollen mir wohl aushorchen?«

»Entzückend!« rief die Dame zu ihrer Freundin. »Genau wie bei uns! Sie verraten ihre Quellen nicht.«

»Laß dir nich von denen anquasseln, Emil!« sagte das Mädchen, das neben dem Ganoven saß.

Der wehrte das Mädchen ab, wandte sich an die Damen und sagte:

»Ich kann Ihnen ja mal hinführen.«

»Ins Haus kann man sich den Friseur wohl nicht kommen lassen?«

»Jewiß doch! Sie brauchen mir nur zu sagen, wo Sie wohnen?«

Die Damen sahen sich an und zögerten. Dann sagte die eine.

»Meranerstraße 11, zwei Treppen.«

»Vorn? – hinten? – Quergebäude? – Herrjeh! Lassen Sie sich doch nich so ausquetschen.«

»Vorn bei Delscheff. – Am besten morgens gegen zehn Uhr.«

»Is der Herr Jemahl da schon unterwegs?«

»Natürlich! aber warum fragen Sie das?«

»Na, es arbeitet sich ruhiger, wenn man nich jestört wird.«

Jetzt ging die Tür hinter dem Verhandlungstisch auf und die Richter erschienen in schwarzen Talaren. Angeklagte, Verteidiger und Publikum erhoben sich. Während der Staatsanwalt, der rechts vom Richtertisch saß, mit dem Vorsitzenden ein paar unverständliche Worte wechselte, sagte die Dame zu ihrer Freundin:

»Warum hast du ihm denn meine Adresse genannt statt deiner?«

»Ich bin eben selbstlos.«

Der Vorsitzende schlug, ohne einen Blick in den Saal zu werfen, die Akten auf, läutete und eröffnete die Sitzung. Der Eröffnungsbeschluß wurde verlesen. Die Zeugen aufgerufen.

Die Sensation bereitete sich vor. Denn es erschien als erster Zeuge: Heinz Reichenbach.

Die Gläser der Damen wurden auf ihn angesetzt.

»Ich verbitte mir!« rief der Vorsitzende. Im selben Augenblick war kein Glas mehr zu sehen. »Was ist das für eine Unmanier! Sie befinden sich hier nicht im Theater. Schlimm genug, daß man Damen das erst sagen muß!«

Den Herren, die in Begleitung der Damen waren, zuckte es in den Fingerspitzen. Sie hatten das Gefühl, als müßten sie ihre Damen verteidigen, als dürften sie sich diesen Affront von dem Mann im Talar da oben nicht gefallen lassen. Aber sie entsannen sich, des öfteren in den Zeitungen gelesen zu haben, daß der Saal wegen Ungebühr des Publikums geleert wurde. Und sie kannten ihre Damen gut genug, um zu wissen, daß sie sich lieber beleidigen, als um eine Sensation bringen ließen. Also schwiegen sie.

Außer Reichenbach waren als Zeugen nur noch der Arzt, der Wirt, ein Chauffeur, der Diener Reichenbachs und ein paar Verbrecher und Dirnen geladen. Die Zeugen mußten nach erfolgtem Aufruf den Saal wieder verlassen.

Es begann die Vernehmung der Angeklagten, denen zur Last gelegt wurde, den Prokuristen Heinz Reichenbach, mit dem sie zusammen gezecht hatten, durch Alkohol oder andere betäubende Mittel in bewußtlosen Zustand versetzt, ihm das Auto, die Brieftasche, die Schmucksachen, vor allem aber die Schlüssel entwendet zu haben. Mit diesen Schlüsseln – so fuhr die Anklage fort –, über deren Bestimmung sie sich zuvor unterrichtet hatten, sind sie dann durch einen Nebeneingang, der nur von den beiden Direktoren und den beiden Prokuristen benutzt wurde, in das Bankgebäude – und zwar in das Bureau des Direktors Urbach gelangt, woselbst sie – und zwar ebenfalls unter Benutzung der dem Prokuristen Reichenbach abgenommenen Schlüssel – den Geldschrank öffneten und Devisen im Werte von einer halben Million Reichsmark entwendeten. Sie sind sodann – vermutlich unter Benutzung des gestohlenen Autos – an den Ort, an dem sie den Prokuristen Heinz Reichenbach in bewußtlosem Zustand zurückgelassen hatten, zurückgekehrt, haben ihm die Schlüssel wieder zugesteckt und ihn dann des Nachts in hilflosem Zustand auf der Straße ausgesetzt. Damit haben die Angeklagten den Tatbestand der Paragraphen des Strafgesetzbuches – es folgten die Zahlen – erfüllt.

Die Angeklagten bestritten im wesentlichen alles. Sie gaben nur zu, was sie nicht bestreiten konnten. Man hatte die ganze Gesellschaft vier Tage nach dem Bankdiebstahl auf einer Fahrt mit dem gestohlenen Auto, von dem sie nur die Nummer entfernt und durch eine andere ersetzt hatten, in der Nähe von Altona festgenommen. Sie hatten zusammen mehrere tausend Mark – und das eine der beiden Mädchen, Else Sommer, trug an ihrer Bluse die Perle, die als Heinz Reichenbachs Eigentum identifiziert wurde. Aber selbst den Diebstahl des Autos, der Brieftasche und der Nadel, die man ihnen abgenommen hatte, leugneten sie. Von dem Bankdiebstahl behaupteten sie nichts zu wissen, obgleich man außer dem deutschen Gelde mehrere Fünfpfundnoten und zwei Tausendfrankscheine bei ihnen gefunden hatte. Der Vorsitzende machte ihnen denn auch klar, daß sie ihre Lage durch ihr Leugnen nur verschlechtern und redete ihnen zu, ein volles Geständnis abzulegen.

Aber der Hauptangeklagte Haase erwiderte:

»Dafür liegt vorläufig gar keine Veranlassung vor.«

»Kennen Sie einen Mann mit Namen Reichenbach?«

»Der Name is mir noch nich vorjekommen. – Wie heißt'n der mit Vornamen?«

»Heinz.«

»Is das so 'n kleiner Dicker?«

»Unsinn! Sie haben ihn ja vorhin beim Zeugenaufruf gesehen.«

»Is mir nich aufjefallen.«

»Also Sie behaupten, den Herrn heute zum ersten Male gesehen zu haben?«

Der Angeklagte Gregor Haase wandte sich zum Publikum und sagte mit lauter Stimme:

»Haben Sie jehört, daß ich das behauptet habe?«

»Drehen Sie sich um und reden Sie zu mir!« fuhr ihn der Vorsitzende an. »Das Publikum ist nicht für Sie da.«

»Da irren Sie sich! Die kommen nur wejen mir.«

»Sie geben also zu, dem Zeugen Reichenbach schon mal begegnet zu sein.«

»Wo soll'n das jewesen sein?«

»Auch das kann ich Ihnen sagen: im Schmetterling, einer Destille im Norden Berlins.«

»Is mir bekannt.«

»Ihr Stammlokal.«

»Stimmt. – Woher wissen Sie 'n das?«

»Sie haben an mich keine Fragen zu stellen.«

»Und Sie dürfen mir nicht in der Verteidigung beschränken.«

»Antworten Sie!«

»Im Schmetterling verkehrt allerhand. Möglich, daß der Herr da auch verkehrt – und daß ich 'n da auch mal jesehen habe.«

»Sie haben an einem Tisch mit ihm gesessen.«

»Das is mir nicht aufjefallen.«

»Sie haben sich mit ihm unterhalten.«

»Wovon 'n?«

»Sie haben ihn ausgefragt.«

»Mag sein. Ick bin neugierig.«

»Der Zeuge Reichenbach hat Sie mit Geld unterstützt.«

»Das wär mir aufjefallen.«

»Er hat Sie und Ihre Freunde freigehalten und Sie haben ihm dann von Ihrem Leben erzählt.«

»Was is 'n da zu erzählen?«

»Von Ihren Einbrüchen.«

Gregor Haase wehrte mit beiden Händen ab.

»Hat der mir etwa verdächtigt? – Dann, Herr Präsident, will ich Ihnen sajen, daß der Mann die Nacht furchtbar aufjerejt war. Da hab' ich zu meinem Freunde Franz jesajt: ›Franzi saj ich, seh dir den an! Die Sore is heiß. Damit man dir da nich verdächtigt.‹ – Franz chauffiert nämlich – aber den Führerschein haben se ihn entzogen. – ›Nimm den Wajen an dir.‹ – Na? hab' ich nich recht jehabt? Wo wär'n der Wajen heute, wenn Franz und ich ihn nich vorüberjehend an sich jenommen hätten.«

»Sie nahmen also an, er sei gestohlen?«

»Wie sol'n so 'n Mann zu so 'm Auto kommen? ›Na,‹ sajt ich zu meine Freund Franz: ›Franz!‹ saj ich – zumal daß es uns grade dreckig jing – ›wenn des Auto jestohlen is, denn jehört es ihm nich, denn tun wir 'n jutes Werk, wenn wir 's an uns bringen, um es jelejentlich dem rechtmäßigen Besitzer wieder zuzuführen.‹«

Dieser Auslegung folgte stürmische Heiterkeit, in die selbst die betagten Beisitzer einstimmten, so daß der Vorsitzende taktvoll genug war, von Erteilung einer Rüge Abstand zu nehmen.

»Und weshalb haben Sie diese edle Absicht dann nicht ausgeführt?« fragte der Vorsitzende.

»Konnten wir denn? Hat man uns denn Zeit dazu jelassen? Daß es uns erst in die Nase kitzelte, mit dem Auto erst mal 'n paar Ausflüje zu machen, wo unsereins so selten ins Freie kommt – na, is doch wahr, die meiste Zeit versitzen wer doch – na, was is 'n dabei? Bei uns war das Auto ja in jute Hände. – Und wenn der Mann denn so kleinlich war, hätten wir das Jeld for die Benutzung vom Finderlohn abjezojen.«

»Und das sollen wir Ihnen glauben?«

Gregor Haase zog die Schultern hoch und machte eine Handbewegung, die soviel hieß wie: er stelle anheim.

Als der Vorsitzende ihn aber fragte:

»Warum haben Sie dann die Nummer an dem Auto geändert?« erwiderte er:

»Es war uns jenierlich – wenn wir auch nicht die Diebe waren – mit einem jestohlenen Auto rumzufahren.«

»Und warum haben Sie die Brieftasche weggeworfen?«

»Is uns ja nich einjefallen. Wir verjreifen uns doch nich an fremde Sachen. Sehn Se mal, das Jeld war jestohlen, des stand fest – denn wie soll 'n so 'n Mann plötzlich zu das viele Jeld kommen? Das haben wir also in Verwahrung jenommen. Aber 'ne Brieftasche, die hat schließlich jeder. Die konnte auch ihm jehören. Also haben wir se ihm jelassen.«

»Wie erklären Sie sich dann, daß die Tasche ein paar Stunden später in der Nähe des Schmetterlings gefunden worden ist?«

»Sehn Se mal an! Denn war se also doch jeklaut und er hat se wegjeschmissen.«

»Und die Perle, die haben Sie Ihrer Braut, der Angeklagten Sommer, gegeben – auch zur Aufbewahrung, was?«

»Stimmt! So 'n Mädel paßt besser auf so was auf. Unsereins kommt mal mit 'm andern Mädel zusammen – na, so was kommt vor – das leugne ich ja nich – man trinkt, man wird weich.«

»Und der Herr Reichenbach hat sich das alles so ganz ruhig abnehmen lassen – das Auto, das Geld, die Perle?«

Der Angeklagte Haase überlegte einen Augenblick und sagte dann:

»Der hatte wohl einen sitzen.«

»Das heißt, Sie hatten ihm einen versetzt, so daß er bewußtlos zusammenbrach.«

»Warum sollt ich 'n das jetan haben?«

»Antworten Sie nicht immer mit einer Frage,« fuhr ihn der Vorsitzende ärgerlich an. »Um ihm die Schlüssel zu stehlen, nachdem Sie sich zuvor genau über alles orientiert hatten.«

»Fangen Sie auch mit die Schlüssel an? Damit hat mir der Untersuchungsrichter schon acht Tage verrückt jemacht. Sowie ich abends einschlafe, träume ich von dem Jeldschrank mit die fünfmalhunderttausend Em. Ich kann Ihnen sajen, was ich in die acht letzten Nächte, die ich in Untersuchung bin, für 'n Jeld ausjejeben habe! Im Schlaf natürlich. Morgens, wenn ich aufwache, brummt mir immer noch der Schädel. Soviel Schnaps und Bier, wie ich pro Nacht in den acht Tagen versoffen habe, sauf ich, wenn ich mal Jlück habe und draußen bin, nich in drei Monate.«

»Sie sprechen aus dem Schlaf.«

»Is mir nich aufjefallen.«

»Sie haben vor drei Nächten im Schlaf eine genaue Schilderung des Diebstahls gegeben. Der Wärter hat es mitangehört.«

»Das wundert mir ja nich – wenn eim das jeden Tag erzählt wird – schließlich setzt sich so was ins Jehirn fest. – Noch acht Tage so – und ich red' mir ein, ich war 's wirklich.«

»Warum in acht Tagen? Gestehen Sie den Diebstahl doch jetzt. Sie sind ja sowieso überführt.«

»Wodurch 'n?«

»Durch Ihr eigenes Geständnis.«

»Das is mir ja nich aufjefallen.«

»Daß Sie sich das Auto, das Geld und die Perle des Herrn Reichenbach angeeignet haben, geben Sie zu. Auch, daß Herr Reichenbach sich in der fraglichen Nacht in einem bewußtlosen Zustand befunden hat. Lassen wir es dabei zunächst mal unerörtert, ob Sie ihn in diesen Zustand versetzt haben oder nicht.«

»Wie soll'n wir 'n das jemacht haben?«

»Nehmen Sie an, er selbst hätte diesen Zustand verschuldet – jedenfalls war er in dieser Verfassung doch außerstande, sich so ruhig, daß weder Wächter noch Hunde ihn bemerkten, in die Bank und in sein Bureau zu begeben.«

»Der war so knülle. Den hätten se jehört.«

»Demnach kommt Herr Reichenbach als Täter nicht in Frage.«

»In die Nacht nich.«

»Es handelt sich aber nur um diese Nacht. Und daß Sie erwiesenermaßen und nach eigenem Geständnis in dieser Nacht mit Herrn Reichenbach zusammen waren, er der einzige ist, der über die sehr komplizierten Schlüssel verfügt, so konnten nur Sie und die beiden anderen Angeklagten in den Besitz der Schlüssel gelangen, die Tat ausführen und dem vermutlich noch immer bewußtlosen Herrn Reichenbach nach verübtem Diebstahl die Schlüssel wieder zustecken.«

»Stimmt!«

»Sie geben den Diebstahl also zu,« rief der Vorsitzende und atmete auf . . .

»Wieso?« fragte Gregor Haase.

»Sie haben doch eben selbst erklärt . . .«

»Daß, wenn des so is, wie Sie sajen, daß es denn so sein muß.«

»Es gibt keine andere Möglichkeit.«

»Ich wüßte schon eine. Wie wir mit 'm Auto weg sind, kann ihm ja sonst wer die Schlüssel wegjenommen und die Bank ausjeplündert haben. Wie se das jemacht haben – des rauszuposamentieren is nu wieder Ihre Aufjabe.«

»Und die anderen, die wußten dann auch gleich, daß die Schlüssel in die Bank, ins Bureau und zu dem Geldschrank führten?«

»Wieso soll'n wir denn das jewußt haben?«

»Weil Sie mit dem Zeugen Reichenbach verkehrt haben.«

»Ach nee! Davon wußt ich ja janischt.«

»Vorhin haben Sie es doch schon halb zugegeben.«

»Man will doch nich zu alles nein sajen!«

»Sie bestreiten das also?«

»Natürlich! – So 'n Mann fühlt sich sonst am Ende noch blamiert.«

»Also das ist der Grund. – Wenn Sie nicht glauben würden, Rücksicht nehmen zu müssen, würden Sie 's zu geben?«

»Wenn ich Ihnen damit 'n besonderes Verjnüjen bereite.«

»Sie wissen, scheint's, nicht, wie Sie sich vor Gericht zu benehmen haben,« fuhr ihn der Vorsitzende an.

»Ich verhalt mir immer abwartend – und bin bisher janz jut dabei jefahren.«

»Das ist ja auch schon wieder ein halbes Geständnis.«

»Aber nur 'n halbes, Herr Direktor.«

Der Vorsitzende wandte sich zu den beiden anderen Angeklagten, aus denen er auch nicht mehr und nichts anderes herausbrachte als aus Gregor Haase. Die Angeklagte Else Sommer, die Geliebte Gregors, will den Zeugen Reichenbach erst im Lokal und später sinnlos betrunken auf der Straße liegend wieder getroffen haben. Sie behauptet, ihm aufgeholfen und zu einem Auto gebracht zu haben. Die Prostituierte Frieda Grau bekundet im wesentlichen dasselbe. Sie hat im Lokal in der Nähe des Apparates gestanden und deutlich gehört, wie der Zeuge Reichenbach hineinrief: »Ihr Wunsch ist erfüllt. Weiter wollte ich nichts sagen. Gute Nacht!«

Alle fünf Angeklagten bestritten, mit dem Zeugen Reichenbach vor dieser Nacht zusammengetroffen zu sein oder ihn auch nur gesehen zu haben.

Durch eine Reihe von Zeugen wurde sodann festgestellt, daß das Verbrechen nur vor jemandem begangen sein konnte, der sich im Besitz sämtlicher hierzu erforderlichen Schlüssel befand. Es waren die Sicherheitsschlüssel zum Hauseingang für die Direktoren, zur Etagentür, zu den beiden Bureaus und schließlich zum Geldschrank selbst. Diese sämtlichen Schlüssel besaß aber nur Heinz Reichenbach. – Auch die vernommenen Wächter erklärten, daß ein gewaltsames Öffnen der Schlösser, selbst für den Fachmann schwierig, unter allen Umständen soviel Zeit erfordert und soviel Lärm verursacht hätte, daß sie es hätten hören müssen. Auch wies kein Schloß auch nur die geringste Beschädigung auf.

Es blieb also kein Zweifel, daß zu dem Diebstahl die Schlüssel Heinz Reichenbachs benutzt waren.

Das war der Stand des Prozesses nach den ersten Verhandlungsstunden. Die Schwüle im Saal war unerträglich geworden. Der Dunst, der von erregten Menschen ausströmt, die stundenlang eng aneinander sitzen, nicht reden dürfen und sich kaum bewegen können, der Duft feinster Parfüms, der sich mit dem Geruch billigster Sorten mischte – alles das schuf eine Atmosphäre, in der man kaum noch atmen konnte. Es war daher nicht ganz sinnlos, wenn ein eleganter Zuschauer zu einer Dame sagte:

»Beim Rennen hat man wenigstens frische Luft – aber hier!«

Es war wirklich im Publikum eine Stimmung wie auf der Haupttribüne während eines großen Rennens, dessen Verlauf man mit höchster Spannung verfolgt. Nur galt es hier nicht den Sieger, sondern den Besiegten – wenigstens im Sinne des Gesetzes – festzustellen. In den Augen des Publikums war derjenige, der diesen raffinierten und gewagten Diebstahl ausgeführt hatte, ein Held. Nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung schieden Reichenbachs Sekretär und Direktor Urbach als Täter aus. Sie interessierten nicht mehr und gehörten zu dem abgeschlagenen Felde der »ferner liefen«. Aber allen schien es, als wenn die Rolle, die Heinz Reichenbach in diesem Schauspiel spielte, noch nicht genügend geklärt sei. Zweifelte man auch kaum daran, daß die Ganoven auf der Anklagebank die Täter waren, so rechnete man doch noch immer mit der Möglichkeit einer Überraschung, die von nirgends anders kommen konnte als von Reichenbach – dem großen Fragezeichen in diesem seltsamen Prozeß. –

Obgleich Frau Hedda sich vorgenommen hatte, dem Prozeß fernzubleiben, hatte sie es doch nicht zu Haus gehalten. Eine Karte hatte sie sich auf alle Fälle verschafft und war am Morgen des Prozeßtages nach Moabit gefahren. Ihr Wunsch war es, nicht gesehen zu werden. Sie hatte es daher so eingerichtet, daß sie hinter ein paar Damen und Herren zu sitzen kam, die sich so breit machten und so auffallend benahmen, als befänden sie sich bei einer öffentlichen Schaustellung. Als beim Aufruf der Zeugen Heinz Reichenbach in den Saal trat, schloß sie unwillkürlich die Augen. Nach dem Abtritt der Zeugen sah sie unter den Zuschauern, etwa sechs Reihen vor sich, Karl Morener. Er saß so, daß sie ihn beobachten konnte, ohne Gefahr zu laufen, von ihm gesehen zu werden. Bei jeder Wendung, die Reichenbach betraf, sah sie ihn an und hatte dann das Gefühl, als wenn er zusammenzuckte. Auch ihr ging es wie den anderen: sie spürte deutlich, daß trotz scheinbar lückenloser Indizienbeweise noch immer eine Gefahr für Reichenbach bestand, und daß sie die einzige war, die im gegebenen Augenblick für ihn zeugen konnte.

Als der Vorsitzende die Verhandlung jetzt unterbrach und der Saal für zehn Minuten geräumt wurde, dachte sie nicht mehr daran, unerkannt zu bleiben, sondern eilte als eine der ersten auf den Flur und suchte Reichenbach. Sie stieß auf ein paar Dutzend Bekannte, deren Gruß sie kaum erwiderte und lief, in dem Bestreben, ihnen auszuweichen, Karl Morener, der sie schon von weitem sah und auf sie zusteuerte, in die Arme.

»Wo ist Reichenbach?« fragte sie – ohne seinen Gruß abzuwarten.

»Was willst du von ihm?«

»Ihn der Pflicht entbinden, irgend etwas mir zuliebe zu tun.«

»Damit hilfst du ihm nicht, sondern reißt dich und mich hinein.«

»Bist du denn von der Schuld der Angeklagten überzeugt?«

»Sie geben es ja zu.«

»Aber nicht den Bankdiebstahl.«

»Sie sind so gut wie überführt.«

»Du glaubst – daß sie . . .«

»Nein!«

»Wer denn?«

»Das – weiß ich nicht. – Darüber denke ich auch nicht nach. – Hauptsache, man bringt das Ganze erst einmal hinter sich. Hinterher, wenn sich alles beruhigt hat, kann man in Ruhe weiter sehen.«

»Ich wünschte, der Tag wäre erst zu Ende.«

»Wo du doch sonst so mutig bist.«

»Ich hasse alles Krumme.«

Die Türen wurden wieder geöffnet. Die Zuschauer drängten in den Saal. Frau Hedda und Karl Morener erwischten gerade noch die äußersten Plätze auf einer der letzten Reihe.


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