Artur Landsberger
Bankhaus Reichenbach
Artur Landsberger

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23.

Frau Reichenbach hatte unter ihren und ihres Mannes Verwandten eine ganze Reihe von Leuten, die selbst einflußreiche Posten innehatten oder zum mindesten Beziehungen besaßen, die es ihnen ermöglichten, unter Umgehung eines langwierigen, wenig aussichtsreichen Instanzenweges die zuständigen Stellen für den Fall Reichenbach zu interessieren. Aber auch diese Stellen wußten bei aller Geneigtheit zu helfen, angesichts des rechtskräftigen Urteils keinen andern Weg, als den Verurteilten auf seinen geistigen Zustand hin untersuchen zu lassen und auf Grund des Ergebnisses dieser Untersuchung oder aber auf Grund neuer wesentlicher Tatsachen die Wiederaufnahme zu betreiben.

Beide Wege erforderten nach Karl Moreners Ansicht viel zuviel Zeit. Als ihn Frau Reichenbach daraufhin fragte: »Wissen Sie Besseres?« erwiderte er:

»Ja! Die Belohnung verdoppeln – oder, was vielleicht ein noch besserer Gedanke ist: man verspricht dem Täter, wenn er sich stellt, außer einem ersten Verteidiger hunderttausend Mark, zahlbar an dem Tage, an dem er seine Strafe verbüßt hat.«

»Daraufhin werden sich vermutlich ein paar Dutzend Leute melden, die nichts zu verlieren haben – ob sich aber der Richtige darunter befinden wird, ist zweifelhaft.«

»Der Staatsanwalt wird sich schon den geeignetsten heraussuchen.«

»Wozu? – Er würde sich, nachdem er meinen Neffen angeblich überführt hat, damit nur selbst desavouieren. Ihr Gedanke ist gut, aber er kommt zu spät. Das hätte man gleich zu Beginn tun sollen.«

Karl Morener sah das ein, meinte aber, daß man zu einem Ergebnis nur kommen werde, wenn man die allgemeine Erregung über den sensationellen Fall ausnutze. Im Augenblick sei jedermann an der Affäre interessiert und schon aus Sensationslust geneigt, in irgendeiner Form eine Rolle darin zu spielen. In ein paar Wochen aber werde man sich nur noch dunkel an den Prozeß erinnern, andere Vorgänge werden das Bild verwischt, das Interesse vermindert haben. Daher müsse man vor allem darauf bedacht sein, die jetzige Stimmung zu erhalten, aus der heraus am ehesten eine Klärung zu erwarten sei. Er selbst veranlaßte die Direktoren Urbach und Meßter, noch am selben Tage an den Anschlagsäulen und in den Tageszeitungen folgenden Aufruf zu veröffentlichen:

100 000 Mark Belohnung

Der Prokurist unseres Bankhauses, Herr Heinz Reichenbach, ist wegen schweren Diebstahls von der Strafkammer des Landgerichts I zu einem Jahr Zuchthaus und drei Jahren Ehrverlust verurteilt worden. Wir, die wir Herrn Reichenbach seit seiner frühesten Jugend als einen der zuverlässigsten und ehrenhaftesten Männer kennen, wollen und können an seine Schuld nicht glauben, nehmen vielmehr an, daß er das Opfer einer Reihe unglücklicher, ihn scheinbar belastender Zufälle geworden ist. Die Reinheit des Namens Reichenbach, über hundertfünfzig Jahre lang der Stolz unseres Hauses, steht uns höher als der wirtschaftliche Vorteil. Wir setzen daher für die Nennung des Täters, gleichviel, ob sie die Wiederbeschaffung der gestohlenen Devisen zur Folge hat oder nicht, eine Belohnung von hunderttausend Mark aus. Es genügt die Nennung des Täters, sofern diese mit untrüglichen Beweisen von dessen Schuld belegt wird. Auch wird auf Wunsch die Geheimhaltung des Angebers zugesichert.

Gebrüder Reichenbach & Co.

Gleich nach Erscheinen dieses Aufrufs fuhr in Schloß Reichenbach ein Auto vor, aus dem hastig ein junges Mädchen sprang. Es war niemand anders als Hanni Reichenbach.

Frau Hedda hatte Tag und Nacht darüber nachgedacht, wie man dem unglücklichen Reichenbach helfen könne. Sie sagte sich immer wieder, daß es nur eine Möglichkeit gab – Karl Moreners Geständnis. Aber irgendeine Hemmung empfand sie bei dem Gedanken.

Nicht aus Furcht, kompromittiert zu werden, wenn man forschte, zu welchem Zweck Karl die Summe benötigt hatte. Sie war in eine Situation geraten, in der jeder Schritt, sie zu entwirren, ein Vabanquespiel war. Eine Fortdauer dieser Spannung aber ertrugen ihre Nerven nicht. Wie einfach wäre jetzt alles, wenn sie Karl liebte. Sie würde vor die Richter treten und erklären: »Er hat es für mich getan.« Und dann würde sie ihnen erzählen, wie der alte Morener zwischen ihre Liebe getreten war und sie auseinandergerissen hatte. Wie er sie zwang, seine Frau zu werden, und drohte, andernfalls Karl aus der Bank zu jagen. Wie sie versucht hatten, gegen ihre Liebe anzukämpfen. Anfangs gelang es. Aber dann, als man den Alten geisteskrank in eine Anstalt brachte, ohne zu wissen, ob er je genesen und heimkehren werde, da in der großen Einsamkeit geschah es, daß die Liebe sich stärker als die Vernunft erwies. Und von der Liebe zur Sünde war nur ein Schritt. – Das alles würde sie, zündend und überzeugend, den Richtern erzählen. Und die würden es anhören wie einen Roman, fühlen und verstehen – und milde urteilen. Wenn – ja, wenn sie Karl lieben würde.

Was sie an ihn fesselte, war weit von Liebe entfernt, war viel eher ein Opfer, das sie bringen mußte, weil ihre Leidenschaft sie hatte schwach werden lassen. Und wenn sie sich schließlich auch überwunden und es verstanden hatte, ihn fernzuhalten, so ließ sich doch nicht aus der Welt schaffen, was geschehen war. Sie war schuldig – nicht er. Gab sie sich aber Rechenschaft über ihre eigenen Gefühle, so führten sie die zu Heinz Reichenbach. – Zu alledem quälte sie ständig der Gedanke an Heinrich Morener, dessen Genesung sie jetzt sehnsüchtiger als je herbeisehnte. Denn sie war sich klar, daß nur ein offenes Geständnis sie aus diesem Labyrinth der Geschehnisse und Gefühle herausbringen konnte. Wem anders als ihm konnte sie sich erschließen? Ihm allein schuldete sie Rechenschaft. Gegen ihn hatte sie sich vergangen. Er war klüger als alle anderen. Er liebte sie und verstand, was jene aus Eigenliebe nur von sich aus beurteilen konnten. In dieser Bedrängnis erfaßte sie zum ersten Male Sehnsucht nach ihrem Mann, und sie erwog ernstlich, ob sie ihn aufsuchen und selbst gegen den Wunsch der Ärzte eine Unterredung mit ihm herbeiführen sollte. Egoist, wie alle Menschen, belog sie sich, was sie sonst nicht tat, und redete sich in die Vorstellung hinein, daß die Schwere und das Ungewöhnliche der Ereignisse ihren Mann, von dem man bisher ohne Erfolg jede Erregung ferngehalten hatte, wie ein gewaltiger Schlag treffen, aus seinen krankhaften Vorstellungen reißen und in die Welt der Tatsachen zurückführen werde.

Dieser Gedanke vertiefte sich in ihr um so mehr, je deutlicher ihr die Aussichtslosigkeit vor Augen trat, eine Lösung zu finden.

Der Diener brachte ihr einen Brief und meldete zugleich den Besuch Fräulein Reichenbachs.

Frau Hedda hatte gerade noch Zeit, den Brief zu überfliegen, als Hanni ins Zimmer trat.

»Ich bin froh, daß Sie mich empfangen,« sagte Hanni.

Frau Hedda schob den Brief in die Tasche, die neben ihr auf dem Tische lag.

»Sie haben viel durchzumachen – mehr noch als wir – obgleich Heinz Reichenbach unser Verwandter ist – und unsern Namen trägt.«

»Auch den der Bank meines Mannes,« ergänzte Frau Hedda, die sich jetzt wieder in der Gewalt hatte. »Aber, um mir Ihr Beileid auszudrücken, haben Sie sich vermutlich nicht den weiten Weg zu mir gemacht. Dazu war genügend Gelegenheit in ruhigeren Zeiten.«

»Vor der Katastrophe meinen Sie?«

»Ich weiß nicht, was Sie die Katastrophe nennen.«

»Die Verurteilung meines Vetters. – Oder ist sie das in Ihren Augen etwa nicht?«

»Ich fand, was vorherging, genau so furchtbar. Die erste Verhaftung damals hat mich stärker berührt als die Verurteilung jetzt.«

»Es war der erste Schreck.«

»Es wirkte auf mich, als wenn jemand plötzlich mit einer Axt auf einen meiner gesundesten Bäume einhaut.«

»Auf einen Ihrer Bäume,« wiederholte Hanni und sah Frau Hedda erstaunt an.

»Ja! Der erste Hieb hat mich erschüttert. Daß der Baum schließlich fiel, als Axthieb auf Axthieb folgte, sah ich voraus.«

»Und weshalb – wenn es einer Ihrer Bäume war – haben Sie geduldet, daß man immer weiter auf ihn einhieb?«

Frau Hedda sah erschrocken zu Hanni auf, die, ohne zu sprechen, nur durch den Ausdruck ihres Blickes die Frage wiederholte.

Frau Hedda bewegte leicht den Kopf, holte tief Atem und sagte mit einem schmerzhaften Lächeln um den Mund:

»Die Frage ist leicht gestellt – aber schwer beantwortet.«

»Vor Gericht vielleicht. Da wird man Sie schwer verstehen – aber ich glaube, sie gefunden zu haben – die tiefen, inneren Zusammenhänge.«

»Und wenn Ihnen das wirklich gelungen wäre,« erwiderte Frau Hedda völlig beherrscht – »wissen Sie denn auch eine Lösung? – Wenn es damit getan wäre, daß man die Zusammenhänge aufdeckt – ich hätte es längst getan – auch auf die Gefahr hin, unter den Trümmern begraben zu werden.«

»Sie geben zu . . .«

»Ich suche diese Aussprache – wenn vielleicht auch nicht gerade mit Ihnen.«

»Vertrauen Sie sich mir an! – vorausgesetzt, daß Sie das gleiche wollen wie ich.«

»Mit dieser Einschränkung fällt es mir schwer. – Ich müßte doch zum mindesten wissen, was Sie wollen.«

»Das Rechte.«

»Das glauben wir alle – aber wir halten immer das für das Rechte, was wir uns wünschen.«

»Ich wünsche für mich nichts mehr.«

»Was hat Sie derart enttäuscht, daß Sie so sprechen?«

»Sie!«

»Ich – habe – Sie – enttäuscht? – Ja, was gab Ihnen Anlaß, an mich zu glauben?«

»Daß mein Vetter Sie liebte.«

Frau Hedda sprang auf und fragte:

»Tut er das?«

»Wissen Sie das nicht? – Muß ich Ihnen das erst sagen? – Aber Sie! Sie lieben ihn nicht.«

»Was gibt Ihnen ein Recht, so zu mir zu sprechen?«

»Nichts – was Sie anerkennen werden. Und ich weiß, was ich tue, ist ungewöhnlich. Aber ist nicht alles ungewöhnlich, was hier geschieht, seitdem wir von hier fort mußten?«

»Sie verzeihen – ich vergaß – ich sollte Sie mit mehr Rücksicht behandeln.«

»Ich will keine Schonung, nur Offenheit! – Ich weiß, Sie sind formell im Recht. Sie können sich meine Sprache verbitten, können mir die Tür weisen . . .«

»Sie haben hier soviel Rechte wie ich – mehr vielleicht. Denn, wenn Heinrich Morener jetzt vor uns träte und erführe, was sich ereignet hat – wer weiß, ob er dann nicht mir die Tür weisen würde.«

»Er ist aber nicht da. – Und wenn er käme – ich würde es ihm nicht sagen.«

»Aber ich! – Nicht, weil auch ich von Ihnen keine Schonung fordere, sondern weil ich Klarheit brauche.«

»Das ist auch der Grund, aus dem ich zu Ihnen komme. – Glauben Sie mir: ich habe Heinz geliebt. – Ich liebe ihn nicht mehr. Aber er ist unschuldig und trägt unsern Namen. Ist das nicht Grund genug, um Sie zu bitten, ihn zu retten?«

»Und – weshalb – lieben Sie ihn nicht mehr?«

»Ich weiß es selbst nicht. Aber ich glaube, weil er mich enttäuscht hat.«

»Ihre Liebe, meinen Sie, hat er enttäuscht?«

»Sie haben recht! Nicht mich, sondern meine Liebe. Ich habe, solange ich denken kann, geglaubt, daß er mich liebt. Wenn Sie mich heute fragen, mit welchem Recht ich das glaubte, so weiß ich keine Antwort. Es mußte so sein, dachte ich – und so kam es wohl, daß ich mir schließlich einredete, auch ihn zu lieben. Es war wie etwas Selbstverständliches. Da wir von frühester Jugend an zusammen waren und es immer hieß: »Der Heinz und die Hanni«, was konnte es, da er nicht mein Bruder war, denn anders sein als Liebe – dachte ich – obschon ich noch gar nicht recht wußte, was Liebe ist.«

»Und seit wann – wissen Sie es?«

Hanni errötete und erwiderte:

»Es ist sehr dumm, was ich jetzt sage – aber es ist doch so: als ich entdeckte, daß Heinz Sie liebt . . .«

»Wie kommen Sie bloß darauf?«

»Die Kuanyin hat es mir verraten.«

Frau Hedda zuckte zusammen, und Hanni fuhr fort:

»Und wenn Mamas Leben, die ihm doch eine zweite Mutter war, davon abgehangen hätte – er hätte die Göttin nicht geopfert.«

»Sie sprachen davon,« sagte Hedda, um abzulenken, »daß Sie zu entdecken glaubten, sich in Heinz getäuscht zu haben.«

»Richtig! – Also da habe ich zum ersten Male darüber nachgedacht, was mich eigentlich die ganzen Jahre über zu dem Glauben berechtigte, daß wir ineinander verliebt seien.«

»Und das Ergebnis?«

»Eine furchtbare Entdeckung!«

»Daß Sie sich geirrt haben – nicht nur in bezug auf ihn.«

Hanni nickte und Frau Hedda fuhr fort:

»Sondern auch was Ihre Person betraf.«

»Auch das ist richtig – aber es ist nicht alles.«

»Was denn noch?«

»Da Sie es wissen müssen, um mich zu verstehen – sonst wäre ich nicht hier – sondern hätte selbst gehandelt.«

»Sie spannen mich auf die Folter.«

»Ich weiß alles.«

»Sie geben mir Rätsel auf.«

»Retten Sie Karl Morener!«

Frau Hedda wankte ein paar Schritte zurück und suchte Halt an einem der Sessel.

»Fliehen Sie mit ihm!« drängte Hanni.

Frau Hedda zog den Brief aus ihrem Täschchen, reichte ihn Hanni und sagte:

»Lesen Sie. Ich erhielt ihn unmittelbar bevor Sie kamen.« Hanni entfaltete den Brief und las:

»Liebe Hedda, so günstig die Nachrichten über das Befinden deines Mannes aus Schönegg lauten, – wir können seine Genesung nicht abwarten, da die Ereignisse sich hier auf das Äußerste zugespitzt haben. Ich habe infolgedessen alles zu unserer Reise vorbereitet, die im Interesse Heinz Reichenbachs deutlich den Charakter einer Flucht haben muß. Mein Freund Dr. H., der Besitzer der Flug-Union A. G. stellt mir ein Flugzeug zur Verfügung. Er sieht darin kein Entgegenkommen, sondern hofft im Gegenteil auf eine große Propaganda für den Fall, daß der Flug gelingt. Du weißt, ich bin ein erprobter Flieger, du kannst dich also getrost meiner Steuerung anvertrauen. Im übrigen: selbst wenn uns etwas zustößt – und das kann nur der Tod sein – würde es im Vergleich zu dem Leben, das uns hier erwartet, eine Erlösung sein. Aber wir wollen den Kopf nicht hängen lassen und damit rechnen, daß alles so glückt, wie wir es uns wünschen. Unsere Fahrt wird als Flucht – und daher von denen, die mit Recht und Eifer Heinz Reichenbachs Rehabilitation betreiben, als Geständnis betrachtet und verwertet werden. Das Land, in dem wir versuchen werden, ein neues Leben zu beginnen, liefert wegen dieses Deliktes nicht aus. Das Bewußtsein, auf diese Weise einem zweifellos Unschuldigen und wertvollen Menschen zu helfen, wird mir die Last, als Verbrecher zu gelten, erträglich machen. Leicht wird das Leben nicht sein, das uns erwartet, denn es gelang mir nicht, wie ich hoffte und dir wohl auch andeutete, die Mittel aufzubringen, die uns für die erste Zeit wenigstens vor Sorgen geschützt hätten. Ich bin mir aber meiner Pflicht dir gegenüber bewußt und werde daher alles tun, um auch dir dies Opfer erträglich zu machen.

Karl.«

Hanni war erschüttert. Sie stand wie tot da und wagte nicht, aufzusehen.

»Woher wußten Sie, daß wir die Absicht hatten?« fragte Frau Hedda.

Hanni schüttelte den Kopf und sagte tonlos:

»Ich wußte nichts.« – Und nach einer Weile fuhr sie fort:

»Aber nun, wo ich es weiß« – sie ließ die Hand, in dem sie den Brief hielt, sinken und sah Frau Hedda traurig an.

»Was soll ich tun?« fragte Hedda.

»Das fragen Sie mich? – Ich sagte es Ihnen ja – und dann: es steht ja auch in dem Brief . . .« – Sie stutzte plötzlich, las den Brief noch einmal und sagte – in einem Ton, der nicht ganz so hoffnungslos klang: »allerdings – von Liebe steht nichts darin.«

»Das ist es ja!« erwiderte Frau Hedda. »Mir sagt mein Gewissen – oder wie sonst Sie es nennen wollen, daß ich nach allem, was vorgefallen war, hier nicht bleiben kann. Karl, der glaubte, ohne mich nicht leben zu können, beschwor mich, mit ihm zu fliehen, lange vor diesem Bankraub – ich gab ihm mein Wort. Geliebt habe ich ihn nie.«

Hanni sah zu ihr auf. Am liebsten hätte sie gebeten: »Sagen Sie das noch einmal!« – Aber sie beherrschte sich – und Frau Hedda fuhr fort:

»Ich hielt mich an mein Wort gebunden – bis eben, kurz bevor Sie eintrafen, dieser Brief kam – in dem, was auch Sie herauslesen, deutlich steht, daß er mich nicht mehr liebt – sondern nur aus Pflicht handelt.«

»Und was werden Sie tun?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er muß fort!« drängte Hanni. – »Wenn nicht mit Ihnen, dann mit . . .« sie sprach es nicht aus, aber Frau Hedda rief erschrocken:

»Hanni! Sie? – Ja, – wie – ist das möglich?«

Hanni senkte den Kopf und sagte:

»Ich weiß es selber nicht.«

»Und seit wann – lieben Sie ihn?«

Hanni zog die Schultern hoch und erwiderte:

»Auch das – weiß – ich nicht: Jedenfalls seit einer Stunde ist es mir klar.«

»Seit einer Stunde? – Ja, wo waren Sie, bevor Sie zu mir kamen?«

»Bei Gebrüder Reichenbach.«

»In der Bank – wen haben Sie da aufgesucht?«

»Ihn.«

»Um was zu tun?«

»Ich habe ihm einen Brief gegeben.«

»Den Sie geschrieben hatten?«

»Ja!«

»An ihn?«

»An die Bank.«

»Und was steht in diesem Brief?«

»Sein Todesurteil.«

»Kind, Sie sind verwirrt.«

»Ich wünschte, ich wäre es – und alles wäre nur ein Traum!«

»Ich will ja nicht in Sie dringen – aber, was immer Sie ihm mitzuteilen hatten, konnten Sie ihm doch auch mündlich sagen.«

»Das nicht.«

»Sie haben ihm ihre Liebe gestanden?«

»Ich sagte ja schon, daß ich das erst wußte, als es zu spät war.«

»Zu spät?«

»Ich hatte ihm den Brief gegeben, war schon aus der Bank heraus, saß wieder im Auto – da kam ich zur Besinnung und lief zurück. Er saß – kreidebleich – den Brief in der Hand – er hatte ihn gelesen. – Ich forderte den Brief zurück. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Nein!« – »Es ist mein Brief!« rief ich. – Er erwiderte: »Nun nicht mehr!« – stand auf und reichte mir die Hand. – Ich weinte, bettelte – ich versuchte, ihm den Brief zu entreißen – er blieb fest, schüttelte den Kopf und sagte: »Nein!« – Ich ergriff seine Hände, küßte sie und lief schluchzend hinaus – stürzte mich in ein Auto – die Fahrt hierher beruhigte mich ein wenig – ich wußte, wenn ihn einer retten kann, sind Sie es!«

Frau Hedda hatte sie mit weitgeöffneten Augen angehört. Als Hanni geendet hatte, sagte sie – und es klang verächtlich:

»Jetzt beginne ich, zu begreifen.«

»Ich weiß nicht, ob ich es Heinz wegen tat – aber an ihn dachte ich kaum – ich hatte das Gefühl, daß von Karl aus etwas geschehen müßte.«

Frau Hedda trat an Hanni heran, legte ihren Arm um sie und sagte zärtlich:

»Sie taten es, weil Sie ihn lieben. Aber es wird Menschen geben, die es anders deuten.«

»Lassen Sie die Leute! Die mögen denken, was sie wollen. Aber was wird aus ihm?«

»Sie glauben, er wird den Brief weitergeben?«

»Ganz bestimmt. Er ist an die Direktion der Bank, zu Händen des Herrn Karl Morener.«

»Und was steht in dem Brief?«

»Ich kann ihn Wort für Wort hersagen. Hören Sie:

›Ihr Aufruf veranlaßt mich, Ihnen den Täter zu nennen, der in der Nacht vom achten zum neunten März den Geldschrank Ihrer Bank um Devisen im Werte von fünfhunderttausend Mark beraubt hat. Es ist Ihr Prokurist Karl Morener. Er hatte diese Summe verspekuliert und mußte die Schuld decken. Seine Versuche, Geld aufzutreiben, blieben ohne Erfolg. Da er wußte, daß der Verdacht auf Heinz Reichenbach fallen mußte, hat er seine Tante veranlaßt, Reichenbach für diesen Abend zu sich zu bitten. Heinz Reichenbach ist ahnungslos in die Falle gegangen. Er ist der Einladung gefolgt. Die Dame verstand es, Reichenbach, der nachweisbar nie eine Nacht außerhalb des Hauses verbrachte, bis gegen Morgen bei sich festzuhalten. In dem Vertrauen, daß Reichenbach ein Gentleman ist und die Frau nicht kompromittieren würde, hat er sich nicht getäuscht. Reichenbach hat geschwiegen und ist an Stelle Karl Moreners verurteilt worden. Die Unterzeichnete verzichtet auf die Belohnung und hofft, daß diese Zeilen, die der Empfänger nicht weiterzugeben braucht, genügen werden, um ihn zu veranlassen, für seine Tat einzustehen und einen Unschuldigen nicht länger leiden zu lassen.

Hanni Reichenbach.‹«

»Eine Erklärung!« rief Frau Hedda. »Was Sie da getan haben, ist ja doch völlig unbegreiflich – zumal Sie vorgeben, Karl zu lieben. Selbst ich, die ihn nicht liebt, hätte das nie übers Herz gebracht.«

»Ich könnte ertragen, daß ein Mann, den ich liebe, einen Mord begeht – ich würde ihn verurteilen, aber weiter lieben. Aber daß ein Mann, den man liebt, sich hinter einen Unschuldigen versteckt, ihn ins Zuchthaus hetzt und selbst frei herumläuft – ich schäme mich vor mir selbst, daß ich imstande bin, für solchen Menschen überhaupt – etwas zu fühlen.«

»Also um sich Ihres Gefühls nicht schämen zu müssen, haben Sie es getan! Ans krassem Egoismus demnach.«

»Ich gebe es zu.«

»Sehen Sie an, wie klein! – Und woher wissen Sie, daß Karl verspekuliert hat?«

»Von jemandem, bei dem er sich das Geld leihen wollte und der es ihm abschlug.«

»Man hat es Ihnen geschrieben?«

»Der Mann war selbst bei mir – weil es ihm keine Ruhe ließ, daß er etwas wußte, was einem Unschuldigen zur Freiheit verhelfen konnte.«

»Und Sie hielt er für die gegebene Instanz?«

»Er hoffte, daß es auf die Art möglich wäre, den Fall zu klären, ohne Karl zu opfern.«

»Dann verstehe ich, daß er zu Ihnen kam, statt den Staatsanwalt zu benachrichtigen – denn er konnte nicht ahnen, daß Sie die Geschäfte des Staatsanwalts besorgen.«

»Sie quälen mich, statt ihm zu helfen.«

»Ich wüßte wirklich nicht, wie das geschehen soll.«

»Er darf den Brief nicht weitergeben.«

»Wie ich Karl Morener kenne,« – sie unterbrach ihre Rede und fragte unvermittelt: »Erwidert Karl Ihre Liebe?«

Hanni sah zu Boden und sagte:

»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube.«

»Dann hat er den Brief auch weitergegeben.«

»Schrecklich!« rief Hanni. »Aber hätten Sie denn anders gehandelt, wenn Sie gewußt hätten, daß Karl . . .«

»Liebes Kind!« fiel ihr Frau Hedda ins Wort. »Ich wußte es bereits am Tage der Hauptverhandlung kurz vor der Verurteilung der Angeklagten.«

»Sie haben es geahnt.«

»Gewußt! und zwar durch sein eigenes Geständnis – aber ich habe geschwiegen, obgleich ich – und nun erschrecken Sie nicht! – Ihren Vetter liebe!«

Hanni war von diesem Geständnis nicht so überrascht wie Frau Hedda erwartet hatte.

»Ja,« sagte sie, »man erträgt auch eher, daß ein Mann, den man liebt, unschuldig leidet, als daß er zusieht, wie ein anderer für seine Taten abgeurteilt wird.«

»Das hört sich gut an, liebes Fräulein Hanni,« erwiderte Frau Hedda. »Aber für Menschen, die sich lieben, gibt es keine Gesetze über das, was erlaubt und was verboten ist.«

In diesem Augenblick erschien der Diener und meldete:

»Herr Karl Morener.«

Die beiden sahen sich an. Ehe Frau Hedda dem Diener eine Antwort gab, stand Karl bereits im Zimmer.

Er verbeugte sich und sagte zu Hanni:

»Ich habe mir gedacht, daß ich Sie hier treffe.«

»Wie konntest du das annehmen?« fragte Frau Hedda.

»Wenn die Not am größten ist, flüchten wir alle zu dir.«

»Die ich das meiste selbst verschuldet habe.«

»Am Ende behauptest du jetzt noch, daß du den Diebstahl begangen hast.«

»Habe ich ihn vielleicht nicht veranlaßt?«

Karl sah Frau Hedda an. Dann schüttelte er den Kopf und sagte:

»Manchmal, Hedda, weiß ich nicht, ob du ehrlich bist.«

»Hat Frau Hedda nicht recht? Haben Sie es nicht für sie getan?«

Karl trat auf Hanni zu, nahm ihren Kopf zwischen seine Hände – was sie sich ruhig gefallen ließ – küßte sie auf die Stirn und sagte:

»Ich bin Ihnen nicht böse, Hanni.«

»Sie haben den Brief zerrissen?«

Karl schüttelte den Kopf.

»Was haben Sie damit getan?«

»Eine Dummheit. – Aber wenn ich ihn unterschlagen hätte – was hätten Sie von mir gedacht?«

»Meinetwegen haben Sie ihn weitergegeben?«

»Ja.«

»An die Direktion? – Bitte, liebe Frau Hedda,« drängte Hanni, »telefonieren Sie an Doktor Urbach! Sagen Sie ihm, ich hätte mich geirrt, ich nähme alles zurück – er soll den Brief zerreißen – oder ich tue mir was an.«

Frau Hedda stürzte an den Apparat. Karl folgte ihr und nahm ihr den Hörer aus der Hand.

»Es kommen täglich Hunderte von Briefen,« sagte er. »Es lag also die Gefahr nahe, daß Hannis Brief bei der Direktion – nicht ganz unabsichtlich – verlorenging.«

»Um so besser,« erwiderte Hanni.

»O nein!« widersprach Karl. »Denn einem Menschen, den man eines gemeinen Diebstahls für fähig hält, dem traut man wohl auch zu, daß er einen Brief verschwinden läßt.«

»Sie haben es doch aus Liebe getan!« erwiderte Hanni.

»Ich schwöre, daß ich mit diesem Diebstahl nichts zu tun habe.«

»Sie liebten Frau Hedda damals. Das entschuldigt alles!«

Karl sah erstaunt erst Hanni, dann Frau Hedda an.

»Damals, sagten Sie?«

»Ja, Karl!« mischte sich jetzt Frau Hedda in das Gespräch.

»Seien wir doch endlich ehrlich gegen uns selbst. Wir alle haben uns geändert. Die Ereignisse haben das bewirkt. Wir Menschen von heut kennen uns ja selbst nicht mehr und sind uns nicht einmal klar über unsere eigenen Gefühle. Wenn dann aber ein Ereignis hereinbricht wie dies – demgegenüber alle Verstellungskunst ein Ende hat – dann bricht die wahre Natur in uns durch – und man erschrickt über sich selbst. Dann erkennt man, wie wenig von dem, was wir mit Rücksicht auf die Umwelt geglaubt und getan haben, wahr und ehrlich war.«

Hedda erschrak, waren das dem Sinne nach nicht dieselben Worte, die Heinz Reichenbach damals bei ihrem ersten Zusammensein im Schloß gesprochen hatte?

»Das mag wahr sein oder nicht,« rief Hanni erregt. »Aber für kluge Reden ist jetzt nicht die Zeit.« – Dann wandte sie sich an Morener und sagte: »Sagen Sie uns endlich, Karl, was haben Sie mit dem Briefe getan?«

»Ihn frankiert und eingeschrieben an die Stelle weiter geleitet, für die er bestimmt war.«

»Doch nicht etwa an die . . .« fragte Hanni entsetzt – und Karl fuhr fort:

»An den Herrn Ersten Staatsanwalt beim Landgericht I.«

»Das ist nicht wahr! Alles, was in dem Briefe steht, ist von mir erfunden! – Ich habe gelogen! – Ich widerrufe!« schrie Hanni, die in ihrer Verzweiflung völlig die Fassung verlor.

»Was richtet die Liebe für Dummheit an!« sagte Frau Hedda, nahm Hanni in ihre Arme und suchte sie zu beruhigen. Dann wandte sie sich an Karl Morener und fragte: »Wann wird der Staatsanwalt im Besitz des Briefes sein?«

»Morgen mittag vermutlich.«

»Und wann glaubst du, werden wir unsere Fahrt antreten?«

Karl sah verdutzt erst Hanni, dann Frau Hedda an. Die beruhigte ihn und sagte:

»Fräulein Reichenbach wird uns nicht verraten.« –

Dann wandte sie sich wieder an Karl und fragte: »Also wann?«

»Um vier Uhr früh.«

»Heute nacht?«

»Ja!«

Frau Hedda nahm Karl bei der Hand und führte ihn zu Hanni.

»Nimm Abschied von ihr,« sagte sie. »Und verzeih ihr – denn sie hat dich sehr lieb.«

Hanni schluchzte laut auf, als Karl sie an sich drückte.

»Nimm mich mit!« bettelte sie.

Karl stutzte und sah Frau Hedda an.

»Nimm mich mit!« wiederholte Hanni und klammerte sich fest an Karl.

»Das Flugzeug hat nur Platz für zwei,« erwiderte er.

Da ließ sie Karl los, schritt langsam auf Frau Hedda zu, nahm ihre Hand, sah sie groß an und sagte:

»Bitte!«

Frau Hedda dachte in diesem Augenblick an Heinrich Morener. Sie überlegte nicht lange. Dann drückte sie Hanni an sich und küßte sie, wandte sich an Karl und sagte:

»Nimm sie! – Behüte sie gut!«

Jauchzend stürzten zwei glückliche Menschen aus dem Zimmer.

Frau Hedda aber blieb allein zurück.


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