Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 1
Robert Kraft

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46.

Der Ausbruch der Sträflinge.

Eine unerträgliche Hitze herrschte in dem Felsenkessel, die Sonne brannte furchtbar sengend auf die nur mit leichten Kappen bedeckten Köpfe der Arbeiter, die mit Hacken und Meißel an den Wänden hämmerten und pochten, um Steine loszusprengen, welche dann auf Wagen in die Mitte des Thales geschafft wurden, wo sie von anderen eine rohe, quadratische Form erhielten.

Aber trotzdem, daß die Leute von Schweiß trieften und sich kaum noch aufrecht halten konnten, fuhren sie ununterbrochen in ihrer Arbeit fort, denn jedesmal, wenn sie auch nur einen Augenblick den erschlafften Arm sinken ließen, ertönte ein rauher Mahnruf aus dem Munde eines der Beamten, welche die Arbeiter streng beobachteten und die Macht hatten, ihre Leute wie die Sklaven zu behandeln, wie die mit Gewehren bewaffneten Posten, welche fortwährend auf- und abpatrouillierten, zeigten.

Hätte man nicht gewußt, daß dieses ein Steinbruch war, in dem Verbrecher mit Zwangsarbeit beschäftigt wurden, so hätte man dies erfahren, wenn man den Ausgang des Thales passierte. Hier standen nicht nur einige Posten, sondern ein ganzes Haus war mit ihnen besetzt, jederzeit bereit, bei einem Signalschuß den Eingang zu verbarrikadieren und auf die Reihen der etwaigen ungehorsamen Sträflinge ein verderbenbringendes Feuer zu eröffnen, ohne Rücksicht, ob es die Schuldigen oder Unschuldige vernichte.

Aber schon seit vier Jahren wurde hier von morgens früh bis abends spät die Hacke geschwungen, klang der Meißel an den himmelhoch emporstrebenden Felswänden, und noch nie war eine Gewaltthat der Sträflinge vorgekommen, denn sie wußten, wie scharf sie bewacht wurden, und welche furchtbaren Strafen dessen harrten, der es wagen wollte, ungehorsam gegen einen Vorgesetzten zu sein. Schon wenn einmal zwei beim Unterhalten ertappt wurden, rief ein Pfiff des Aufsehers einen Angestellten herbei, und sofort waren die Sprecher mit einer Kette an den Händen zusammengefesselt, für Wochen, Monate oder Jahre, je nachdem sie sich verhielten, sodaß sie nun vielleicht für ihr ganzes Leben zusammen arbeiten, essen und schlafen mußten, bis der Tod den einen von dem anderen wieder frei machte.

Der Steinbruch von Hughenden ist es.

Hughenden selbst ist ein blühendes Städtchen am Normanfluß, aber dieser Steinbruch liegt einige hundert Meilen weiter westlich, mitten in einer öden, wasserarmen Gegend, welche nur vom ›Busch‹, dem Australien eigentümlichen, übermannshohen, buschartigen Gestrüpp, bedeckt ist.

Mit der nächsten Stadt, also Hughenden, steht er zwar durch eine Eisenbahn in Verbindung, aber diese versorgt nur die dort angestellten Leute und beschäftigten Sträflinge, die schwersten Verbrecher Australiens, mit Wasser und Lebensmitteln, bringt neue Gefangene hin und nimmt ab und zu die vorrätigen Steine mit. Sonst ist der Steinbruch vollkommen von der Welt abgesondert, die eingelieferten Verbrecher sind meist Sträflinge auf Lebenszeit oder doch auf viele Jahre und kommen fast gar nicht mehr in Berührung mit der anderen Welt.

Das Gebäude, welches ihre Zellen enthält, steht im Thalkessel selbst; bei Sonnenaufgang fangen sie an mit ihrer schweren Arbeit, welche des Mittags nur für eine Stunde unterbrochen wird, und des Abends sinken sie ermüdet nieder auf die harte Lagerstätte, froh, wenn sie wenigstens nicht aneinander geschlossen sind.

Diejenigen, welche die Steine in der Mitte des Thales zuhauten, hatten die leichteste Arbeit, in der glühenden Sonne allerdings immer noch beschwerlich genug, aber sie waren doch immer noch besser daran, als die, welche die Hacke an der weißen Felswand unermüdlich schwingen mußten, welche die Sonnenstrahlen reflektierte, oder gar jene, welche die Steine auf den Schultern über das Geröll tragen, dann auf Wagen laden und abermals auf den Schultern nach dem Werkplatz schleppen mußten. Die ersteren waren einesteils solche, welche eine gute Empfehlung mitbekommen, anderenteils solche, die durch gute Führung sich die Gunst der Beamten zu erringen gewußt hatten, die letzteren dagegen solche, welche schon durch ihr Verbrechen den Unwillen der Aufseher erregten, und betrugen sie sich nicht ausgezeichnet, so konnten sie sicher sein, während ihrer ganzen Strafzeit sich mit dem Befördern der mächtigen Steine befassen zu müssen.

Stumm meißelten, hackten und schleppten die Sträflinge, deren Haare kurz geschoren waren, und die bartlosen Gesichter neigten sich finster auf die Arbeit, um nicht den verhaßten Anblick ihrer Peiniger, wie sie die Beamten nannten, haben zu müssen. Sie alle waren gleichmäßig in graue Leinwand gekleidet, welche mit den schwarzen Stempeln der betreffenden Strafanstalt über und über bedeckt waren.

Keuchend schleppte ein Mann auf der Schulter einen Steinblock über das Geröll, ließ ihn neben einem Meißelarbeiter niedergleiten und fiel selbst erschöpft zu Boden. Seine Augen flogen unstät empor – keiner der Beamten konnte ihn in diesem Augenblick sehen.

»Pst,« flüsterte er, den Blick starr auf den Meißelnden gerichtet, »Snatcher, kennst du mich noch?«

Der Angeredete, ein Mann von etwa vierzig Jahren, arbeitete ruhig weiter, aber seine Augen nahmen einen so sonderbaren Ausdruck an, daß der Frager wußte, er sollte eine Antwort erhalten.

»Ich kenne dich wohl noch,« murmelte er zwischen den zusammengebissenen Zähnen durch.

»Seit wann bist du denn hier, Thomas?«

»Seit einer Woche, habe mich nicht so schnell erwischen lassen, wie du.«

»Ich bin unschuldig hier, das weißt du,« murmelte der Meißelnde.

»Das sagt jeder,« lachte der am Boden Liegende leise, aber er erhob sich plötzlich, denn ein Beamter näherte sich seinem Platze.

Er ging nach dem Wagen und fuhr davon, um einen anderen Stein zu holen.

»Nummer 207,« sagte der Beamte zu dem am Blocke Arbeitenden, der vorhin mit Snatcher angeredet wurde, »es sollte mir leid thun, wenn ich Ihnen eine andere Arbeit geben müßte. Und vor allen Dingen hüten Sie sich, mit dem zu sprechen, der eben bei Ihnen war; wir beobachten den Burschen.«

Der Beamte wandte sich um und schritt weiter.

Nach einer Viertelstunde kam der Steinträger wieder und ließ sich wie vorhin erschöpft neben dem Steinblock zu Boden fallen.

»Snatcher,« klang es wieder zischend in die Ohren des ersten Sträflings, »wie lange willst du noch hier arbeiten?«

Der Angeredete antwortete nicht, ruhig meißelte er weiter.

»Snatcher,« klang es weiter, »ich komme von Sydney.«

Der Verbrecher ließ mit einem Male den Hammer müßiger arbeiten, und sein Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an.

»Ich soll dir Grüße von Weib und Kind bringen, hörst du mich nun?«

»Wie geht es ihnen?« flüsterte jener zurück.

»Sie warten auf dich.«

»Was soll ich dagegen thun?« klang es schmerzlich zurück.

»Entfliehe!« flüsterte ihm der Verführer zu.

»Es geht nicht.«

»Brich aus!«

»Nimmermehr, und wenn ich auch Gelegenheit dazu hätte. Warum bist du hier, Thomas?«

»Wegen eines albernen Mädchens. Brich aus mit uns heute nacht, Snatcher, wir sind schon alle einig, nur du fehlst uns.«

»Nimmermehr,« flüsterte Snatcher wieder, aber so bestimmt, als ob er jeder Ueberredung von vornherein begegnen wollte. »Ich bin unschuldig und werde mich meiner Strafe nicht durch Flucht entziehen.«

Wieder stand der Steinträger plötzlich auf, denn ein Beamter, aber ein anderer als vorhin, ging vorüber und warf auf ihn einen mißtrauischen Blick.

Thomas fuhr nach einem Platz, wo eine Menge Steine umherlagen, suchte sich den größten aus und versuchte ihn fortzuwälzen. Aber das schwere Gewicht spottete aller Anstrengung.

Ein lauter Fluch entschlüpfte seinem Munde, einer der Felsarbeiter sah den Mann, der sich hilfesuchend umblickte, beider Augen begegneten sich, und sofort warf jener seine Hacke hin und sprang seinem Kameraden zur Unterstützung.

Eine solche gegenseitige Hilfeleistung war im Steinbruch erlaubt, wurde sogar befohlen.

»Nicht so schnell,« keuchte Thomas, als der andere, ein gelbhäutiger Bursche, sich mit aller Kraft gegen den Stein lehnte, »nicht so schnell, ich habe dir viel zu sagen, Manzo.«

Mit mäßiger Austrengung beschäftigten sie sich mit dem Koloß, thaten aber dabei, als bemühten sie sich mit aller Macht, den Stein fortzuwälzen.

»Snatcher will nicht?« flüsterte der Gelbe.

»Nein, er ist ein Dummkopf.«

»Wir müssen ihn haben; seine Zelle grenzt an die Wachtstube. Nur er kann in dieselbe eindringen.«

»Es ist gefährlich,« sagte Thomas und brachte den Block zum ersten Male zum Stürzen.

»Nichts ist es,« entgegnete Manzo, »heute abend fahren die meisten Beamten nach Hughenden, nur wenige bleiben zurück, ich kenne das.«

»Dann muß es geschehen,« keuchte Thomas, »aber wie?«

»Laß dich mit ihm fesseln.«

»Warum gerade ich?«

»Ich kann nicht in seine Nähe kommen und mit ihm sprechen.«

»Wenn er aber in meine Zelle kommt?«

»Kann er nicht, seine ist die größere, deine viel kleiner.«

»Gut, was soll ich dann machen?«

»Um sieben Uhr geht der Zug ab,« flüsterte Manzo seinem Kameraden zu, »um acht Uhr wird die Wache abgelöst. Hier hast du den Dietrich, den ich mir gemacht habe.«

Er steckte ihm ein kleines Eisen zu.

»Weiter?« fragte Thomas, als sie den Stein auf den Wagen hoben.

»Du öffnest die Thür schon vorher, tritt die Wache heraus, ist niemand in der Stube und du wirfst die Thür zu und schließest sie ab. Das andere weißt du.«

»Ich bin aber an Snatcher gefesselt.«

»Sei nicht so thöricht,« zischte der andere durch die Zähne, »du befreist dich eben von ihm.«

»Ich werde ihn vorher noch überreden.«

»Thue das, aber traue ihm nicht, bis du ihn sicher hast! Sonst müssen wir nochmals acht Tage warten und vielleicht haben wir nie wieder so eine günstige Gelegenheit wie heute. Laß dich lieber fesseln!«

Krachend fiel der Stein auf den Wagen, und Thomas zog denselben fort, während Manzo an seine Arbeit zurückging.

Auf einen Wink Thomas' kam Snatcher herbei, um den Stein nach dessen Platz hin zu wälzen, denn dieser war noch für ihn bestimmt. Wahrend dieser Gelegenheit hatte der Verbrecher die beste Gelegenheit, mit Snatcher zu sprechen.

»So willst du nicht helfen, wenn wir heute abend ausbrechen?«

»Nein.«

»Dein Weib, deine Kinder sind in großer Not; sie hungern.«

Snatcher zuckte zusammen, aber er blieb standhaft.

»Zum dritten Male, nein, ich verlasse diesen Ort nicht eher, als bis ich meine Strafe hinter mir habe, oder bis meine Unschuld an den Tag gebracht ist.«

»Darauf wirst du lange warten können,« höhnte Thomas, aber so laut, daß alle umstehenden Sträflinge erschrocken aufsahen und am meisten Snatcher selbst.

»Willst du mich unglücklich machen?« flüsterte er.

»Ich möchte dein Kamerad werden,« rief Thomas fest.

Da sah Snatcher schon, wie von mehreren Seiten Beamte herbeigeeilt kamen.

»Nummer 207 und 326,« sagte einer von ihnen.

Er pfiff, und sofort kam aus der Wachtstube, die sich noch innerhalb des Thales befand, ein Zellenschließer mit einer langen Handkette.

»Ihr habt beide gesprochen?«

»Natürlich haben wir das,« antwortete Thomas höhnisch. »Paßt Euch das vielleicht nicht?«

Im Nu waren den beiden an je eine Hand die Schelle angelegt, so daß sie nun zusammen arbeiten mußten.

»An die Karre mit dir, 207,« sagte der Beamte barsch zu Snatcher, »ich habe heute schon einmal Rücksicht mit dir genommen, das zweite Mal nicht.«

Snatcher mußte nun an der Seite des aufgedrungenen Kameraden die schwere Arbeit des Steinschleppens verrichten, und beide wurden scharf von den Beamten bewacht, daß es Thomas, um einen Argwohn zu vermeiden, unterließ, fernerhin mit Snatcher zu sprechen.

Dagegen fand unter den übrigen Sträflingen eine heimliche Verständigung statt. Vielsagende Blicke wurden gewechselt, jedesmal, wenn die Beamten am weitesten entfernt waren, entstand ein Zischeln unter ihnen und besonders Nummer 325, 327, 328 und 329, welche erst vor einigen Tagen zugleich mit Thomas angekommen, waren es, die auf jede Weise sich mit den anderen zu verständigen suchten, unter ihnen auch Manzo. Das alles geschah aber unbemerkbar, daß die Beamten nichts davon wahrnahmen, wie sie überhaupt gerade heute etwas nachlässig im Dienste waren.

»Kennen alle nun das Zeichen?« flüsterte Manzo einem anderen Sträfling in einem unbewachten Moment zu.

»Alle,« klang es zurück.

»Gut, sobald ich gefangen werde, dann her über die Beamten und Soldaten, und nieder mit ihnen! Die Waffenkammer ist dann schon in unseren Händen, zurück können sie nicht.«

Er ging zu anderen und flüsterte dasselbe.

Jeden Abend erwarteten die Sträflinge, wie auch die Beamten, das Pfeifen der heranbrausenden Lokomotive, welche die Wagen mit Wasser und Nahrungsmitteln brachte. Das war stets das Zeichen, daß es sieben Uhr war, daß also die Arbeit eingestellt wurde. Einige Minuten vergingen noch, bis die Vorräte ausgeladen worden waren, dann wurden die Sträflinge nach den Zellen gebracht und die Beamten zogen sich nach ihren, außerhalb des Thales bei der Eisenbahnstation liegenden Wohnungen zurück.

Heute aber bedeutete der Pfiff für letztere noch etwas ganz Besonderes, denn einmal in der Woche durfte die eine Hälfte von ihnen nach Hughenden fahren, und nun war endlich dieser lang ersehnte Tag erschienen.

Daher kam es auch, daß sie sich kurz vor dem Arbeitsschlusse nicht mehr so mit den Gefangenen beschäftigten, wie es ihnen ihre Pflicht eigentlich vorschrieb.

Da warfen alle Sträflinge gleichzeitig Hacke, Meißel und Schaufel weg, der Ruf des Aufsehers zum Einstellen der Arbeit war ertönt, fast gleichzeitig mit dem Pfiff der heranbrausenden Lokomotive, welche man von hier aus wohl hören, aber nicht sehen konnte.

Die Gefangenen wurden in ihre Einzelzellen gebracht, nur die Zusammengefesselten kamen in geräumigere, dann eilten die Beamten nach ihren Wohnungen und fuhren einige Minuten später mit dem Zuge ab, während die Zurückgebliebenen Vorbereitungen zu der eine Stunde später vorzunehmenden Austeilung des Abendbrotes an die Sträflinge trafen.

Die Zelle, welche der Wachtstube am nächsten lag, mußte einst zu anderen Zwecken, als zum Aufenthalte von Sträflingen gedient haben, denn ihre Thür öffnete sich nicht, wie die der anderen, nach dem Freien, sondern, um zu ihr zu gelangen, mußte man erst durch die Wachtstube gehen.

Diese Zelle war die größte, obgleich immer noch klein genug. Sonst nahm sie Snatcher allein ein, jetzt aber hatte er einen Mitgefangenen bekommen, und das ist in einer Gegend, wo die Luft in einem geschlossenen Raume schon bei einem Bewohner bald drückend heiß wird, schon an und für sich eine harte Strafe.

»Warum hast du mir das angethan?« seufzte Snatcher und ließ sich auf die Bettstatt fallen, das einzige Möbel, welches in dem völlig nackten Raume stand. »Mein Stand bei den Beamten war ein so guter, und jetzt ist das alles vorbei.«

»Jammere nicht so, Mensch!« fuhr ihn Thomas an. »Es ist zu deinem Glück, daß alles so gekommen ist. Sei vernünftig, und in zwei Stunden bist du ein freier Mann!«

»So wollt Ihr wirklich ausbrechen?«

»Gewiß wollen wir, alles ist schon vorbereitet. Wenn auch einige der Sträflinge daran glauben müssen, das soll uns nicht davon abhalten. Lieber den Tod, als noch acht Tage länger hier wie ein Hund leben. Doch sprich, Snatcher, so bist du wirklich damals unschuldig eingesperrt worden? Wir wollten es alle nicht glauben.«

Thomas setzte sich neben seinen Mitgefangenen.

»Und doch ist es so. Es war allerdings mein Messer, welches bei der Leiche gefunden wurde, und mein Tuch, welches von ihrem Blute getränkt war, aber ich wußte damals und weiß auch jetzt noch nicht, wie beides dahin gekommen ist.«

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber!« tröstete ihn der andere. »Es giebt eben andere, die die Sache schlauer anfangen. Ich habe bisher auch immer für andere gearbeitet, die das Fett abschöpften, aber nun will ich einmal auf eigene Faust arbeiten.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Ja,« lachte Thomas, »die Zeiten sind eben andere geworden. Wie lange bist du denn nun schon hier, fünfzehn Jahre?«

»Achtzehn Jahre, und ein Jahr habe ich in Untersuchung gesessen, das ist gar nicht mitgerechnet worden. Sieben Jahre noch, dann habe ich es hinter mir.«

»Daß du ein Narr wärest,« brummte Thomas unwillig. »Also, als wir uns vor neunzehn Jahren und länger kennen lernten, da hielten wir uns beide für ehrliche Menschen –«

»Ich bin's auch geblieben,« rief Snatcher.

»Ich nicht,« meinte Thomas kurz. »Mit dem Ehrlichsein kommt man heutzutage nicht mehr weit, aber mit der Spitzbüberei auch nicht, wenn man nicht auf den richtigen Weg kommt. Darauf kam ich gleich von vornherein nicht. Zehn Jahre quäle ich mich nun so ab, ebenso wie meine vier Genossen, die mit mir gefaßt worden sind, wir rauben, morden, stehlen, bohren Schiffe an, sprengen sie in die Luft und so weiter und dann bekommen wir einige Dollars Prozente, wie sie sagen, und damit basta, das übrige geht in die sogenannte Kasse, in die Unfallkasse, sagen wir immer. Passiert uns dann einmal etwas, das heißt, werden wir gefangen genommen, dann können wir versichert sein, daß wir bald wieder herausgeholt werden, mit Gewalt oder mit List.«

Verwundert hatte ihm Snatcher zugehört.

»So würdest du auch von hier wieder befreit werden?« fragte er endlich.

»Auf jeden Fall,« versicherte der andere. »Und zwar geschieht es gewöhnlich so, es kommt ein Mann, ein Offizier oder so etwas Aehnliches, legitimiert sich, bringt Papiere mit und verlangt, Nummer so und so soll nach irgend einer Stadt zum Verhör gebracht werden. Die hier könnten noch soviele Boten abschicken oder telegraphieren – nichts versagt. Wir werden also mit Soldaten auf den Weg gebracht und unterwegs so sicher befreit, wie zweimal zwei vier ist.«

Kopfschüttelnd saß Snatcher da.

»Aber warum wartest du denn nicht ab, bis man dich oder euch befreit?«

»Fällt mir gar nicht ein! Kaum sind wir befreit, so werden wir wieder auf ein Schiff oder sonstwohin gesteckt und müssen dann ebenso wie früher arbeiten. Manzo und wir anderen haben aber nun ausgemacht, von hier auszubrechen und einmal unser Glück auf eigene Faust zu probieren; mehr als gehangen können wir nicht werden. Alle übrigen sind damit einverstanden, nur du Mucker widersetzt dich. Und gerade um dich thut es mir leid, weil wir zwei alte Schiffskameraden sind, die sich in jungen Jahren so manchmal den Wind um die Nase haben pfeifen lassen.«

»Was hast du denn begangen, daß man dich hierhergebracht hat?« fragte Snatcher.

»Wir fünf sind alle wegen Mädchenraubes aufgebracht worden.«

»Mädchenraub? Mit so etwas müßt ihr euch auch abgeben?«

»Natürlich, der spielt sogar eine Hauptrolle bei uns. So zum Beispiel waren wir jetzt seit ungefähr einem halben Jahre hinter Weibern her, die zum Vergnügen als Matrosen in der Welt herumsegeln. Aber, verstehst du wohl, nicht so wie wir; es sind alles feine, reiche Amerikanerinnen, aus deinem Heimatlande. Da hatten wir auch richtig vor vierzehn Tagen ein Mädchen gepackt und wollten es eben an Bord bringen, da kommen uns solche verdammte Engländer auf die Fährte, fassen uns und liefern uns auch gleich der Polizei aus. Das Mädchen, es hieß Hope – Hope Staunton, ihr Name wurde mehrere Male gerufen –«

»Staunton,« unterbrach ihn Snatcher nachdenkend, »der Name erinnert mich an meine Heimat, dort hieß ein reicher Pflanzer so. Du weißt doch, daß ich aus Louisiana stamme?«

»Ach was, aus Louisiana?« rief Thomas erstaunt. »Dann ist es leicht möglich, daß du auch die Kapitänin des Damenschiffes kennst. Sie heißt Petersen – Ellen Petersen.«

»Gewiß kenne ich den Namen Petersen,« und Snatcher sprang vor Freude auf. »Auf der Plantage dieses Mannes bin ich erzogen worden, mit seinem Sohne habe ich gespielt, habe ihn reiten gelehrt und bin noch bei der Hochzeit dieses Sohnes gewesen. Lebt dies Kind noch?«

»Er lebt nicht mehr, aber die Petersen hat noch einmal geheiratet und von dem jetzigen Manne, also jetzt Ellens Stiefvater, werden seltsame Dinge gemunkelt. Einige der Aelteren wollen ihn noch recht gut gekannt haben, als auch sie sich schon als Verbrecher herumtrieben, und als unser Kapitän einmal recht betrunken war, behauptete er sogar, der Stiefvater wisse mehr von unserer Bande, als er und wir alle zusammen. Aber das sind natürlich alles nur Gerüchte, denn offen herauszusprechen wagt bei uns niemand. Gewiß aber ist, daß Mister Flexan, oder aber, wie er früher geheißen haben soll, Jonathan Hemmings –«

Der Erzähler hätte beinahe laut aufgeschrieen, mit solch eisernem Griff faßte der neben ihm sitzende Sträfling seinen Arm.

»Wie hieß er? Sag' noch einmal den Namen,« brachte Snatcher mit vor Erregung heiserer Stimme hervor.

»Zum Teufel, laß' mich los!« stöhnte Thomas und entwand sich mit Mühe der starken Hand seines Kameraden. »Was ist denn mit dir? Jonathan Hemmings hieß er.«

»Jonathan Hemmings? Lebte er in Ausstralien?«

Dies alles stieß der Gefangene atemlos hervor; seine Augen hingen an den Lippen des Gefragten, und seine Glieder zitterten vor Aufregung.

»Das glaube ich bestimmt; zuletzt ist es so vor achtzehn Jahren in Melbourne gesehen worden. Gleich darauf tauchte er in den amerikanischen Staaten als reicher Mann auf und freite um die Hand der verwitweten Mistreß Petersen.«

»Wie sah er aus? Kennst du ihn?«

»Nein, aber seine Beschreibung habe ich oft hören müssen. Er soll sehr schön gewesen sein.«

»Das war er! War er groß und hatte graue Augen?«

»Stimmt, auch das ward von ihm gesagt.«

»Aber ein besonderes Zeichen? Hatte er kein Merkmal?« drängte Snatcher.

»Nicht daß ich wüßte. Doch ja,« unterbrach sich Thomas, »der Kapitän erzählte einmal, er hätte Handschuhe getragen, und als er vom Boden etwas aufheben wollte, da habe sich der kleine Finger vom linken Handschuh umgestülpt.«

»Er ist es,« jubelte Snatcher, sprang auf und wollte der Thür zueilen; er hatte ganz vergessen, daß er an seinen Kameraden gefesselt war.

»Mensch, was hast du vor?« fragte der uufreiwillig Emporgerissene.

»Frei will ich sein, und frei kann ich sein,« rief Snatcher und bemühte sich, nach der Thür zu gelangen, »der Mörder, für den ich unschuldig büßen muß, lebt, und ich kenne ihn jetzt, weiß, wo er lebt. Laß mich los, Thomas, ich will den Beamten sprechen.«

Aber Thomas faßte ihn und zog ihn mit aller Gewalt auf das Bett zurück.

»Armer Kerl,« sagte er, als es ihm gelungen war, den sich verzweifelt Wehrenden zu bändigen, »armer Kerl, du dauerst mich! Glaube mir, ich weiß es besser als du, wie es jetzt draußen in der Welt aussieht. Du würdest nicht weit kommen, dann wärest du schon wieder unschädlich gemacht.«

»Er ist aber der Mörder und nicht ich,« rief Snatcher außer sich, »ich will vor ihn treten, und wenn er mir, da ich achtzehn Jahre lang für ihn gelitten habe, offen ins Auge sehen kann, dann will ich freiwillig zurückkehren.«

»Der, den du als einen Mörder bezeichnen willst, ist ein reicher Mann und, was noch mehr ist, ein mächtiger, listiger Mann. Soviel ich von ihm erfahren habe, stehen ihm Mittel zu Gebote, von denen wir beide keine Ahnung haben, du noch viel weniger, als ich. Es kostete ihm nur ein Wort, so hätte er dich für immer stumm gemacht. Sei lieber froh, daß er deinen Aufenthaltsort gar nicht kennt, denn sonst, verlaß' dich darauf, würdest du nicht mehr zu den Lebenden zählen!«

Sprachlos starrte der Unglückliche seinen Gefährten an.

»Aber was soll ich denn thun?« brachte er endlich hervor. »Meine Frau, meine Kinder, die ich als kleine Würmer verlassen habe! Endlich sehe ich einen Weg, wie ich meine Unschuld beweisen und zu den Meinigen zurückkehren kann, und du schneidest mir gleich wieder jede Hoffnung ab!«

»Im Gegenteil, ich bringe dir diese erst. Sieh, eine halbe Stunde noch, und wir alle hier sind keine Sträflinge mehr, wir sind freie Männer. Vereinige dich mit uns, brich mit uns aus, weg über die Leichen unserer Peiniger, und auch du bist frei und kannst deine Nachforschungen auf eigene Faust fortsetzen!«

Niedergeschlagen hatte Snatcher dem mit leiser Stimme Redenden zugehört.

»Aber, dann bin ich ja ein Verbrecher geworden, was ich jetzt noch nicht bin. Was nützt mir es, wenn ich den Mörder entlarvt habe und dann selbst wegen einer Mordthat, die ich wirklich begangen, verurteilt werde?«

Lange betrachtete Thomas seinen Mitgefangenen, und sein Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. In dem steinernen Herzen des Verbrechers mußten noch nicht alle guten Gefühle ausgerottet sein, sie schienen wenigstens jetzt einmal aus langem Schlafe zu erwachen.

»Snatcher,« begann er, »du hast recht, mein Vorschlag war ein unsinniger. Bleibe du hier in der Zelle. Du sollst keine Hand aufheben gegen die Beamten! Laß mich und die anderen die blutige That vollbringen. Ich scheue nichts mehr, aber doch wünschte ich, ich hätte niemals diesen Weg betreten, der ja schließlich einmal zum Galgen führen muß; und ebenso will ich nicht, daß du zum Verbrecher werdest.«

»Wohin soll ich mich wenden, wenn ihr euch befreit habt? Wird man mich nicht ebenso wie euch, gleich den wilden Raubtieren hetzen, um uns wieder unschädlich zu machen?«

»Für mich fürchte ich nichts, im Gegenteil, ich freue mich auf die Hetzjagd. Aber du?«

Thomas sah lange vor sich hin.

»Das beste wird sein,« begann er dann, »du versuchst, in die Nahe dieser Petersen zu kommen. Gelingt es dir nicht, bei den Mädchen Schutz zu finden, so begiebst du dich zu den Herren, die ihnen immer nachfolgen. Es sind dies alle ehrliche Kerle, die manchmal auch krumm gerade sein lassen, so wie ich es liebe. Aber ich habe allen Grund zu glauben, daß dich die Kapitänin nicht abweist, denke viel eher, sie nimmt jeden mit Freuden auf, der ihr etwas von ihrem Stiefvater erzählen kann. Wie du die beiden Schiffe ›Amor‹ und ›Vesta‹ findest, das ist deine Sache, du bist kein Kind mehr, und ich habe andere Sachen zu thun.«

Die Klänge eines Glöckchens erschallten. Thomas fuhr erschrocken zusammen.

»Zehn Minuten vor acht Uhr,« flüsterte er, »gleich wird die Wache abgelöst und die Suppe an die Sträflinge verteilt, und ich habe noch keine Vorbereitungen getroffen. Nun sei vernünftig, Snatcher, mische dich nicht in mein Unternehmen!«

Er zog einen Dietrich aus der Tasche und arbeitete damit an den Schlössern der Handschellen. Beide Sträflinge waren frei. Dann steckte er das Werkzeug behutsam in das Schloß der Thür und drehte etwas. Als er merkte, daß er den Riegel faßte, blieb er lautlos stehen und horchte.

Nach einigen Minuten vernahm er, wie die entferntesten Zellen aufgeschlossen und die Sträflinge mit barschem Tone aufgefordert wurden, herauszutreten: die Kerker wurden von den Beamten untersucht und dann an die in Reih' und Glied stehenden Gefangenen Suppe und Brot verteilt, während alle Soldaten, auch die sonst in der Wachtstube befindlichen, mit geladenen Gewehren vor dem Eingange standen und alles beobachteten.

Jetzt verließ der letzte Beamte die Wachtstube, leise drehte Thomas den Dietrich und befand sich im nächsten Augenblicke in dem Raume, wo an den Wänden Gewehre und Säbel hingen.

Schon näherte sich der Schließer der letzten Zelle, deren Eingang durch die Wachtstube ging, als er in seiner Beschäftigung innehielt und seine Aufmerksamkeit nach dem Ende des Korridors lenkte, wo in der Reihe der aufgestellten Sträflinge ein Drängen entstand.

»Was haben Sie da in der Tasche?« fragte der visitierende Beamte einen Kerl mit gelbem Gesichte.

»Nichts habe ich darin! Wenn Sie's nicht glauben, sehen Sie selber nach,« lautete die freche Antwort.

»Arme hoch!« kommandierte der Beamte.

Dem Befehl ward keine Folge geleistet.

»Arme hoch!«

Der Gelbe rührte sich nicht, sondern betrachtete den vor ihm stehenden Mann mit funkelnden Augen.

»Nummer 326,« rief der Beamte, und sofort kam ein Schließer, um dem Ungehorsamen Handschellen anzulegen, aber mit einem Sprunge brach der Sträfling durch die Reihen der Beamten und stand auf einem hohen Felsblocke, in den Händen einen zentnerschweren Stein.

»Wollen Sie herunterkommen!« rief der Beamte.

»Den Teufel will ich! Nein!« brüllte Manzo und hob den Stein zum Wurf. »Komm herauf, verdammter Hund, daß ich dir den Hirnkasten zerschmettern kann.«

Schon standen unten zwei Soldaten mit angeschlagenen Gewehren.

»Kommen Sie herunter!« befahl nochmals der Beamte, und als der Sträfling noch immer nicht gehorchte, erklang das Kommando:

»Legt das Gewehr an!«

»Verflucht,« schrie Manzo, warf den Stein weg und sprang vom Felsen herab, mitten unter die Beamten, welche herbeigeeilt waren, »da habt Ihr mich.«

Aber Manzo war noch nicht willens, sich ohne weiteres die Hände fesseln zu lassen, er schlug um sich und biß wie ein wildes Tier in die Hände, die seinen Arm gepackt hatten, und plötzlich ließen die Beamten erstarrt im Griffe nach.

Ein gellendes Geheul, Gepfeife und Gejohle erfüllte die Luft, einige Schüsse knallten, einige Sträflinge stürzten zu Boden, aber ehe sich noch die überraschten Beamten erholt hatten, fielen schon schmetternde Schläge auf ihre Köpfe; die letzten, welche diese Szene überlebten, sahen noch, wie die am Ausgang postierten Soldaten, welche nicht zu schießen gewagt, weil sie ebensogut die zwischen den Gefangenen befindlichen Beamten hätten treffen können, wie diese Soldaten mit den Sträflingen um die Gewehre rangen, wie sie vergeblich versuchten, in die Wachtstube einzudringen, um sich dort verbarrikadieren zu können.

Ab und zu knallte noch ein Schuß; schmetternd sausten die Spitzhacken auf die Schädel; röchelnd wälzten sich die Getroffenen auf dem Boden, das Felsgestein mit ihrem Blute rötend, einer der Beamten sah noch, wie die Wachtstube aufgerissen wurde und die Sträflinge hineinstürmten, dann fiel auch er als Opfer seines Berufes.


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