Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 1
Robert Kraft

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28.

Im Reiche des Schlangenkönigs.

Nicht weit von Madras erhebt sich ein Gebirge, dessen wildphantastische Felspartien einen gar wunderlichen Eindruck machen. Fühlt sich der einsame Wanderer schon an hellen Tage unheimlich in diesem Felsenlabyrint, so steigert sich dieses Gefühl der Furcht bis zum Entsetzen, wenn sein Fuß während der Nacht hindurchpilgern muß.

Er glaubt Riesen zu erblicken, die eng umschlungen miteinander ringen; er sieht Ungeheuer von märchenhafter Gestalt, die Rachen geöffnet, den schuppigen Schweif geringelt, zum Sprunge gebückt, bereit, sich auf den Wanderer zu stürzen; er sieht schöne Frauengestalten, die hilfesuchend die Arme nach ihm ausstrecken, als erwarteten sie von ihm Befreiung, Und dies alles ist nicht tot, die Gestalten bewegen sich im unsicheren Schein des Mondes; das Heulen des Windes, das Säuseln der Baumzweige und das unter den Füßen raschelnde Laub giebt ihnen die Sprache, bald schrecklich drohend, bald flehend oder klagend.

Dem Fremden graust es. Mit flüchtigem Schritt eilt er durch die Schluchten, durch die Thäler, mit Steinbildern besetzt, geht mit zaghaftem Schritt auf schwankenden Bambusbrücken, die über stürzende Gießbäche führen, bis er endlich zwischen zwei nahe aneinander herantretenden Felswände hindurch muß und – siehe da – er tritt ans einer Wildnis in ein Paradies.

Vor seinen Blicken öffnet sich das flache Land, der Mond flutet über die Reis- und Baumwollenfelder, er übergießt die jetzt ruhig dahinfließenden und friedlich murmelnden Bäche mit seinem silbernen Licht, und besitzt der Wanderer ein scharfes Auge, so kann er noch sehen, wie seine Strahlen die Kuppeln von Madras erglänzen lassen.

›Des Teufels Sitz‹ ist dieses jäh emporsteigende Gebirge vom Munde des Volkes genannt worden, und wahrlich, eine bessere Bezeichnung hätte nicht gefunden werden können. Es ist, als ob der Teufel, dieser anmaßende Geist, auch in der schönsten Gegend sein Recht, daß die Erde sein Eigentum ist, bezeugen wolle und nun hier inmitten eines Paradieses seinen Sitz aufgeschlagen habe, von wo aus er dem unruhigen Treiben der Erdenkinder grinsend zuschauen kann. »Wo ist der Zugang zu dem Gebirge?« fragte Ellen, die neben Harrlington dem Zuge der Herren und Damen vorausritt, den eingeborenen Führer.

Dieser deutete auf eine jäh aufsteigende Wand in der Ferne.

»In einer Viertelstunde werdet Ihr das Höllenthor betreten,« antwortete er, »habt Ihr dasselbe passiert, so werdet Ihr bald auf Leute von Shikaris Stamm stoßen.«

»Du glaubst also, daß uns Shikari freundlich aufnehmen wird?«

»Shikari ist alt geworden, er lebt nur noch der Einsamkeit und seinen Tieren und läßt seinen Sohn die Aufsicht über seine Leute führen. Sein Sohn ist den Engländern freundlich gesinnt und hat auch Shikari so weit gebracht, daß er die Fremdlinge nicht mehr haßt. Kommt Ihr nicht nur aus leerer Neugierde, sondern führt Euch ein Grund zu ihm, so werdet Ihr den Zugang zu seinem Gebiet offen finden.«

Das Gebirge war erreicht, und der Führer erhielt seinen Lohn.

Während die Gesellschaft durch eine einsame Schlucht ritt, die den Eingang zu dem Felsengebiete bildete, fragte Lord Harrlington Miß Petersen:

»Haben Sie schon über Shikari Erkundigungen eingezogen?«

»Ja, und ich habe verschiedene Urteile über ihn zu hören bekommen, welche zum Teil von Unglaublichkeiten strotzten. Die Engländer scheinen ihn für einen Sonderling und die Eingeborenen für einen Halbgott zu halten. Was halten Sie von ihm?«

»Was über ihn Seltsames gesprochen wird, ist nicht Uebertreibung, er wird jetzt von den Indiern der Schlangenkönig oder der König der Gaukler genannt, und von den Gebildeten der Bevölkerung wird sein Name mit Respekt, von den Niedrigen mit Ehrfurcht ausgesprochen. Sein Vater konnte mir noch erzählen, wie er ihn als Gaukler bei der Produzierung seiner Kunststücke gesehen hat. Er war unbedingt der geschickteste aller indischen Gaukler und Schlangenbeschwörer; war eine Gegend von Schlangen verseucht, so wurde Shikari gerufen, und der Klang seiner Pfeife lockte dieselben wie durch Zauberei überall hervor, sie folgten ihm, wohin er wollte. Er versteht eben die Kunst, auf jedes Tier einen geheimen Einfluß auszuüben, und verwendet diesen, auch wilde Tiere abzurichten. Fertigt er uns nicht vor der Thür seines Reiches ab, so können wir Erstaunliches zu sehen bekommen.«

»Wissen Sie schon, wer jener Indier war, der gestern das Leben der Miß Thomson gerettet hat?«

»Nein,« entgegnete Harrlington.

»Es war Shikaris Sohn.«

»Wie,« rief Harrlingtou, »also Mukthar? Nun kann ich es mir auch erkläre», wie die Gebissene so schnell hergestellt worden ist, daß sie heute schon wieder zu Pferd sitzt. Shikari besitzt ein geheimes Mittel, mit dem er die Schlangensteine tränkt, sodaß sie das Gift nicht nur begieriger aufsaugen, sondern es zugleich auch unschädlich machen. Dann haben wir auch umsomehr Hoffnung, vorgelassen zu werden.«

»Haben Sie auch die Schluchten zur rechten Seite richtig gezählt, daß wir uns nicht verirren?« fragte Ellen.

»Jetzt passieren wir die zweite, die vierte ist die richtige, sie bildet den Eingang. Sie wird uns durch ihre Enge auffallen.«

Nach einigen Minuten sagte Ellen wieder zu Harrlington:

»Warum wird Shikari der König der Gaukler genannt?«

»Weil er der geschickteste unter ihnen war und sein Sohn es jetzt ist, und Schlangenkönig, weil kein anderer als diese beiden, es so versteht, die Schlangen zu fangen, zu zähmen und tanzen zu lassen.«

Harrlington begann plötzlich zu lachen.

»Was haben Sie denn?« fragte ihn Ellen,

»Mir fällt ein hübsches Geschichtchen ein, in welchem Shikari eine Rolle spielt; mein Vater erzählte es mir. Nach einem sehr trockenen Sommer war eine Gegend in Indien wieder einmal so von Schlangen verseucht, daß auf den Kopf jeder getöteten Giftschlange eine Rupie (etwa zwei Mark) von dem englischen Gouvernement ausgesetzt wurde, während der Preis sonst nur eine halbe Rupie ist. Es wurden Schlangenköpfe eingeliefert, Hunderte und aber Hunderte, und das ging Monat für Monat fort, ohne daß eine Abnahme der Schlangen zu bemerken gewesen wäre. Schließlich wurden die englischen Beamten aber mißtrauisch und gingen dieser großen Lieferung auf die Spur. Und was meinen Sie wohl, was sie dabei gefunden haben?«

»Nun?« fragte Ellen neugierig.

»Shikari hatte schon vor Jahren eine förmliche Schlangenzucht angelegt – unter günstigen Bedingungen vermehren sich diese Tiere ungeheuer – und wartete nun auf die Zeit, wo die Prämie für Schlangenköpfe eine sehr hohe war. Als sie bis zu einer Rupie gestiegen, tötete er seine Pfleglinge und verhandelte sie an die Eingeborenen jener Gegend eine Kleinigkeit billiger, sodaß diese beim Wiederverkauf an die englische Regierung einen kleinen Nutzen erzielten.«

Ellen mußte über diese Schlauheit lachen.

»Und was sagten die Beamten dazu?«

»Die waren natürlich, als das Geheimnis offenbar wurde, sehr aufgebracht, und wollten dem Shikari wegen Betrugs etwas am Zeuge flicken. Aber der Indier war schlauer als sie. Er versicherte ihnen mit der treuherzigsten Miene von der Welt, er habe geglaubt, die Engländer wollten aus den Schlangenköpfen etwas fabrizieren, vielleicht den Zähnen das Gift entziehen.«

»Was thaten nun die Engländer?«

»Sie forderten eine große Summe Geld zurück, die sie unnütz ausgegeben hatten, denn Shikari rechnete ihnen ganz genau vor, wieviel Schlaugenköpfe er verkauft habe.«

»Und Shikari?« lachte Ellen.

»Der wollte seine Schlangenköpfe wiederhaben oder wenigstens ebensoviele lebendige Schlangen, wie er getötet hatte, und so blieb die Geschichte ruhen.«

»Ein gutes Licht wirft dies nicht gerade auf den Indier,« meinte Ellen,

»Shikari that dies nur, weil er die Engländer als fremde Eindringlinge betrachtete und sich daher für berechtigt hielt, ihnen den vermeintlichen Raub anf jede nur mögliche Art zu schmälern. Im übrigen ist Shikari ein guter und mildthätiger Mann, welcher der erste ist, der bei Wassersnöten, Feuersbrünsten u. s. w. den davon betroffenen Eingeborenen seinen Geldbeutel öffnet. Er ist reich, denn er ist kein gewöhnlicher Gaukler, der sich auf der Straße produziert, sondern wird an Fürstenhöfe bestellt, besonders, wenn ausländische Größen sich in Indien zum Besuche aufhalten. Jetzt lebt er nur noch seinem Vergnügen und der Dressur vou Tieren. Sein Sohn Mukthar hat das Geschäft des Vaters übernommen.«

Ellen schwieg eine Weile, dann fragte sie wieder:

»Soll die Bezeichnung ,König der Gaukler' nicht auch darauf deuten, daß er über alle diese fahrenden Leute herrscht?«

Harrlington lächelte.

»Es wird allerdings davon gemunkelt, daß alle Gaukler unter ihm stehen, ja, daß er sogar über Leben und Tod derselben entscheiden kann, aber ich halte dies für leere Redereien. Die Gaukler Indiens sind freie Leute, sie ziehen bald hierhin, bald dorthin, sammeln ihre Kupfermünzen ein und kümmern sich um keinen Herrn oder König.«

»Haben Sie aber nicht gemerkt, wie herrisch Mukthar gestern unserem Gaukler gegenüber auftrat, und wie demütig sich der Mann dabei benahm? Leider konnte ich die auf Indisch geführte Unterhaltung nicht verstehen.«

»Ich habe nicht darauf geachtet,« sagte Harrlington, »meine Aufmerksamkeit war ganz Miß Thomson gewidmet. Es ist ja aber leicht möglich, daß Shikari Leute ausschickt, die in seinem Brot stehen und das gesammelte Geld abgeben müssen, er liefert ihnen dafür Apparate und dressierte Schlangen. Ein solcher Höriger war vielleicht auch dieser Gaukler.«

»Ich aber kann Ihnen erzählen,« sagte Ellen mit Betonung, »daß Shikari doch mit Recht der König der Gaukler genannt wird, denn alle diese stehen unter seinem direkten Befehl; er schickt sie hin, wohin er sie haben will, er bestraft sie, und wenn sie ihm wiederholt ungehorsam sind oder sich grober Vergehen gegen die Zunft der Gaukler schuldig machen, kann er sie töten, und zwar mit Einwilligung der übrigen.«

»Woher wissen Sie das?« fragte der Lord erstaunt.

»Ich weiß es aus ganz sicherer Quelle, ebenso sicher, als hätte er selbst es mir erzählt. Früher, als Shikari selbst noch die Aufsicht führte, waren die Gaukler und Schlangenbändiger hauptsächlich diejenigen, welche einen Aufstand vorbereiteten, geheime Sendungen besorgten und überhaupt den Engländern Schwierigkeiten bereiteten –ihre Taschenspielerkunst machte dies sehr leicht. Seit aber der gegen die Engländer freundlich gesinnte Mukthar seinen Vater abgelöst hat, werden die Gaukler nicht mehr zu derartigen Geschäften verwendet, sondern ziehen nur harmlos im Lande herum. Trotzdem stehen sie aber alle noch unter dem Befehl des Schlangenkönigs.«

»Dann sind Sie besser darüber orientiert als ich, und ich will Ihnen nicht widersprechen. Doch dort ist die vierte Spalte, in die wir einbiegen müssen.«

Harrlington deutete dabei auf eine Oeffnung in der Felswand, die so glatt und gerade hindurchlief, als wäre sie von Menschenhänden in den Stein gehauen worden. Die Wände traten so nahe aneinander heran, daß kaum zwei Reiter sich nebeneinander halten konnten.

Nach einigen Minuten hatte man diesen Durchgang hinter sich, und die Spalte begann Windungen zu machen, bald erweiterte sie sich, bald ward sie so eng, daß die Kleider des Reiters die Felswände streiften. Ueber den Häuptern hingen riesige Felsblöcke, welche dem Sonnenlicht den Zutritt verwehrten, einmal mußte die Gesellschaft sogar minutenlang durch einen Tunnel reiten, in dem vollständige Finsternis herrschte.

Harrlington zündete, ebenso wie die anderen Herren, Streichhölzer an; denn wer wußte, ob sich vor ihnen nicht plötzlich ein Abgrund öffnete oder sonst Gefahren im Wege lagen. Durch das Licht aufgescheucht, huschten Fledermäuse über die Köpfe der Reisenden hin und schlugen klatschend gegen die Wand.

»Schauerlich,« sagte Ellen und schüttelte sich, »die Namen »Sitz des Teufels« und »Schlangenkönig« passen hier zusammen.«

»Es ist eine Burg, wie sie keine Menschenhand besser hätte bauen können,« meinte Harrlington, »eine Hand voll Leute hält hier ein ganzes Regiment Soldaten im Vordringen auf. Nur ein einziger Felsblock braucht oben gelöst zu werden, und der Durchgang ist schon für Tage unmöglich gemacht.«

Als sie den Tunnel hinter sich hatten, machte der Weg eine scharfe Biegung. Die Wände standen wieder so weit auseinander, daß der Lord neben Ellen reiten konnte.

Eben bogen sie um die Ecke, als beide plötzlich nach den Revolvern fuhren. Vor ihnen, nur zehn Schritte entfernt, stand schweifwedelnd ein mächtiger Königstiger und stieß ein wildes Knurren aus.

Der Zug stockte. Ellen hielt den Atem an und hob den Revolver, aber ihr Arm wurde von Harrlington niedergedrückt.

»Um Gottes willen, nicht schießen,« flüsterte der Lord, »er gehört dem Shikari.«

Es pflanzte sich schnell nach hinten von Mund zu Mund fort, was die Ursache des Haltens sei. Die beiden Vordersten standen und gingen nicht vorwärts und der Tiger nicht rückwärts; die glühenden Augen auf Ellen gerichtet, wedelte er mit dem Schweif und ließ sein Knurren hören.

»Die Situation wird lächerlich,« sagte Ellen; »wer sagt uns, daß die Bestie zahm ist?«

»Es giebt hier keine wilden mehr,« entgegnete Harrlington, »aber was sollen wir machen? Er scheint als Wächter angestellt zu sein.«

»Geben Sie ihm ein Stückchen Zucker,« ließ sich von hinten Charles Stimme vernehmen.

Unwillig setzte Ellen ihr Pferd in Bewegung, aber sofort kauerte sich der Tiger nieder und brüllte laut.

»Kali,« rief hinter dem Felsen eine Stimme, »wer ist da?«

Der Name Kali hat in Indien einen schrecklichen Klang, ihn führt die Göttin der Vernichtung, der noch vor wenigen Jahren, manchmal auch noch jetzt, Menschenopfer gebracht wurden.

Da bog um den Vorsprung ein Indier und blieb beim Anblick der Gesellschaft stehen.

»Dürfen wir Shikari einen Besuch abstatten? Wir kommen als Freunde,« rief sofort Harrlington.

»Folgt mir!« entgegnete der Mann, lockte die Tigerin, die liebkosend an ihm emporsprang, und schritt voran. Zweimal mußte man noch um Felsen biegen, dann erweiterte sich die Spalte und führte in eine Schlucht, groß genug, die ganze Gesellschaft bequem aufzunehmen.

Am Eingange saßen einige Leute um ein Schachbrett, und neben ihnen lag Kali, die Wächterin dieses Thores. Sonst war nichts weiter in der Schlucht zu sehen.

Sie war rings von Felswänden eingeschlossen, als wäre kein anderer Ausweg als der, woher sie eben kamen, aber die Wände waren zerklüftet und zerrissen, überall sah man Löcher, Höhlen und Spalten in ihnen.

Der Indier, welchen Harrlington zuerst angeredet, ging nach einer derselben und verschwand in ihr.

Nach einer Minute kam er zurück,

»Der Schlangenkönig will Euch nicht sehen,« sagte er kurz.

»Sage ihm, die Dame, deren Leben gestern sein Sohn gerettet habe, wolle diesem danken und brächte Geschenke mit.«

Der Indier warf einen Blick auf die zahlreiche Gesellschaft, welche aus fünfzig Personen bestand, und ging wieder nach der Spalte.

»Ihr sollt Eure Geschenke behalten, Mukthar braucht keine Geschenke,« sagte er, als er zurückkam.

»Das nennt man abgeblitzt,« lachte Charles, »wenn wir jetzt nicht gutwillig gehen, hetzt uns der Kerl mit seinen Tigern und Schlangen zum Hause hinaus.«

»Gehe nochmals hin und sage, ich hätte –«

Ellen wurde unterbrochen.

»Shikari nimmt keinen Besuch an, den nur die Neugierde herführt,« sagte der Inder, »und niemals so viele. Komme allein wieder!«

»Ich hätte ihm Grüße von Dchatalja zu bestellen,« fuhr Ellen ruhig fort.

Die Wirkung, die dieser Name hervorbrachte, war eine wunderbare.

Der Indier richtete verwundert den Kopf empor und seine Gefährten, die ruhig weitergespielt hatten, sprangen gleichzeitig auf; selbst der Tiger hatte sich, wie seine Herren erhoben.

Diesmal kam der Indier zurückgerannt.

»Wer rennt,« erklärte Charles der Miß Thomson, »hat gewöhnlich große Eile; also werden wir jetzt entweder mit Eilpost hinausbefördert oder ins Innere des Heiligtums geschleppt.«

»Ihr seid dem Schlangenkönig willkommen,« sagte der Indier, »er will Euch gleich empfangen. Steigt einstweilen von den Pferden!«

Er löste eine kleine Pfeife vom Gürtel und stieß einen schrillen Pfiff aus.

Sofort kamen aus allen Höhlen und Löchern Hindus hervor, nahmen den Herren und Damen die Zügel ab und führten die Pferde durch Spalten in unsichtbare Ställe.

In dem erst so öden Felsenkessel wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen.

Die Ankömmlinge wurden durch einen Riß in eine andere Schlucht geführt, welche sich nach oben verengte, während sie unten sehr geräumig war.

Wenn der Ausdruck Schlucht gebraucht worden ist, so war dabei nur an die natürliche Entstehung des Saales gedacht, in welchen die Gesellschaft geführt wurde, denn nichts fehlte hier, was man in dem Empfangssalon eines Fürsten zu sehen gewöhnt ist.

Den steinernen Boden bedeckten weiche Teppiche, längs der Wände zogen sich schwellende Diwans hin, Stühle und Tische standen umher, kurz, der ganze Raum war mit dem größten Luxus ausgestattet. Erhellt wurde er von dem Tageslicht, welches von oben hereinfiel, aber die Wände näherten sich so, daß bei Regen der ganze Saal mit Brettern oder ähnlichen Schutzvorrichtungen überdeckt werden konnte.

Man konnte sich nicht genug wundern, hier in diesem unwirtlichen Gebirge eine solche Pracht zu finden. Es war ein in den Felsen gehauener Palast.

Doch weder Shikari, noch Mukthar ließen sich sehen, um die Gäste zu begrüßen, und so mußten diese sich selbst die Zeit durch Gespräche verkürzen, bis ihre Wirte erschienen.

»Steht jene Dchatalja, deren Namen Sie vorhin nannten, in Verbindung mit den befreiten Sklavinnen?« fragte der Lord Ellen.

»Ja, doch bitte ich Sie, auch die anderen Herren davon zu benachrichtigen, daß vorläufig dieser Name nicht wieder genannt wird. Ich hatte ihn mir als letztes Mittel aufgehoben, um in das Reich des Schlangenkönigs eindringen zu können. Entweder wurden wir dann sofort abgewiesen oder wir wurden zum Eintritt veranlaßt, aber ich fürchte, ich werde noch auf viele Schwierigkeiten stoßen. Sehen Sie da, ist das nicht Mukthar selbst?«

Im Hintergründe des Saales stand die hohe Gestalt eines Indiers an der Wand lehnend, die Arme übereinander gekreuzt und die Gesellschaft beobachtend. Er war in einfache, weite Gewänder gehüllt, aber der Stoff war ein sehr feiner, und der die schmalen Hüften umchließende Gürtel war mit Edelsteinen besetzt. Niemand hatte ihn vorher gesehen, er mußte durch einen geheimen Eingang in der Wand plötzlich in den Saal getreten sein.

Als er sah, daß Ellen ihn erblickt hatte, trat er auf diese zu.

»Ihr seid mir als Gäste willkommen. Wo ist die Dame, welche Shikari, meinem Vater, Grüße überbringen wollte?« fragte er mit wohlklingender Stimme.

»Ich bin es selbst,« entgegnete Ellen.

»Nicht mein Vater ist es,« fuhr er fort, »der Euch bei Nennung dieses Namens empfangen hat, sondern ich, Mukthar. Seht Euch vor, daß der Klang dieses Wortes nicht in das Ohr Shikaris dringt. Aber als meine Gäste seid Ihr auch die meines Vaters, er wird Euch gleich begrüßen.«

»Ich dachte es mir,« seufzte Ellen.

War der junge Indier auch nur ein Gaukler, so zeigte er sich doch als vollkommener Weltmann. Eine Vorstellung der einzelnen Personen schlug er mit der lächelnden Bemerkung ab, zum Gedächtniskünstler besitze er keine Talente, war aber nie in Verlegenheit, einem Herrn oder einer Dame etwas Angenehmes zu sagen. Die Danksagungen von Miß Thomson nahm er gelassen entgegen, er habe nur das gethan, was jeder andere auch gethan haben würde.

Der Eintritt Shikaris bewirkte eine Unterbrechung der Unterhaltung.

Er war ein sehr alter Mann, etwas gebeugt gehend, und mit schneeweißem Haupthaar und Vollbart. Er besaß dieselben edlen Gesichtszüge, wie sein Sohn, wie überhaupt fast alle Indier, nur zeigte er nicht das zurückhaltende, aber freundliche Benehmen desselben, sondern war lebhaft und schien Anlagen zum Jähzorn zu besitzen.

War die Gesellschaft erst sehr erstaunt gewesen, hier einen Salon zu finden, so trat bald das Gegenteil ein, nämlich Enttäuschung über den höflichen Empfang, der sich durch nichts von dem im Hause irgend eines vornehmen Indiers unterschied. Während aber niemand sich diese Enttäuschung nicht merken ließ, sprach Charles sie ungeniert aus.

»Claus Uhlenhorst,« sagte er zu dem neben ihm sitzenden Detektiven, der nebst dem Kapitän Hoffmann sich der Gesellschaft angeschlossen hatte – nur Lord Hastings und ein anderer Herr hatten den Besuch bei dem Schlangenkönig für Unsinn erklärt und spielten im Hotel eine Partie Whist – »Claus Uhlenhorst, warum stieren Sie so nachdenklich auf das Loch in der Wand?«

»Ich warte ab, ob nicht bald eine Schlange herauskriecht,« entgegnete gähnend der Gefragte.

»Stecken Sie doch einmal den Finger hinein. Beißt es, dann ist eine drin, sonst nicht.«

»Ich kam hierher in der Erwartung, Schlangen und andere geschwänzte Ungeheuer zu sehen, und jetzt sitzt man hier und fängt vor Langeweile Fliegen.«

»Kommen Sie,« sagte Charles und stand auf, »jetzt gehen wir einfach hinaus und suchen einmal auf eigene Faust die Menagerie. Halt!« unterbrach er sich, »Jetzt werden Erfrischungen herumgereicht, da stecken wir uns die Taschen voll und füttern dann die Affen.«

Diener brachten auf Präsentiertellern Kaffee und Gebäck.

Schon wollte sich Charles mit dem Detektiven hinausbegeben, als Shikari seine Gäste selbst aufforderte, ihn zu begleiten, und sein Sohn fügte lächelnd hinzu, wenn sie gehofft hätten, hier auf Schlangengrotten und ähnliche Sehenswürdigkeiten zu stoßen, so hätten sie sich allerdings getäuscht, schon manchem Besucher wäre es so ergangen.

Als Lord Harrlington mit Ellen einmal allein war, sagte sie zu ihm:

»Merkwürdig ist es, daß uns Shikari erst so grob abweisen ließ, während er sich jetzt der größten Höflichkeit befleißigt.«

»Mir ist es aber verständlich,« entgegnete der Lord. »Wenn er nicht jedem kurzweg die Thür wiese, so würde er bald von Reisenden überlaufen werden, welche schon wegen dieser Felsenwanderung herkämen. Hat er aber einmal einen Gast empfangen, so ist er auch ein freundlicher Wirt.«

Ellen suchte den Mukthar auf und führte mit diesem ein eifriges Gespräch, sie schien sich nicht sehr für das zu interessieren, was Shikari seinen Gästen zeigte.

Alle Spalten führten in ähnliche Felsenkammern, wie sie eben eine verlassen hatten, nur waren sie einfacher eingerichtet, je nach dem Zwecke, dem sie dienten.

In der einen hockten viele Indier am Boden und fertigten seltsame Gegenstände.

Auf die verwunderte Frage, wozu dieselben dienten, sagte ihnen Shikari, bei ihm würden fast alle in Indien gebrauchten Zauberapparate gefertigt.

»So bedienen sich diese Leute also auch der Apparate?« fragte einer der Herren.

»Natürlich. Sie können ohne diese ebensowenig etwas machen, wie die Zauberkünstler in Euren Ländern. Ich kenne diese sehr wohl, und wir sind ihnen in der Herstellung solcher Apparate weit überlegen. So zum Beispiel fertigt Ihr die Apparate schön, aus poliertem Holz, mit Verzierungen versehen, an, wir dagegen von möglichst plumpem Aussehen, und was dies für ein Vorzug ist, läßt sich leicht begreifen. Nehmen wir das Kunststück mit dem Krug an, welcher sich immer von selbst füllt. Ich habe dasselbe Kunststück von einem reisenden europäischen Taschenspieler gesehen, der sich dabei eines eleganten Kruges bediente. Zerschlüge er nun wirklich zum Schluß diesen kostbaren Krug, so würde dies an sich schon unnatürlich aussehen, aber er thut es nicht. Unsere Gaukler dagegen haben einen ganz plumpen Steintopf, für den sie zuletzt einen anderen unterschieben und zerschlagen. Diese Scherben können sie herumgehen lassen, um sich den Anschein zu geben, daß der Topf keinen Wert für sie habe.«

Man mußte ihm beistimmen.

Der Schlangenkönig, der Name kam ihnen jetzt wie Spott vor, sagte ihnen, daß er zu seinem Vergnügen wilde Tiere dressiere, und zeigte ihnen in einer anderen Grotte vergitterte Käfige mit Tigern, Wölfen, Panthern und anderen Raubtieren,

Keiner der Gäste hatte auch nur Lust, ihn aufzufordern, einige der Tiere vorzuführen.

Die Enttäuschung wuchs von Schritt zu Schritt.

»Wo aber sind die Schlangen?« fragte einer.

»Schlangen?« sagte lächelnd der Shikari. »Ich habe keine solche hier, der Name Schlangenkönig rührt nur daher, daß ich mich früher als Gaukler mit der Dressur derselben beschäftigt habe. Uebrigens können Schlangen eigentlich nicht dressiert werden. Die Musik und das Auge des Bändigers sind es, was die Tiere bezaubert und sie vom Beißen abhält. Man muß studiert haben, welche Töne bei ihnen die größte Wirkung hervorbringen, und je vollkommener man dieselben auf der Pfeife wiedergeben kann, desto williger verlassen die Schlangen ihr Versteck, lassen sich fangen und, wie man sagt, zum Tanzen abrichten. Ich gebe mich nicht mehr damit ab, es ist die Sache der gewöhnlichen Gaukler.«

Miß Thomson wandte sich an Charles und flüsterte:

»Dieser Mensch entnüchtert mir alle Poesie Indiens.«

Da wurde Charles schon wieder am Arm berührt, hinter ihm stand Sharp, der ihm winkte, etwas zurückzubleiben.

»Sir Williams, Sie wetten doch so gern! Was wetten wir, daß der Schlangenkönig und sein Kronprinz die ganze Gesellschaft zum Narren hält, mich natürlich ausgenommen?«

Charles starrte den Detektiven mit offenem Munde an.

»Wie meinen Sie das?« fragte er endlich.

»Daß es ein ganz geriebener Kerl ist, der viel mehr weiß und viel mehr hat, als er uns zeigt.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Weil er so ungemein darauf bedacht ist, alles ganz selbstverständlich hinzustellen. Er wäre auch ein schöner Esel, wenn er dem ersten Besten seine Geheimnisse verraten wollte. Umsonst steht der Tiger aber jedenfalls nicht als Kettenhund an dem Thor.«

Jetzt forderte der Wirt seine Gäste auf, in dem ersten Felsenhof noch der Vorstellung eines dressierten Elefanten durch einen Indier beizuwohnen.

»Das heißt mit anderen Worten: dann sollen wir machen, daß wir hinauskommen,« sagte der Detektiv zu Charles, »und wie zum Teufel kommt denn überhaupt ein Elefant hier in dieses Labyrint? Die Spalte, durch welche wir kamen, ist viel zu schmal für einen solchen Riesen. Aber auch der Fuchs hat mehrere Ausgänge aus seinem Bau.«

Aus einer geräumigen Höhle wurde ein mächtiger Elefant mit prachtvollen Stoßzähnen geführt, der unter der Leitung seines Wärters Kunststücke ausführte. Sie waren wohl bewundernswert, aber den Herren und Damen waren sie nichts Neues.

Sie hatten in einem weiten Kreis auf Stühlen Platz genommen, und sonderbar war es, wie Mukthar die Aufstellung derselben vorgenommen hatte. Shikari saß neben Ellen, aber ihre Stühle waren weit von den anderen entfernt, als nähmen sie einen Ehrenplatz ein. Die Entfernung war eine so weite, daß ihr Gespräch nicht gehört werden konnte, und sie unterhielten sich sehr eifrig.

Ebenso, wie diese beiden, beschäftigten sich auch die anderen Gäste weniger mit den Künsten des Elefanten, sondern vielmehr mit Shikari und Ellen, welche ein ganz merkwürdiges Benehmen zeigten. Ellen sprach auf den Indier ein, dieser antwortete heftig, sprang sogar auf, stampfte mit dem Fuß auf den Boden und sank dann wieder wie gebrochen auf den Stuhl.

Nur einmal wurde die Aufmerksamkeit durch etwas anderes von diesen beiden abgelenkt.

Durch den Eingang kam ein Indier zu Pferd, in der Uniform der Postbeamten, gesprengt und fragte nach Kapitän Hoffmann. Dieser nahm ihm ein Telegramm ab, überflog es und verabschiedete sich dann von der Gesellschaft mit der Entschuldigung, er müsse sofort mit dem Eilzug nach Bombay reisen, seine Anwesenheit auf dem >Blitz< sei nötig. Der Steuermann Uhlenhorst dagegen könne noch hierbleiben und erst später nachkommen.

»Wir fahren nicht mit der Eisenbahn nach Bombay zurück,« sagte Ellen, »sondern von Madras aus mit einem Dampfer.«

Der Ingenieur sann eine Weile vor sich hin, besprach sich dann mit seinem Steuermann, d. h. mit dem Detektiven, längere Zeit und entfernte sich.

»Sie sind heute so furchtbar zerstreut,« sagte Miß Thomson zu Charles, der an ihrer Seite saß, »jetzt frage ich Sie, ob Sie dieses Kunststück schon einmal von einem Elefanten gesehen haben, und Sie antworten: Morgen, heute noch nicht. Warum starren Sie denn nur unverwandt nach Miß Petersen?«

»Ich muß. Es ist nämlich furchtbar interessant, was sich die beiden dort erzählen, und wenn ich nicht immerwährend aufpasse, dann ist alles verloren.«

»Sie sind heute wieder vollständig ver ... verlegen.«

»Verrückt,« ergänzte Charles, »sprechen Sie es nur ruhig aus. Aber nehmen Sie mir dies nicht übel, ich muß heute noch eine Hauptrolle spielen.«

»Sie haben doch keine Ahnung, über was sich diese beiden unterhalten.«

»Vielleicht mehr als Sie,« entgegnete Charles mit pfiffigem Lächeln.

»Ich glaube kaum.«

»Ich werde Ihnen aufschreiben, um was sich das Gespräch dreht, und wenn es auch die anderen erfahren, so können Sie nachsehen, ob ich alles nicht schon vorher gewußt habe. Wollen Sie?«

»Gut, es gilt.«

Charles riß aus dem Notizbuch ein Blatt Papier, schrieb einige Zeilen darauf und faltete es zusammen.

»So! Versprechen Sie mir aber auch, es nicht vorher zu lesen.«

»Nein, ich werde es nicht thun.«

»Dann stecken Sie es ein!«

Miß Thomson nahm das zusammengefaltete Blatt und steckte es in die Tasche. Beide begannen wieder eine Unterhaltung, plötzlich aber sprang Charles auf, ließ sich sein Pferd vorführen und jagte in Karriere über den Platz nach dem Ausgang.

»Das sieht fast so aus, als ob er wirklich wüßte, wovon die beiden sprechen. Nun, ich brauche ja nur seinen Zettel zu lesen. Allerdings habe ich gesagt, ich würde ihn erst nachher lesen, aber das macht ja nichts.«

So dachte Miß Thomson, zog den Zettel aus der Tasche und las:

»Teure Betsy, ich liebe Sie, aber Sie glauben mir doch nicht, wenn ich es Ihnen sage. Deshalb gestehe ich es Ihnen schriftlich.« – –

Lauschen wir nun dem Gespräch, welches Ellen während der Vorstellung mit Shikari führte und wodurch der Indier so aufgeregt wurde.

Ellen hatte lange Zeit der Vorstellung des Elefanten schweigend zugesehen. Als der Wärter des Tieres durch Mukthar abgelöst wurde, welcher mit ihm Kunststücke vornahm, kam Ellen auf den Sohn zu sprechen.

»Ist Mukthar dein einziges Kind?«

»Ja,« entgegnete kurz der Indier.

»Hast du keine anderen gehabt?«

»Nein.«

»Warum sagst du mir nicht die Wahrheit, Shikari? Ich weiß, daß du noch eine Tochter gehabt hast,« sagte Ellen einfach.

Der Indier sah mit finsterem Blick die Sprecherin an.

»Ich habe eine Tochter gehabt, ich kenne sie nicht mehr,« murmelte er dumpf.

»Warum nicht? Darum vielleicht, weil sie dem Manne, den sie liebte, in die Ferne gefolgt ist? Daran tust du sehr unrecht!«

Der alte Mann sprang auf.

»Du bist mein Gast,« grollte er. »Wenn du etwas erfahren hast, so brich meine alten Wunden nicht wieder auf.«

»Ich habe deine Tochter Dchatalja getroffen, sie hat mich beschworen, deine Verzeihung zu erflehen, und ich werde nicht eher von hier gehen, als bis ich diese erlangt habe.«

»Nimmermehr,« rief der Indier mit starker Stimme, »sie ist von mir gegangen ohne meine Einwilligung, sie ist von mir geflohen ohne Abschied, und nie werde ich mich bemühen, sie wiederzusehen.«

»Und warum ist sie von dir geflohen? Weil du nicht einwilligen wolltest, daß sie einem Engländer als Weib angehören sollte, denn du haßtest diese Nation.«

»Nicht mehr,« entgegnete Shikari wehmütig, »die Zeiten sind vorüber, da ich mich mit voller Manneskraft gegen ein aufgezwungenes Joch stemmen wollte. Das Alter macht klug, ich habe eingesehen, daß es für uns besser ist, wenn eine milde, aber kräftige Hand uns regiert, als wenn wir von despotischen Fürsten beherrscht werden. Aber damals,« fuhr er wieder hastig fort, »befahl ich ihr allerdings, sich von jenem Engländer loszureißen, an den sie ihr Herz gehängt hatte. Aber was that sie? Bei Nacht entfloh sie mit ihrem Geliebten. Als ich am Morgen aufstand, war sie fort, ohne Abschied, ohne mir ein Wort zu hinterlassen; der Tiger, der am Thore lag, war vergiftet, das Tier, das sie selbst groß gezogen hatte.«

Der Mann verbarg das Gesicht in seinen Händen.

»Du mißt dem Mädchen alle Schuld bei,« begann nach einer Pause Ellen wieder, »und von dem Manne sprichst du gar nicht.«

»Was geht er mich an?«

»Er ist der schuldige Teil, denn das Herz des Weibes hängt mehr an dem Geliebten, als an den Eltern, so zeigt es uns überall die Natur. Wäre er ein Ehrenmann gewesen, so hätte er sie nicht entführt, wenn ein wirklicher Grund eine Heirat unmöglich machte.«

»Habe ich meine Tochter zur Bajadere erziehen lassen, daß sie sich an den ersten Mann wegwirft?« fuhr Shikari auf. »Mag sie an der Seite ihres Entführers, fern vom Heimatlande, glücklich sein! Ich habe keine Tochter mehr, sprich nicht mehr von ihr.«

Auf diese Weise war mit dem Manne nichts anzufangen, sagte sich Ellen, aber sie hatte noch mehr Hilfsmittel zu Gebote, um das Herz des Vaters zu rühren. Sie glaubte aus dem Zittern seiner Stimme zu hören, daß es ihm mit seiner Entrüstung nicht der rechte Ernst war.

»Hast du nichts wieder von ihr gehört?« begann sie abermals.

»Nie wieder, ich will auch nichts mehr hören, sprich nicht mehr von ihr.«

»Ich habe deine Tochter Dchatalja getroffen,« fuhr Ellen unbeirrt fort. »Willst du nicht erfahren, wie es ihr geht?«

Der Indier schwieg.

»Willst du nicht wenigstens hören, ob die Tochter deiner noch gedenkt?«

»Wie fandest du sie, war sie glücklich?« fragte er endlich tonlos.

»In Elend, Schmach und Schande!« sagte Ellen mit Nachdruck.

Shikari starrte die Sprecherin entsetzt an.

»Auf dem Sklavenmarkt.«

Der alte Mann stöhnte laut auf, vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte wie ein Kind.

»Dchatalja, meine Tochter, auf dem Sklavenmarkt!« jammerte er.

In diesem Augenblick war es, als Charles plötzlich seinen Platz verließ und auf seinem Pferde davonjagte; in der nächsten Minute verschwand auch Mukthar durch die Spalte.

Als sich der alte Mann etwas beruhigt hatte, begann Ellen wieder:

»Willst du nun hören, wie und wo ich Dchatalja getroffen habe?«

Der Indier nickte nur.

»Du glaubtest, sie sei an der Seite jenes Mannes, den sie liebte und dem sie so willig folgte, glücklich und zufrieden?«

»Ich hoffte wenigstens so,« murmelte er.

»So laß dir ihre Geschichte erzählen, und du wirst dann selbst gestehen, daß sie nicht so schuldig ist, wie du glaubst. Und wäre sie es auch, die Leiden, welche sie durchzumachen gehabt hat, müßten das Herz eines jeden zur Verzeihung bewegen, um wieviel mehr das eines Vaters. Hast du noch niemals daran gedacht, daß du selbst den Anlaß dazu gegeben hast, indem du, anstatt Dchatalja, wie die anderen Töchter Indiens, in ihren Gemächern zu lassen, sie mit an die Höfe nahmst und bei deinen Vorstellungen verwendet hast, weil du auf ihre Schönheit stolz warst?«

»Du hast recht,« murmelte Shikari zerknirscht, »ich selbst war mit der schuldige Teil. Erzähle mir von meinem unglücklichen Kinde.«

»Es war ein Leichtes für den englischen Gesandten, der am Hofe weilte, das Herz des jungen Mädchens zu bestricken, es soweit zu bringen, daß es auf seinen Vorschlag, mit ihm zu fliehen, einging. Dchatalja wußte, daß, du ihr nie die Einwilligung geben würdest, einen verhaßten Engländer zu heiraten, aber die Liebe zu ihm war mächtiger als die zu dir, was man ihr nicht als Unrecht vorwerfen kann, und so floh sie mit ihm, in dem festen Glauben, er würde sie als sein Weib nach England führen,«

»That er dies nicht?«

Des Indiers Augen funkelten bei dieser Frage wie die seines Tigers.

»Nein. Es war nicht so leicht, Dchatalja unbemerkt aus diesem bewachten Felsenhaus zu entführen. Doch der Engländer fand für Geld einen Gaukler willig, ihn bei seinem Unternehmen zu unterstützen. Der schlaue Bursche mußte hier Bescheid wissen, mit der Gewandtheit der Schlange, die er dressierte, schlich er sich ein, betäubte die Wächter, vergiftete den Tiger am Ausgang und brachte Dchatalja hinaus.«

»Wie hieß der Gaukler?«

»Du wirst ihn wohl nicht kennen; ich weiß bestimmt, daß er nicht zu denen gehörte, über welche du befiehlst, denn er war weit aus dem Norden und trat, wie ich glaube, überhaupt nur gelegentlich als Gaukler auf, wenn er eine seiner Schandthaten ausführen wollte. Die beiden reisten nach einer kleinen Hafenstadt, um, wie der Engländer vorgab, einen Dampfer abzuwarten, der sie nach seiner Heimat bringen sollte. Aber dem Schurken kam eine solche Absicht gar nicht in den Sinn. Er schob die Abreise von Woche zu Woche hinaus, bis er schließlich eines Nachts spurlos verschwand. Dchatalja war außer sich und wollte verzweifeln, denn den Rückweg zu dir wußte sie verschlossen, und das unerfahrene Kind war in einer fremden Stadt sich vollkommen selbst überlassen. Es erschien ihr als ein großes Glück, als sie eines Tages jenen Indier traf, der bei ihrer Entführung geholfen hatte. Dieser Mann bot sich auch sofort an, sie einstweilen bei entfernten Verwandten unterzubringen, von wo aus sie sich um deine Verzeihung bemühen solle und brachte sie auch wirklich an Bord eines Schiffes. Es gehörte einem Mädchenhändler, an den ihr eigener Landesmann sie verkauft hatte. Sie wurde erst nach Kleinasien gebracht, wo sie einem Kinde das Leben schenkte. Auf der Fahrt nach der Türkei starb es, und so wurde Dchatalja auch noch ihres letzten Glückes beraubt.«

»Und wo trafst du sie?«

Bis jetzt hatte Ellen die Wahrheit erzählt, nun aber mußte sie etwas erdichten, um das Herz des Vaters noch weicher zu stimmen.

»Es war auf einem türkischen Sklavenmarkt, wie solche noch heimlich abgehalten werden. Einst verschaffte ich mir Zutritt zu einem solchen, und hier erfuhr ich das Schicksal Dchataljas aus ihrem eigenen Munde. Ich bot dem Sklavenhändler Summe für Summe, ich versprach ihm, das Gewicht des Mädchens in Gold auszuzahlen – er konnte sich nicht mehr darauf einlassen, Dchatalja war bereits an einen persischen Fürsten verkauft, der das schöne Mädchen um alles in der Welt nicht fahren lassen wollte.«

Der noch immer rüstige Shikari schien während dieser letzten Erzählung Ellens um Jahre gealtert zu sein. Völlig gebrochen saß er in seinem Stuhl, den Kopf auf die Brust gebeugt und ließ die Thränen ungehindert in den weißen Bart rinnen.

»Was hat sie zuletzt noch gesagt? Hat sie meiner noch gedacht?« brachte er endlich hervor.

»Ihre letzten Worte galten dir. Als ich ihr mit blutendem Herzen Lebewohl sagte, fiel sie weinend vor mir nieder und sagte: ›Wenn du meinen Vater siehst, so erzähle ihm, wie du mich gefunden hast, und erbitte seine Verzeihung für mich.«

Der Indier hörte nicht, wie der Tiger am Thor laut aufheulte. Weinend saß er da und jammerte um sein verlorenes Kind.

»Der Tod wird sie bald von ihren Leiden erlöst haben; der Gedanke, daß du ihr nie vergeben würdest, ließ sie verzweifeln,« schloß Ellen.

»Sprich nicht so,« rief der Indier außer sich, »ich kann es nicht länger ertragen. O, Dchatalja, mein Kind, könnte ich dich noch einmal an mein Herz drücken!«

Laut schluchzend verhüllte er sein Gesicht.

Da wurden seine Kniee umschlungen, und eine von Thränen erstickte Stimme rief:

»Vater, so kannst du mir verzeihen?«

Der Indier glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können, und doch, diese Stimme hatte er oft Schmeichelstimmen sagen hören, es war keine Täuschung – vor ihm lag Dchatalja, die wiedergefundene Tochter.

Was soll noch lange geschildert werden, wie der alte Mann sie an seine Brust zog und sie wieder und wieder küßte? Wo waren sein Zorn, seine Entrüstung über das ungehorsame Kind? Nur Freude war in den Augen des Greises zu lesen. —

Charles hatte, begleitet von Mukthar, auf einen Wink Miß Ellens das unter dem Schütze Hastings zurückgelassene Mädchen geholt. Es war ihnen kaum gelungen, sich den Durchgang durch den Spalt zu erzwingen, denn die Tigerin hatte ihre einstige Gebieterin erkannt und wollte das Mädchen mit Liebkosungen erdrücken. Dchatalja wußte noch nicht, daß die Mutter des treuen Tieres ihretwegen vergiftet worden war,

Charles wollte Miß Thomdon aufsuchen, um durch einige Späße sein weiches Herz aufzumuntern, aber das Mädchen drehte sich um und sagte:

»Ich mag nicht mehr mündlich mit Ihnen verkehren, Ihr Briefstil gefällt mir zu sehr.«

»Verwünscht,« dachte Charles und schlug sich vor die Stirn, »daran habe ich gar nicht mehr gedacht,«

Noch hielten sich Vater und Tochter umschlungen, als schon wieder neue Besucher den Felsenhof betraten.

Einige Indier führten einen Mann mit auf dem Rücken gebundenen Armen dem Schlangenkönig vor.

»Die Sonne ist noch nicht untergegangen; auf Befehl Mukthars bringen wir den Mann, der gestern die Schlange entschlüpfen ließ, welche eine Faringi biß,« sagte ein kleiner zierlicher Hindu und verneigte sich tief vor Shikari. »Er versuchte mehrmals uns zu entkommen, aber meine Fesseln vermochte er mit aller seiner Kunst nicht abzustreifen.«

Die Hände des Gefangenen waren auf sonderbare Art mit Stricken umschlungen, und die Knoten zeigten eine ganz eigentümliche Form; die Gaukler können sich zwar aus Banden befreien, aber sie können auch Knoten schürzen, welche selbst der Geschickteste unter ihnen zu lösen nicht im stande ist.

Nur zufällig blickte Dchatalja auf den Gefangenen, aber kaum begegneten sich beider Augen, so wich letzterer entsetzt zurück, während das Mädchen sich plötzlich aufrichtete.

»Das ist der, der mich verkauft hat,« rief sie und deutete auf den Gefangenen.

Willenlos ließ er sich unter der Aufsicht Mukthars nach einer Höhle führen; von hier gab es kein Entspringen, er war in der Mitte solcher Männer, welche jede Flucht unmöglich machen konnten.

Der Detektiv schaute dem Schurken sinnend nach und ging dann zu Harrlington, mit dem er lange Zeit leise sprach.

Es wurde schon dunkel, als die Gäste von Shikari, von dessen Sohn und der wiedergeschenkten Tochter Abschied nahmen. Bevor sie sich trennten, hatte Harrlington noch eine Unterredung mit Mukthar und wurde dabei von dem Detektiven scharf beobachtet, der, obgleich weit entfernt stehend, mit seinen unglaublich scharfen Ohren kein Wort verlor.

»So willst du den Gefangenen nicht abgeben?« fragte Harrlington.

Der junge Indier schüttelte verneinend den Kopf. »Um keinen Preis; er verfällt der Rache meines Vaters.«

»Ich zahle dir hundert Pfund,« fing Harrlington an, hoffend, daß Geld seine Bitte unterstützen würde.

»Nein.«

»Zweihundert Pfund, dreihundert, achthundert, tausend Pfund?«

»Um keinen Preis,« entgegnete Mukthar, »warum willst du für diesen Schurken, der keine Kupfermünze wert ist, eine so hohe Summe zahlen?«

»Einer meiner Freunde muß ihn haben, weil der Gefangene vielleicht ein für ihn sehr wichtiges Geheimnis enträtseln kann.«

»Dann thut es mir leid, daß es nicht mehr in meiner Macht liegt, ihn dir ausliefern zu können,« sagte Mukthar, »ich würde ihn dir sonst schenken.«

Er sah lange sinnend vor sich hin, blickte dann den Engländer fest an und sagte:

»Ihr hofftet, wunderbare Merkwürdigkeiten hier zu sehen, und seid etwas enttäuscht, keine gefunden zu haben. Ich traue dir und der Lady, welche meine Schwester befreit hat, Ihr werdet nicht plaudern. Rufe deine Freundin und folget mir.«

Er schritt voraus, gefolgt von Lord Harrlington und Ellen, aber auch der Detektiv schloß sich ihnen mit der ihm eigentümlichen Ungeniertheit an, ohne den abweisenden Blick Mukthars zu beachten.

Sie gingen zuerst durch eine finstere Höhle, welche aber wiederum in einer kleinen Schlucht endete. In dieser öffnete Muktar eine schwere Thür, zog eine lange Pfeife aus dem Gürtel und sagte:

»Fürchtet Euch nicht und haltet Euch dicht hinter mir; es geschieht Euch kein Leid.«

Er schritt schnell durch die halbdunkle Spalte, und entlockte der Pfeife eine schrille, nervenerschütternde Melodie. Schaudernd sahen die hinter ihm Gehenden, wie überall aus den Löchern in den Felsenwänden züngelnde Schlangenköpfe mit funkelnden Augen hervorlugten. »Die Lieblinge meines Vaters,« sagte der Inder kurz, als er auf der anderen Seite die Thür schloß.

Jetzt mußten sie eine in Stein gehauene Treppe emporsteigen, bis sie auf dem Rücken des hohen Felsens standen. Vor ihnen gähnte ein Abgrund, und es war den dreien, als ob sie ein drohendes Knurren und ab und zu ein Knacken hören könnten.

Der junge Indier winkte, sich vorsichtig an den Rand des Abgrundes zu begeben. Finster deutete er in denselben, und sagte mit tiefer Stimme:

»So bestraft der König der Gaukler denjenigen, der ihm seine Tochter geraubt hat.«

Der Anblick, der sich ihnen bot, machte das Blut in den Adern erstarren.

In einem tiefen Felsenkessel sprangen eine Unmenge von Königstigern, Panthern und anderen Raubtieren umher und jagten sich gegenseitig die Stücke eines zerrissenen Körpers ab. Die zerstreut umherliegenden Kleider verrieten, daß der eben ausgelieferte Gefangene dort unten ein schreckliches Ende gefunden hatte.

Noch ehe die kleine Gesellschaft den Rückweg nach dem Felsenhof antrat, zog der gewissenhafte Detektiv das Notizbuch hervor und strich den Namen und die Beschreibung jenes Fakirs aus seinem Verbrecherregister.


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