Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 1
Robert Kraft

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13.

Ellens Verhaftung

Bald hatten sich Gruppen unter den Beteiligten gebildet, wie Freundschaft, Neigung oder Gelegenheit es mit sich brachten. Entweder ritt eine Dame neben einem Herrn oder zwei Herren nebeneinander, denn es waren ja mehr Herren als Damen vertreten.

Williams, der ein entsetzlich mageres, struppiges und steifbeiniges Tier ritt, das wahre Zerrbild eines Esels, hatte dieses sofort an die Seite von Miß Thomson gelenkt, denn bei keiner Gelegenheit unterließ er es, dieser Dame Beweise seiner Verehrung für sie zu geben, allerdings immer in der ihm eigentümlichen, drastischen Art.

»Sir Williams,« begann sie, »warum haben Sie sich gerade das häßlichste Tier ausgesucht? Sie als englischer Baronet sollten doch mehr Geschmack entwickeln. Ich schäme mich schon, wenn dieses Ungeheuer sich an meiner Seite befindet.«

»Urteilen Sie nicht vorschnell,« erklärte Charles mit einer ernsthaften Miene, die ihm gar nicht stehen wollte, »die unscheinbarste Schale enthält oft den süßesten Kern. Sehen Sie zum Beispiel einmal mich an. Auch ich bin nur ein kleiner, bescheidener, unansehnlicher Mensch, wenn Sie aber in mein Inneres sehen könnten, ich sage Ihnen, Sie würden staunen, was da für Schätze verborgen liegen. Nicht wahr, mein Tierchen?« fragte er seinen Esel.

»Y–y–ah,« antwortete dieser.

»Sehen Sie wohl, er bejaht es.«

Miß Thomson lachte hell auf.

»Was würde ich denn da zu sehen bekommen?«

»Vor allen Dingen, in einem großen, goldenen Rahmen, Ihr Bild, und dann – –«

»Und was dann?« – »Und dann noch einmal Ihr Bild.«

»O, Sie Schmeichler.«

»Ja, fragen Sie meinen Esel. Nichtwahr?« – »Y–y–ah,« brüllte dieser wieder.

»Was ist denn das nur mit Ihrem Esel, der antwortet wohl auf Kommando?«

»Er ist ein sehr verständiger Esel, fast ebenso klug wie ich und versteht jedes Wort. Ist das wahr oder nicht?« – »Y–y–ah.«

»Sehen Sie wohl, wie unrecht Sie ihm vorhin gethan haben?«

Auf diese Weise schwatzte er unaufhaltsam fort und ließ seinen Esel nach jeder kühnen Behauptung bejahend brüllen. Er hatte das Tier nur genommen, weil ihm sein Treiber verraten hatte, daß es, wenn man ihm stark die Schenkel gab, schrie. Miß Thomson kam aus dem Lachen nicht heraus.

Unterdessen fand an der Spitze des Zuges ein anderes Gespräch zwischen Lord Harrlington und Ellen statt, hinter denen Johanna und Sulima in Begleitung einiger Herren, darunter Lord Hastings, ritten.

»Sie gestehen also,« fragte Ellen, »daß Sie es waren, der die Ueberlistung des Mädchenhändlers durch uns hier in der englischen Zeitung geschildert hat?«

»Ich war es. Wir beobachteten Ihre Heldenthat von dem Inselchen aus, von dem die ›Vesta‹ nicht weit entfernt lag. Zürnen Sie mir, weil ich nicht verschwiegen gewesen bin? Ich glaubte, Ihnen und allen Vestalinnen damit eine Freude zu bereiten.«

»Das haben Sie auch, und wir sind Ihnen sogar dankbar dafür.«

»Dann ist mir eine Zentnerlast vom Herzen genommen,« rief Harrlington freudig aus. »Ich machte mir zuletzt doch Vorwürfe darüber, ohne Ihre Einwilligung gehandelt zu haben.«

»Wir sehnen uns förmlich darnach, jeden Tag ein ähnliches Abenteuer zu bestehen,« begann Ellen nach einer kleinen Pause wieder. »Man fühlt sich als ein anderer Mensch, kann man so seine Kraft gegen die eines anderen sehen, durch seinen Geist einen verderblichen Plan zu nichte machen, und dabei einen guten Zweck im Auge haben. Es ist dies doch etwas anderes, als wenn man bei Wetten nur aus Ehrgeiz seine Geschicklichkeit zeigt sein Leben aufs Spiel setzt.«

»Gewiß,« bestätigte Harrlington, »und besonders bei uns, denen der wagehalsige Sport zur Liebhaberei geworden ist, wird viel gegen die menschliche Natur gefrevelt. Doch was geht dort vor? Eine Menschenmenge hat sich angesammelt und versperrt uns den Weg.«

An einer Kreuzung von vier Straßen staute sich ein dichter Knäuel von Menschen, hauptsächlich Mohamedanern, die querlaufende Straße war frei gelassen worden, als ob auf ihr etwas erwartet würde; aber der Weg, auf dem die Gesellschaft kam, war vollständig für den Verkehr gesperrt, sodaß bereits eine Unmenge von Passanten, Reitern und Wagen harrte, bis der Durchgang wieder frei würde.

»Was ist hier los? Wird jemand erwartet?« fragte Ellen ihren Eseltreiber.

Dieser, ein verschmitzt aussehender Bursche, erkundigte sich bei den Umstehenden und sagte dann:

»Ja, Miß, der General Raham-el-Haschir, der ruhmvolle Sieger über den Mahdi, wird gleich hier vorbeikommen.«

»Raham-el-Haschir, der immer so ruhmvoll vor dem Mahdi ausgerissen ist! Was kümmert uns der?«

»Es war Allahs Wille.«

»Können wir denn nicht durchkommen? Ich habe keine Lust, hier einige Stunden zu warten; lieber wollen wir umkehren,« sagte Ellen unwillig.

Aber auch dazu war keine Möglichkeit vorhanden, denn hinter der Gesellschaft hatten sich bereits wieder andere Reiter und Equipagen angesammelt, und als jetzt die zuerst Stehenden von einigen ägyptischen Soldaten mit Stockhieben zurückgedrängt wurden, wurde jeder einzelne der Gesellschaft derart eingepreßt, daß er weder vor- noch rückwärts konnte.

»Ich werde schon sehen, ob ich Ihnen die Passage nicht verschaffen kann,« sagte Ellens Bursche mit pfiffigem Lächeln. »Den Schlauen liebt Allah.«

Er ergriff sein Tier am Zügel und versuchte, es ein wenig vorwärts zu drängen.

Fast schien es, als ob die vor ihm stehenden Araber seine Absicht unterstützen wollten, denn willig drückten sie sich zur Seite, sodaß eine kleine Lücke entstand, in die der Bursche schnell den Esel hineinschob.

Lord Harrlington, der durch einen fremden Reiter von Ellen getrennt worden war, versuchte das gleiche Manöver, aber wie eine Mauer standen vor ihm die Muhamedaner – sie wankten und wichen nicht, sondern murrten vielmehr, daß ein Franke, ein verfluchter Ungläubiger, sie zur Seite stoßen wollte.

»Führe meinen Esel auch durch,« herrschte er den Treiber seines Tieres an. Eine unnennbare Angst erfaßte ihn, als er sah, wie sich Miß Petersen weiter und weiter von ihm entfernte, immer der diesseitigen Grenze der Menschenmenge, also der offenen Straße zu.

»Es geht nicht, Effendi,« entgegnete der Eseljunge, der sich wirklich bemüht hatte, die Leute zum Platzgeben zu bewegen.

Schon hatte Ellen die offene Straße erreicht und ritt hinüber, um abermals ins Gewühl einzudringen.

»Um Gottes willen, Miß Petersen,« schrie Harrlington, »bleiben Sie, daß wir Sie wenigstens nicht aus den Augen verlieren.«

Aber sein Ruf ward schon nicht mehr gehört.

Die Menge brach plötzlich in lauten Jubel aus. Vorreiter kamen gesprengt und fegten die Straßen leer, ein unabsehbarer Haufe von Kindern drängte sich plötzlich heran, und Janitscharenmusik ward in der Ferne hörbar.

Jetzt war es zu spät, der Reiterin zu folgen. Sie war auf der anderen Seite eingelassen worden und hatte sich den Augen des Lords entzogen.

Eine innere Angst, die er sich selbst nicht zu deuten wußte, wühlte in ihm. Ratlos sah er um sich und bemerkte, daß auch Johanna Lind über das Verschwinden Ellens sich benuruhigt fühlte. Aber dieses Mädchen trat weit energischer auf, als er.

Ein Blick überzeugte sie, daß jetzt kein Durchkommen mehr möglich sei.

»Kannst du mich auf einem anderen, freien Weg nach der Seite drüben bringen?« fragte sie hastig den Burschen.

»Wohl, Miß, in fünf Minuten.«

»Dann thue es, aber schnell. Für jede Minute weniger bekommst du ein Geldstück mehr.«

»Es geht nicht, Miß, und wenn ich alle Schätze des Sultans dafür erhielte.«

In der That, die Esel standen ganz eingezwängt, sie konnten keinen Schritt machen.

Ohne ein Wort weiter zu sagen, sprang Johanna aus dem Sattel, ergriff das Tier mit der einen Hand beim Zügel, drückte ihm mit der anderen die Nüstern zu und drängte es mit unwiderstehlicher Gewalt zurück.

Ein unwilliges Rufen erhob sich zu Seiten des Mädchens, aber dieses ließ sich nicht in seinem Vorhaben stören; weiter und weiter schob Johanna den Esel zurück, alles rücksichtslos zur Seite stoßend.

Jetzt kam Leben in die Menge, hier und da entstand etwas Raum. Johanna kam an Sulimas Tier vorüber, faßte dessen Zügel und drängte es gleichermaßen rückwärts.

»Mir nach,« rief sie mit heller Stimme, die selbst noch das Jubeln der Menge und die Musik der anrückenden Soldaten übertönte.

Nur sehr wenige der übrigen Herren und Damen hatten das Verschwinden Ellens auf der anderen Seite überhaupt wahrgenommen; aber als jetzt Harrlington, Williams, Miß Murray und andere dem Beispiele Johannas folgten, schlossen sich ihnen alle anderen Glieder der Gesellschaft an.

Kaum hatte Johanna den offenen Platz erreicht, so setzte sie ihren Esel in Galopp und sprengte dem voranrennenden Jungen nach, der sie durch einige Gäßchen führte, ihnen folgten die anderen, welche inzwischen den Grund zu dieser Eile erfuhren und mehr oder minder über den Zwischenfall bestürzt waren.

In weniger als fünf Minuten stand die Gesellschaft auf der anderen Seite der Straße, aber wie man auch umherspäte, von Ellen war nichts zu sehen. Sir Hendricks stellte sich sogar aufrecht in den Sattel – auch er schüttelte verneinend den Kopf. Miß Petersen war nicht unter den Reitern oder Reiterinnen zu erblicken, welche noch immer wie eingekeilt das Passieren des Regiments abwarten mußten.

Die Zuschauer wurden gefragt, ob sie nicht eine Dame zu Esel gesehen hatten, welche von der gegenüberliegenden Seite nach dieser geritten sei. Ellens Aussehen wurde ganz genau beschrieben, aber die Gefragten antworteten entweder gar nicht, denn sie schauten dem kriegerischen Schauspiel zu, oder sie stellten neugierige Gegenfragen.

Nur einer der Araber bejahte und sagte, er habe gesehen, daß eine solche Dame vor einigen Minuten diese Straße dort hinaufgeritten ist.

Er wies dabei auf eine nach Westen führende Chaussee.

»Dann schnell ihr nach,« rief Lord Harrlington. »Was mag sie nur veranlaßt haben, nicht wenigstens auf uns zu warten?«

Er wandte den Esel der angegebenen Richtung zu, und seine Gefährten folgten ihm.

»Halt,« ließ sich da Johannas durchdringende Stimme vernehmen, »es ist nicht wahr. Nie glaube ich, daß Miß Petersen ohne weiteres allein fortgeritten ist, ohne uns wenigstens Nachricht zu geben.«

In diesem Augenblicke, trat ein Herr, allem Anschein nach ein Engländer, an Harrlington heran und fragte ihn:

»Sie suchen eine Dame, die einen Esel ritt?« – »Ja,« entgegnete der Lord hastig.«

»Trug Sie ein hellgraues Kleid mit roter Schärpe?« – »Sie war es, wo haben Sie die Dame gesehen?«

»Als sie diese Seite erreichte, trat ihr sofort ein egyptischer Offizier entgegen, der sie erst sehr höflich begrüßte, dann ihr Tier beim Zügel faßte und es durch die Menschenmenge führte, wobei ihm arabische Soldaten Platz verschafften.«

»Und was dann?« fragte Harrlington atemlos. »Ließ die Dame das ruhig geschehen?«

»Anfangs, ja. Aber ich bemerkte dann, wie die Dame, als der freie Platz erreicht worden war, dem auf sie einredenden Offizier, der sehr gebieterisch aufzutreten schien, heftig entgegnete, sich mehrmals umwandte und nach der anderen Seite hinüberwinkte.«

»Was geschah weiter?«

»Schließlich ritten alle davon, und es fiel mir auf, daß die Soldaten die Dame zwischen sich nahmen.«

»Haben Sie nicht gehört, was gesprochen wurde?«

»Der Offizier sprach sehr leise, die Dame dagegen laut, aber französisch, was ich leider nicht verstehe.«

»Können Sie sich nicht erklären, was alles das zu bedeuten haben mag?«

»Offen gestanden, es glich fast einer Verhaftung.«

»Verhaftet!« riefen alle wie aus einem Munde.

»Meine Ahnung!« flüsterte Johanna und sann einen Augenblick nach. Dann rief sie laut:

»So folgen Sie mir! Ich kenne den Weg nach der Polizeipräfektur. Oder nein, ich bitte Sie alle, sich sofort nach dem Hotel du Nil zu begeben und dort auf Bescheid zu warten. Miß Murray, Lord Harrlington und Sie, Sir Williams, begleiten mich, wir sind genug, um als Zeugen auftreten zu können, Lord Hastings, ich mache Sie für die Sicherheit Sulimas verantwortlich.«

Das Mädchen traf diese Anordnungen so energisch, daß sich alle sofort und ohne Widerrede ihm fügten.

Die Straße war jetzt wieder frei, sodaß die Gesellschaft, von trüben Gedanken gepeinigt, den kurzen Weg nach dem Hotel zurückritt, während Johanna in Begleitung der von ihr genannten Personen so schnell als möglich dem Polizeigebäude zustrebte.

»Die Sache ist mir unerklärlich,« sagte Harrlington unterwegs zu Johanna, »Miß Petersen verhaftet!«

»Es wird nicht so schlimm sein, wenn überhaupt etwas Wahres daran ist, was ich noch selber bezweifle. Im schlimmsten Falle bedeutet es eine Vernehmung wegen jener Befreiung der Sklavinnen, die Sie, Mylord, so voreilig veröffentlicht haben.«

»So tadeln Sie dieses von mir?«

»Durchaus; doch da sind wir vor dem Polizeigebäude, wir werden gleich alles Nähere erfahren.«

Die vier stiegen ab, gaben die Zügel den Jungen zu halten und betraten den Vorhof des Gebäudes, auf dem egyptische Soldaten herumlungerten.

In Egypten giebt es keine Schutzleute, sondern das Militär sorgt für die öffentliche Sicherheit. Die Kriminalpolizei dagegen liegt in den Händen der Engländer, welche Detektive unterhalten.

An den Pfosten des Thores lehnte ein Soldat im Drillichanzug und rauchte phlegmatisch eine Cigarette. Es war der erste, an welchem Lord Harrlington, der vorausschritt, vorbeikam.

»Wo ist der Polizeidirektor von Kairo zu sprechen?« fragte er den jungen Burschen auf gut Glück in englisch, denn dieser sah wie ein Europäer, etwa wie ein Südösterreicher aus, wie überhaupt in der egyptischen Armee Leute aus aller Herren Ländern, meist Abenteurer, dienen.

»In seinem Zimmer,« entgegnete der junge Mensch, ebenfalls auf englisch, aber mit stark italienischem Accent, »was wollen Sie von ihm, Signor?«

»Ihn sprechen. Wie meldet man sich bei ihm an? Aber sofort! Wir haben durchaus keine Zeit zu verlieren.«

»Was wollen Sie von ihm?« fragte der neugierige Bursche weiter, ohne seine bequeme Stellung zu verändern. »Halte uns nicht weiter auf, das rate ich dir,« entgegnete Williams in drohendem Tone, »sonst giebt es etwas.«

Dabei drückte er dem Soldaten ein großes Geldstück in die Hand, denn er wußte schon, daß man den Zutritt zu einem hohen, türkischen Beamten nur erhält, wenn man eine offene Tasche besitzt – je mehr es klingt, desto schneller kommt man zum Ziele.

Jetzt nahm der Soldat die Cigarette aus dem Munde und sagte lächelnd:

»Danke vielmals, aber Zweck hat es nicht gehabt, der Polizeidirektor hat keine Ahnung von dem, was Sie von ihm wissen wollen.«

»Was weißt du davon?« sagte Jessy in geringschätzendem Tone.

»Vielleicht ebensoviel und noch mehr als Sie, Signora,« entgegnete der Soldat und betrachtete schmunzelnd das Silberstück. »Gehen Sie ruhig nach dem Hotel und warten Sie alles ab.«

Lord Harrlington wurde stutzig.

»Weißt du etwa, welche Angelegenheit uns hierhergeführt hat, was uns passiert ist?« fragte er.

»Nein, aber ich sage nochmals, der Polizeidirektor hat keine Ahnung davon, daß irgend eine Dame verhaftet worden ist. Folgen Sie meinem Rate, gehen Sie ins Hotel zurück, trinken Sie eine gute Flasche Wein und warten Sie getrost die kommenden Dinge ab – ich mache es ebenso – adieu, meine Herrschaften!«

Der Soldat drehte sich um und schritt langsam über den Hof.

Lord Harrlington blickte verblüfft Charles an, der eben wieder eine andere Silbermünze bereit hielt, und Jessy wandte sich ebenfalls verwundert nach Johanna um, die sonderbarerweise sich gar nicht an dem Gespräche beteiligt, sondern nur immer aufmerksam den Soldaten beobachtet hatte.

Jetzt schickte sie ihm noch einen prüfenden Blick und sagte:

»Wenn der Polizeidirektor nichts davon weiß, dann brauchen wir ihn allerdings nicht erst zu fragen. Kommen Sie, meine Herren!«

Sie drehte sich um und ging zu ihrem Esel.

Aber Lord Harrlington eilte ihr nach und hielt sie zurück.

»Aber, Miß Lind, Sie werden doch nicht dem ersten Besten Glauben schenken, der etwas von Ellens Verhaftung erfahren hat und uns nun belügt, um keine Arbeit mit uns zu haben?«

»Bitte helfen Sie mir in den Sattel,« sagte da Johanna ruhig und hob das Füßchen.

Während der vollständig frappierte Harrlington ihr willfahrte, flüsterte sie ihm unmerklich etwas zu, wobei der Lord hoch aufhorchte.

»So kommen Sie denn!« winkte er den beiden zu und stieg selbst auf seinen Esel.

»Wirklich, es ist das beste, im Hotel die Erklärung des Vorfalls abzuwarten.«

»Miß Lind hat uns schon zu oft einen guten Rat gegeben, als daß ich ihn diesmal ausschlüge, obgleich ich nicht weiß, was das alles heißen soll,« meinte Jessy.

Auch sie stieg auf, desgleichen Charles.

»Daraus werde ein anderer klug,« meinte letzterer kopfschüttelnd und gab seinem elenden, steifbeinigen Tiere die Schenkel zu fühlen, »in mein kleines Gehirn geht es nicht hinein.«

»Y–y–ah!« bestätigte der verständige Esel.

Kaum waren sie im Hotel du Nil angekommen und hatten die sie mit Fragen bestürmenden Herren und Damen einigermaßen beruhigt, als ein atemloser arabischer Junge gerannt kam, nach Lord Harrlington fragte und diesem ein versiegeltes Couvert gab.

Er riß es auf und las:

»Seien Sie ohne Sorge, ich habe Miß P. nicht aus dem Auge verloren. Noch lasse ich sie in den Händen ihrer Entführer, um einige neue Gesichter und Pläne zu entdecken. Heute abend wird sie spätestens im Hotel sein.

N. S.«

Aus dem Ritte nach den Pyramiden wurde unter diesen Umständen natürlich nichts. – – – –

Es hatte sich wirklich alles so zugetragen, wie jener Herr es dem Lord Harrlington geschildert hatte.

Als Ellen die jenseits der Straße stehende Zuschauerlinie erreichte, wurde sie sofort von einem egyptischen Offizier angeredet, der sie fragte, ob er ihr behilflich sein dürfte. Ellen glaubte, er meinte, ob er sie durch das Gewühl bringen solle, und fest überzeugt, daß ihr die anderen unmittelbar folgten, ließ sie es ruhig geschehen, daß der Offizier die Zügel ergriff und das Tier weiterführte.

Da plötzlich gewahrte sie, daß ihre Begleiter zurückgeblieben waren, und sofort versuchte sie, ihr Tier umzulenken; vergebens, der Offizier hielt die Zügel fest in der Hand und ließ sie nicht los.

»Geben Sie den Esel frei,« rief Ellen, »ich will nicht weiter, sondern hier auf meine Begleiter warten.«

Doch der Offizier schien bei dem Anerbieten, Ellen zu helfen, etwas anderes im Sinne gehabt zu haben.

»Habe ich das Vergnügen, Miß Ellen Petersen vor mir zu sehen?« fragte er in sehr höflichem Tone.

»Ich bin es,« entgegnete Ellen, »aber jetzt lassen Sie mein Tier los! Ich sage Ihnen, daß ich hierbleiben will.«

»Sie sind die Kapitänin der ›Vesta‹?«

»Ja. Warum müssen Sie dies alles so genau wissen? Zum letzten Mal, mein Herr, lassen Sie die Zügel los!«

Jetzt blieb der Offizier stehen und gab das Tier frei, aber es drängten sich – Ellen konnte dies nicht verstehen, denn es war doch kein Grund zu einem Auflauf vorhanden – eine große Anzahl von Arabern um sie, sodaß sie gar nicht daran denken konnte, ihren Esel umzulenken.

»Dann bedaure ich, Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten zu müssen,« fuhr der Offizier immer noch in höflichem Tone fort. »Ich bin von der Regierung beauftragt, Sie zu verhaften.«

»Verhaften? Mich?«

Ellen fing an zu lachen.

»Ich bediente mich allerdings eines unpassenden Ausdrucks,« sagte der Offizier schnell, »Sie sollen nur verhört werden.«

»Aber, ich bitte Sie, worüber denn?«

»Auf Ihren Befehl ist ein Schiff, welches gefangene Mädchen an Bord hatte, angehalten worden, und Sie haben dieselben mit Hilfe jener Damen Ihrer Begleitung befreit. Ist das nicht so?«

»Gewiß verhält sich das so. Im übrigen bin ich im Hotel du Nil zu sprechen und nicht auf der Straße. Platz da!« rief sie jetzt mit ärgerlicher Stimme und versuchte, sich durch das Gewühl zu drängen.

Einen Moment verlor der Offizier die Fassung. Er hatte wahrscheinlich geglaubt, das Mädchen würde äußerst erschrocken oder doch erstaunt über den Haftbefehl sein und ihm niedergeschlagen folgen; dagegen lachte Ellen ihn aber aus und trat auf, als hätte sie hier zu befehlen.

Dann aber, als es ihr fast gelungen war, sich Raum zu schaffen, griff er wieder in die Zügel und sagte in herrischem Tone:

»Versuchen Sie keinen Widerstand, Miß Petersen. Ich habe den Befehl erhalten, Sie sofort, wenn ich Sie zu sehen bekomme, nach der Präfektur zu führen, und dies ist für mich als Offizier unwiderruflich.

»Glauben Sie mir,« fuhr er in treuherzigem Tone fort, »es fällt mir dieser unangenehme Auftrag furchtbar schwer, ich würde lieber sonst etwas thun, aber ich bin gezwungen, falls Sie mir nicht gutwillig folgen wollen, Gewalt anzuwenden. Ich wäre natürlich außer mir, wenn ich jene Soldaten dort zu Hilfe rufen müßte, um Sie nach dem Polizeigebäude zu bringen.«

Ellen blickte sich um. Sie sah, daß nicht alle der Zuschauer Araber mit Turbanen waren, sondern, daß die ihr zunächst Stehenden die Uniform der egyptischcn Soldaten trugen. Sie schaute zurück, sie glaubte, auf der anderen Seite Lord Hastings' hohe Gestalt wahrzunehmen und winkte mit der Hand, aber in diesem Augenblicke kamen die ersten Sektionen des Regiments mit fliegenden Fahnen vorbeimarschiert, die Musik setzte ein, und jede Verständigung war unmöglich gemacht.

»So warten Sie wenigstens, bis ich meine Kameradinnen noch einmal gesprochen habe.«

»Das geht nicht, Miß Petersen. Ich bitte Sie, zwingen Sie mich nicht zum Aeußersten. Außerdem dauert es ja nur zehn Minuten, Sie brauchen nur ein Protokoll zu unterschreiben, daß auf Ihr Anstiften jene rühmliche That geschah, und ich werde Sie sicher hierher oder auch gleich auf die andere Seite bringen; es dauert doch noch einige Zeit, ehe dns Regiment vorbeimarschiert ist, und einen anderen Weg, um hinüberzukommen, giebt es nicht.«

»Meinen Sie?«

»Wahrhaftig, auf mein Ehrenwort!«

»So führen Sie mich, aber möglichst schnell!«

Ellen war sehr ärgerlich, sie wußte nicht, ob über sich, weil sie trotz des Mahnrufes Harrlingtons über die Straße geritten war, oder über ihre Gefährten, weil diese ihr nicht gefolgt waren. Doch sah sie jetzt keine Möglichkeit, der Aufforderung des Offiziers auszuweichen, denn nirgends konnte sie einen Europäer sehen; alle waren Araber oder Türken, welche natürlich den egyptischen Offizier unterstützen würden.

Dieser selbst, ein französisch sprechender Araber, machte keinen ungünstigen Eindruck auf sie, und so beschloß sie denn, dem Willen desselben Folge zu leisten. Das Verhör sollte ja nur einige Minuten währen.

Sofort bestieg, der Mann einen bereitgehaltenen Esel, die Menge teilte sich, und beide ritten davon. Ellen merkte wohl, daß etwa acht Soldaten ihnen folgten, aber sie that, als sähe sie das nicht. Dieselben gehörten zu dem Offizier und mußten natürlich mit diesem zugleich auf der Polizei eintreffen, um sich zu melden.

Nach einigen Minuten deutete ihr Begleiter auf den Thorweg eines großen, stattlichen Gebäudes und sagte:

»Wir reiten durch diesen Durchgang, und gleich sind wir da.«

In der Mitte des Hofes hielt er, stieg ab und zeigte auf eine emporführende Treppe.

»Wir sind am Ziele! Bitte, steigen Sie ab!«

»Das ist das Polizeigebäude?« fragte Ellen überrascht und zweifelnd. »Wohin bringen Sie mich?«

»Hier befindet sich das Bureau des Beamten, bei welchem Sie das Protokoll unterschreiben müssen,« beschwichtigte sie der Offizier. »Nur eine halbe Minute; dann ist alles geschehen, und ich bringe Sie wieder zurück. Ihr Esel bleibt einstweilen unter der Obhut eines Soldaten.«

Ellen war vollkommen beruhigt; sie folgte dem Offizier in die erste Etage.

Das Haus war nach europäischem Stile gebaut; auf jedem Flur befanden sich zwei Thüren, und an einer derselben klingelte der Offizier.

Ein Mädchen, vielleicht eine Italienerin oder Griechin, öffnete und ließ beide eintreten.

»Bitte, bemühen Sie sich einstweilen hier hinein,« sagte der Offizier, »sofort wird der Polizeibeamte kommen.«

Ellen trat ein, sprang aber in demselben Moment hastig wieder zurück und griff nach der Klinke, der schnell hinter ihr sich schließenden Thür – sie hatte vernommen, wie leise von außen ein Riegel vorgeschoben wurde. Aber, so plötzlich sie auch gehandelt hatte, es war zu spät, die Thür war geschlossen, alles Rütteln half nichts.

Das Mädchen griff sich an die Stirn.

»In die Falle gegangen!« murmelte es. »O, du schlaue Ellen!«

Ihre nächste Bewegung war, in die Tasche zu greifen, doch plötzlich überzog sich ihr Gesicht mit fahler Blässe. Wie sie auch suchte und suchte, erst in der rechten, dann in der linken, alles war darin, die Börse, ein Ledertäschchen, Schlüssel, ein Messerchen; aber der geladene Revolver war verschwunden. Er mußte ihr, während sie von den Arabern umdrängt wurde, entwendet worden sein, natürlich mit dem Einverständnisse des Offiziers, der sie hierhergelockt hatte.

Ja, es blieb ihr kein Zweifel mehr, alles war ein wohlüberlegter Plan; sie sollte von den übrigen Vestalinnen getrennt und hierhergeführt werden. Sie wußte wohl, von wem sie bedroht wurde. Jene von dem Banditen in Konstantinopel verlorene Photographie, deren Besitzer sie kannte, hatte es ihr verraten.

Aber, was hatte man mit ihr vor, was sollte ihr ferneres Schicksal sein? Tod oder ewige Gefangenschaft?

Doch Ellen war nicht das Weib, welches beim ersten Schicksalsschlage gebrochen niedersank, sie hatte schon oft dem Tode ins Auge gesehen, ohne mit den Wimpern zu zucken. Aber hier hatte sie gegen schurkische Heimtücke zu kämpfen, und dieser, das fühlte sie deutlich, war sie nicht gewachsen.

Einen Trost besaß sie. Die Vestalinnen, ihre Freundinnen, Johanna, Lord Hastings, alle diese verwegenen, englischen Herren würden nicht eher ruhen, als bis sie die Vermißte wiedergefunden hatten, sei es tot oder lebendig. Spurlos verschwinden konnte sie nicht. Sie fühlte den scharf geschliffenen Dolch noch auf dem Busen und steckte ihn in die Tasche. Diese Waffe sollte ihr nicht gestohlen werden.

Ellen sah sich im Zimmer um.

Es war elegant mit Tisch, Diwan und gepolsterten Stühlen möbliert; auffallend war nur, daß das Fenster dicht unter der Decke lag und vergittert war.

Sie setzte einen Stuhl auf den Tisch, schwang sich hinauf und spähte hinaus.

Richtig, ein vollständiges Gefängnis! Innen war das Fenster vergittert, und außen zeigte es ein Drahtgeflecht, durch welches man nicht einmal ein Zettelchen hätte werfen können. Dies wäre übrigens ganz unnütz gewesen, denn unten lag ein völlig öder Hof, auf dem kein Mensch zu sehen war.

Was nun beginnen? Sollte sie dem ersten, der in böser Absicht das Zimmer betrat, den Dolch ins Herz stoßen? Auch das hätte nichts genutzt.

Durch Schlauheit war sie überlistet worden, durch Schlauheit mußte sie sich wieder befreien. Gewalt half hier nichts, ebensowenig Schreien und Pochen.

Sie untersuchte aufmerksam den Raum. Sie lüftete den Teppich, aber die Diele darunter war völlig glatt. Sie verschob die Bilder an der Wand, es war keine verborgene Thür oder etwas Aehnliches zu entdecken.

Aber da, als sie den Diwan leise, vorsichtig, um ja kein Geräusch zu machen und so ihre Thätigkeit zu verraten, beiseite rückte, entdeckte sie unten in der Wand ein Loch, eben groß genug, daß sie ihre schmale Hand hineinstecken konnte. Offenbar war es ein Rohr; wahrscheinlich diente es zur Ventilation. Ellen kümmerte sich nicht weiter darum.

Sie setzte sich etwas niedergeschlagen auf den Diwan und überlegte.

Was mochte man nur mit ihr vorhaben? Verschwinden wollte ihr Feind sie lassen, aber auf welche Weise? Sollte es verhungern? Nein, die Thür war kein so großes Hindernis für sie, einem derben Anlauf konnte es doch nicht widerstehen.

Plötzlich sprang Ellen auf und sog aufmerksam die Luft ein.

Was war denn das? Roch es nicht auf einmal merkwürdig süßlich im Zimmer?

Wieder untersuchte sie.

Heiliger Gott, sie kannte dieses Aroma; es war Chloroform.

Die Röhre! Schnell den Diwan wieder von der Wand gerückt, das Taschentuch zusammengeballt und hineingestopft, tief, so weit, wie es die Dicke des Armes zuläßt! Dann noch für den Fall, daß das Tuch nicht völlig schließt, einen breiten Saum vom weißen Unterkleid abgerissen und nachgestopft, immer so weit nach hinten wie möglich.

Aufgeregt schritt Ellen im Zimmer auf und ab.

Also das war es! Sie sollte durch Chloroform betäubt und dann wahrscheinlich forttransportiert werden. Hätte sie getötet werden sollen, so würde man ein anderes, giftiges Mittel angewendet haben! Also der Tod war ihr noch nicht beschieden! Aber wie lange würde es dauern, und ihre Entführer merkten die Vereitelung ihres Planes. Sicher wußten sie noch ein anderes Mittel, um ihr Opfer stillschweigend zu beseitigen. Sie hatte nur einen Aufschub erzielt.

Plötzlich blieb sie stehen und sah nachdenklich vor sich hin. Ja, das war das einzige Mittel, eine Flucht möglich zu machen.

Zum dritten Male rückte Ellen das Polstergestell von der Wand ab, noch vorsichtiger als zuerst, drehte einen Stuhl um und drückte mit dessen Bein die Tücher noch tiefer und fester in das Rohr hinein als zuvor. Sie überzeugte sich, daß nichts von ihnen zu sehen war, und daß auch kein Chloroform mehr eindrang, dann rückte sie alles wieder an Ort und Stelle.

Darauf legte sie sich nachlässig auf den Diwan, nachdem sie zuvor den Dolch wieder im Busen hatte verschwinden lassen, gähnte recht laut und schloß die Augen.

»Aber um Gottes willen nicht einschlafen,« sagte sie sich immer und immer wieder, »sonst bin ich verloren.«

Es war noch nicht genug Chloroform ins Zimmer gedrungen, um die starken Nerven des Mädchens zu erschüttern. Zwar mußte sie mehrmals ihre ganze Energie anwenden, der Müdigkeit nicht zu unterliegen, aber der Gedanke, welche furchtbaren Folgen dies für sie haben könnte, vermochte doch immer wieder, sie wachzuhalten. So harrte sie der kommenden Dinge.

Ellen wußte nicht, wie viele Stunden sie bereits in dieser Lage zugebracht hatte, als auf dem Korridor ein leises Knacken, nur ein einziges Mal und fast unhörbar, ertönte. Gleich darauf war es Ellen, als ob an der Thür ein Geräusch entstände, etwa so, wie wenn ein hölzernes Brettchen zurückgeschoben würde.

Die Gefangene blinzelte mit keinem Auge.

Nach einigen Minuten erscholl draußen ein schwerer Männerschritt, der vor der Thür innehielt, es wurde an der Klinke gerüttelt, und eine tiefe Stimme rief:

»Ich glaube gar, das Fräulein ist eingeschlossen worden! Miß Petersen, sind Sie noch darin?«

Keine Autwort.

Jetzt hörte man vor der Thür lauten Spektakel, Entschuldigungen erklangen, dazwischen Flüche und Verwünschungen, bis endlich ein Riegel zurückgeschoben wurde, und mehrere Personen ins Zimmer drangen.

»Entschuldigen Sie, Miß Petersen, daß Ihnen dies passieren mußte – eine Vergeßlichkeit,« rief die tiefe Stimme fast überlaut wieder.

»Ach, Sie schlafen?« fuhr sie in fragendem Tone fort, aber so, als gälte es, ein Regiment Soldaten zu kommandieren.

Ellen wurde am Arm gefaßt und gerüttelt, aber sie verstellte sich weiter.

»Sie ist betäubt, es ist gelungen!« flüsterte eine andere Stimme.

»Habt Ihr auch nicht zu viel Chloroform einströmen lassen, daß sie nicht etwa stirbt?« sagte die tiefe Stimme, aber jetzt ganz leise.

»Wie soll ich wohl bei meiner langjährigen Praxis, hihihi,« lachte ein anderer. »Seht doch nur, wie ruhig sich ihre Brust hebt und senkt. Und außerdem ertrüge die wohl noch eine ganze Portion mehr als andere. Sie ist ein kräftiges Mädel.«

»Das ist es eben, darum schnell, daß wir sie fortbringen, ehe sie erwacht und Lärm schlägt.«

»Ihr kleidet sie aber doch erst um?«

»Nein, nichts! So wie sie ist, wird sie fortgeschafft. Sie möchte zimperlich in derartigen delikaten Angelegenheiten sein. Auch könnte sie dabei aufwachen, und die angebrochene Dunkelheit ist unserem Vorhaben günstig.«

»Wie bringt Ihr sie fort?«

»Ein famoser Plan, die neueste Idee vom Meister. Wir arbeiten fast nur noch in Uniform, und belästigt uns jemand in unserem Geschäft, so arretieren wir ihn auch noch und lassen ihn nur gegen ein gehöriges Trinkgeld laufen. Hahaha!«

»Also die Soldaten sollen sie tragen, Seewolf?«

»Ja, auf einer Bahre, als trügen sie einen Verunglückten. Deswegen nehmen wir auch den Weg nach dem Krankenhaus, biegen aber kurz vor diesem rechts ab in die Wüste. Kamele stehen bereit, uns nach Port Said zu bringen, wo der ›Friedensengel‹ liegt. Alles ist schon vorbereitet, diesmal glückt's mir.«

»Das gebe der Teufel und seine Großmutter, ich gönn's Euch. Der Offizier hat seine Rolle wirklich ausgezeichnet gespielt.«

»Nicht wahr? Er ist überhaupt ein brauchbarer Mensch und weiß alle Kniffe. Er ist so eine Art verkommener Student.«

Wieder ertönten Schritte auf dem Korridor, mehrere Personen kamen ins Zimmer, und Ellen hörte, wie ein Gegenstand auf den Boden gesetzt wurde, vermutlich die Bahre.

Ein Grausen erfaßte das junge Mädchen, als es jetzt von harten Fäusten angefaßt, emporgehoben und auf die Trage gelegt wurde, aber mit keinem Muskel verriet es, daß es bei vollem Bewußtsein war; den aufgehobenen Arm ließ es kraftlos wie eine Schlafende oder Tote wieder fallen.

Ellen hörte noch, wie ein Vorhang am Kopfende der Trage zugezogen wurde, dann hoben die Männer dieselbe auf und schritten die Treppe hinunter auf die Straße.

»Nur schnell, meine Burschen, daß sie nicht eher aufwacht, als bis wir die Stadt hinter uns haben. In der Wüste mag sie schreien, wenn sie Lust hat, dort will ich schon mit ihr fertig werden,« sagte der Führer der Leute, ein Mann mit eisgrauem Haar und scharfer Habichtsnase, der bekannte Seewolf.

Er gab die einzuschlagende Richtung an und schritt, manchmal argwöhnisch um sich spähend, eilig voran.

»So, jetzt hier rechts ab! Bald sind wir draußen in der Wüste. Ein Glück, daß die Nacht nicht fern ist.«

Sie bogen in eine breite Straße ein, welche in die dicht an Kairo grenzende Wüste führt.

»Kapitän, ich muß absetzen und wechseln, die Hand, an der ich die Wunde habe, schmerzt mich zu sehr.«

Der Seewolf stieß einen Fluch aus.

»Halt aus! Noch fünf Minuten bloß.«

»Ich kann nicht mehr, ich lasse die Trage fallen.«

»Zum Teufel, so setzt hin und wechselt!« rief der Seewolf unwillig. »Ihr seid doch nur Schwächlinge!«

Die Träger bückten sich und stellten die Bahre nieder.

Da schnellte von dieser plötzlich eine Gestalt hoch, in der erhobenen Hand einen blitzenden Dolch, bereit, den ersten, der ihr nahte, aus dem Wege zu räumen.

Mit einem furchtbaren Fluche stürzte der Seewolf hinzu, um die Fliehende zu halten, fuhr aber mit einem Schmerzensschrei zurück; nur der Dunkelheit hatte er es zu verdanken, daß statt des Herzens nur seine Schulter von Ellens Dolch getroffen worden war.

Die vier Träger wichen scheu vor der zum tödlichen Stoße erhobenen Waffe zurück, und das Mädchen jagte zwischen ihnen durch, die Straße zurück. Aber nach wenigen Schritten ereilte sie ein neues Unglück, sie verwickelte sich in ihr langes Kleid und stürzte. Ehe sie sich wieder aufraffen konnte, hatte sich schon ein Mann über sie geworfen.

»Mord!« gellte es noch aus Ellens Munde, dann preßte eine Faust ihr den Hals zusammen.

»Was geht hier vor?« fragte da eine Baßstimme, und plötzlich stand eine hohe Gestalt mitten unter den Leuten.

»Eine Wahnsinnige, die wir nach dem Hospital bringen wollen und die uns entsprungen ist,« rief der Seewolf, der, den Messerstich nicht weiter beachtend, sich über das Mädchen geworfen hatte.

»Kümmern Sie sich nicht um Angelegenheiten der Polizei,« fügte er in grobem Tone hinzu.

»Ich kenne dich, du maskierter Seeräuber!« donnerte jedoch der Fremde, faßte ihn, riß ihn hoch und schleuderte ihn einige Meter weit weg. Dann beugte er sich zu Ellen, um ihr aufzuhelfen, ward aber dabei von zweien der verkleideten Soldaten von hinten um den Leib gefaßt. Doch blitzschnell wandte er sich um, und zwar mit solcher Kraft, daß die beiden ihn nicht halten konnten, packte mit jeder Hand einen bei der Brust und warf sie auf den noch vom Sturze halbbetäubten Räuber.

Ellen konnte sich unterdessen erheben.

Noch eine andere Gestalt hatte sich gleich einem Schatten von der Häuserwand abgelöst, eine schlanke, schmächtige Figur, und war auf die beiden letzten Träger zugesprungen. Der eine erhielt einen Fußtritt in den Leib, daß er ächzend zu Boden sank, den anderen, der ihm schon einen Revolver entgegenhielt, warf er mit einem Faustschlage zu Boden. Im nächsten Moment kniete die schlanke Gestalt auf dem Besiegten und bog sich über diesen.

»Dich brauche ich nicht,« rief er und sprang wieder auf. »Wo ist der See– der Seehund?«

»Dort laufen sie eben um die Ecke,« sagte der Große mit dem Bart.

»Na meinetwegen, Kapitän, ich führe die Mannschaft zurück. Gute Nacht, Miß Petersen! Schöner Abend heute, nicht?«

Nach diesen Worten verschwand er in der Dunkelheit.

Noch immer hielt der Herr die vor Aufregung zitternde Ellen umfaßt. Die letzte Szene war selbst für das kräftige Mädchen zu viel gewesen.

»Ich danke Ihnen, Herr Hoffmann, die Schwäche wird gleich vorübergehen,« sagte sie jetzt und machte sich sanft aus den Armen des deutschen Ingenieurs, denn dieser war es, frei.

Er wartete, bis sie sich so weit erholt hatte, daß sie neben ihm herschreiten konnte; aber den ihr angebotenen Arm schlug sie aus.

»Wo sind die Damen, die Vestalinnen? Wo Lord Harrlington und seine Freunde?« begann sie nach einer kleinen Weile mit leiser Stimme.

»Sie sind im Hotel du Nord und warten auf Ihre Rückkunft.«

»Wie?« rief Ellen halb erstaunt, halb unwillig. »Sie warten sorglos auf mich und machen keine Anstrengungen, mich wiederzufinden? Das kränkt mich sehr.«

»So hätten Sie lieber gesehen, wenn ein anderer, als ich, Sie aus den Händen dieser Elenden befreit hätte?«

»Verzeihen Sie mir, Herr Hoffmann, wenn ich die Wahrheit bekenne. Ja, ich hoffte und hoffte immer, daß einer meiner Freunde meine Spur wiederfinden würde, und als ich Sie vorhin zuerst erblickte, glaubte ich, Lord Harrlington zu sehen.«

»Mein liebes Fräulein,« sagte der Ingenieur in väterlichem Tone zu Ellen, welche sehr niedergeschlagen schien, »wenn Sie glauben, daß Ihre Freundinnen und die englischen Herren über Ihr Schicksal nicht sehr besorgt gewesen sind, so thun Sie ihnen sehr, sehr unrecht. Nicht ich bin es, dem Sie Ihre Befreiung zu verdanken haben, sondern Lord Harrlington. Ich bin nur sein Werkzeug gewesen.«

»Das verstehe ich nicht. Wenn er wußte, auf welchem Wege ich fortgetragen wurde, warum sprang er nicht selbst dazwischen, mich zu retten, sondern schickte einen anderen?«

Ueber die männlich schönen Züge des Ingenieurs flog ein leichtes Lächeln, welches Ellen in der herrschenden Finsternis nicht bemerkte; dann sagte er, wieder ernst:

»Er durfte nicht. Jeder seiner Schritte, jede Handlung der Damen und Herren wurden von Helfershelfern der Räuber beobachtet; um also Argwohn zu vermeiden, mußten jene sich den Anschein geben, als ob sie im Hotel Ihre Rückkunft abwarteten, denn vor dem Polizeigebäude war ihnen mitgeteilt worden, daß Sie wegen Vernehmung in Sachen jener Mädchenbefreiung vom Polizeidirektor für einige Stunden in Anspruch genommen würden.«

Dies war allerdings nicht wahr. Der an der Thür stehende Soldat hatte bekanntlich den nach dem Polizeidirektor Fragenden eine ganz andere Antwort gegeben.

»Dennoch wußte Sie Lord Harrlington in Gefahr,« fuhr der Erzähler fort, »und wie ich schon sagte, haben Sie es nur ihm zu danken, daß die Absicht Ihrer Entführer, Sie nach Port Said zu schleppen, vereitelt wurde. Sie sehen, der Lord ist ziemlich gut in die Pläne Ihrer Feinde eingeweiht; deshalb bitte ich Sie innig, liebe Miß Petersen, richten Sie sich mehr nach seinen Ratschlägen. Wären Sie hübsch an seiner Seite geblieben und nicht eigensinnig weitergeritten, so hätten Sie sich viele Angst und großen Kummer ersparen können.«

Ellen hatte bei diesen freundlichen, aber ernsten Worten ihren ganzen Stolz verloren. Beschämt senkte sie das Köpfchen; es war ihr, als ob ein liebevoller Vater sie strafe und tadle.

»Uebrigens schätzen Sie meine That ja nicht zu hoch; hinter dem Hause dort stand die Hälfte meiner Mannschaft, bis an die Zähne bewaffnet. Ein Pfiff von mir hätte genügt, und die Leute wären zur Hilfe herbeigeeilt. Jener Matrose, welcher allein vortrat, hat sie bereits wieder in ihr Quartier geführt.«

Dieser deutsche Ingenieur schien auch jetzt wieder nur darauf bedacht zu sein, seine Handlungsweise in den Augen anderer möglichst unbedeutend erscheinen zu lassen.

»Was machen meine Mädchen in Alexandrien? Sind sie auch sicher, wenn Sie nicht an Bord Ihres Schiffes sind, Herr Hoffmann?« fragte Ellen.

»Beruhigen Sie sich über dieselben! Gedenken Sie meines Versprechens, daß ihnen kein Haar gekrümmt werden soll. Meine Leute sind so zuverlässig, daß ich ihnen unbedenklich das Liebste, was ich auf der Welt besitze, anvertrauen würde. Doch biegen wir hier in die Muski ein; gleich werden wir im Hotel sein.«

Das war ein Jubel, als Ellen wieder in der Mitte ihrer Freundinnen erschien. Aber die an sie gerichteten Fragen beantwortete sie nicht, sie zog sich, nachdem sie erklärt hatte, morgen das Hotel nicht verlassen, dafür aber übermorgen sofort mit Sulima nach Fayum aufbrechen zu wollen, in ihr Zimmer zurück, um nach diesem aufregenden Tage der Ruhe zu pflegen.

Unterdes hatte Hoffmann mit Harrlington eine lange Unterredung, und obgleich der letztere anfangs etwas ungehalten über eine Forderung des ersteren schien, gelang es doch dem Ingenieur, ihn von der Richtigkeit des Planes, nach dem die Errettung Ellens vor sich gegangen war, zu überzeugen. Auch der Lord gab zu, daß eine kleine Strafe dem eigensinnigen Mädchen nichts schaden könnte, doch, meinte er, diese sei zu hart gewesen.


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