Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 1
Robert Kraft

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30.

Neue Rätsel.

Laut Fahrplan sollte der Passagierdampfer ›Medusa‹ Abends 8 Uhr 30 Minuten die Rhede von Madras verlassen. Aus den beiden Schornsteinen quollen dichte Rauchwolken, die Dampfpfeife heulte zu verschiedenen Malen, und die Mannschaft hielt sich an den Winden bereit, die Anker aus dem Grund zu reißen. Aergerlich stand der Kapitän auf der Kommandobrücke, in der Hand die Uhr, deren Zeiger die bestimmte Zeit überschritten hatten, er zögerte aber noch immer, das Zeichen zur Abfahrt zu geben.

Von der ›Medusa‹ waren im letzten Augenblick zwei Matrosen desertiert, zuverlässige waren in dieser indischen Hafenstadt schwer wiederzubekommen, und ohne die festgesetzte Anzahl von Leuten, darf ein Passagierschiff nicht in See stechen, weil bei einem eventuellen Schiffbruch jedes Rettungsboot mit den notwendigen Matrosen als Ruderer besetzt werden muß.

Da hatten sich endlich noch zwei englische Seeleute gefunden, welche gegen Versprechen einer guten Heuer zur Mitreise bereit waren, und der erste Steuermann war schnell mit ihnen nach dem Seemannsamt gegangen, um der gesetzlichen Form der Anmusterung zu genügen.

Jetzt wartete der Kapitän nur noch auf die Rückkehr dieser zwei Leute und des Steuermannes, dann klingelte unter seiner Hand der elektrische Apparat, und unten im Maschinenraum ließ der diensthabende Ingenieur die Schraube sich umdrehen.

An der Bordwand lehnten einige Damen und Herren, darunter auch Claus Uhlenhorst, der angebliche zweite Steuermann des ›Blitz‹ der sich mit der ganzen Gesellschaft per Schiff ebenfalls nach Bombay zurückbegeben wollte.

Neben ihm stand Ellen, die sich bei diesem Seemann von Profession nach den Formalitäten erkundigte, welche bei einer Anmusterung notwendig sind.

»Haben Sie Ihre Papiere vom Hafenmeister empfangen,« fuhr der Steuermann in seiner Erklärung fort – wie wir bereits wissen, war der Detektiv selbst lange Jahre zur See gefahren, »so gehen Sie sofort an Bord Ihres Schiffes, ankern aber vorher noch einmal in einer Bierstube, um auf gute Reise und guten Wind erst einige Gläser zu trinken.«

»Aber doch nicht in diesem Falle, wo Hunderte von Passagieren auf Ihr Kommen warten,« sagte Ellen vorwurfsvoll. »Bedenken Sie, welch eine Verantwortung die Leute haben, wenn durch ihr Verschulden das Schiff sein Ziel zu spät erreicht. Durch die Verzögerung können Millionen in Geld verloren gehen, ein Vater kann seinem im Sterben liegenden Kinde vielleicht nicht mehr die Augen zudrücken.«

»Matrosen haben immer Zeit, so lange sie an Land sind,« meinte der Detektiv trocken,

»Dort kommt das Boot,« unterbrach ihn Ellen, »Ihre Behauptung ist diesmal doch nicht richtig gewesen.«

Hinter einem anderen Schiff schoß ein Boot hervor, in dem die drei Erwarteten saßen, und lag im nächsten Augenblick an der ›Medusa‹, die Leute kletterten an Deck und hißten ihre Kleiderkisten nach.

»Haben die Matrosen kein Glas auf eine glückliche Reise getrunken, so werde ich dies noch besorgen,« sagte Nick Sharp und stand schon auf der Bordwand, »ich kann nicht mit ansehen, daß Sie in Ihr Unglück rennen. Adieu Miß Petersen.«

Damit sprang er in das Boot, welches schon wieder mit seinen Ruderern vom Schiff abstieß. Sprachlos schaute das Mädchen diesem seltsamen Benehmen zu, auch der Kapitän und die übrigen Passagiere an Deck wurden auf den Menschen aufmerksam, der seine Reise bereits bezahlt hatte und sie nun im letzten Moment aufgeben wollte.

»Was thun Sie denn, Herr Uhlenhorst?« rief Ellen ihm zu, der schon den Ruderern die Weisung gab, ihn an Land zu bringen.

»Ich habe Angst vor der Seekrankheit,« lachte der Detektiv zurück, »auf Wiedersehen, meine Damen und Herren! Bringen Sie mein Zeug einstweilen nach Bombay oder sonstwohin.«

Die Ruderer legten sich in die Riemen, und das Boot schoß dahin.

»Einen solchen Narren habe ich noch nie gesehen,« brummte der Kapitän auf der Brücke. »Bezahlt die Reise, wartet bis das Schiff endlich abgeht und fährt dann an Land zurück.«

Er gab das Signal zur Abfahrt.

Die Anker rasselten in die Höhe, die Dampfpfeife gab drei schrille Pfiffe von sich, und hinten an Deck entstand durch die Schraube eine kräuselnde Bewegung im Wasser. Langsam setzte sich die ›Medusa‹ in Bewegung, dann, als sie aus den Schiffen heraus war, nahm sie eine schnellere Fahrt an, bis sie endlich draußen in offener See mit achtzehn Knoten Fahrt dem Süden zustrebte.

»Wissen Sie, was dieses Benehmen des Steuermannes zu bedeuten hat?« fragte Ellen Lord Harrlington.

Auch dieser konnte sich den Vorfall nicht erklären.

»Ich weiß nur einen Grund,« meinte Williams lachend. »Jedenfalls hat Uhlenhorst seine klebrige Tabakspfeife im Hotel liegen lassen, und fühlt er diese nicht in der Tasche, so geht er nicht von einer Stube in die andere, um wieviel weniger unternimmt er ohne sie eine Seereife. A propos, Miß Petersen, in wieviel Tagen erreichen wir Bombay?«

»In dreiundeinemhalben Tag, wenn wir gutes Wetter haben. Morgen Mittag kommen wir durch die Palkstraße zwischen Ceylon und dem Festland.«

»Sie scheinen ja den ganzen Fahrplan im Kopf zu haben,« sagte Charles verwundert.

»Das nicht,« lächelte Ellen, »aber die Karte.«

»Warum fahren Sie eigentlich in einem Schiff nach Bombay und nicht mit der Eisenbahn? Sie hätten dadurch doch zwei Tage erspart.«

»Allerdings, aber die Damen wollen einmal eine Seereise genießen, ohne dabei arbeiten zu müssen, und ich ging auf den Vorschlag ein.«

»Und wohin reisen Sie von Bombay aus?«

»Solche Fragen sind nicht erlaubt, Sir Williams, und Ihnen würde ich es am allerwenigsten sagen, denn wären Sie damals nicht auf die Raa gestiegen und hätten nach uns ausgespäht, so würden wir Vestalinnen unsere Wette bereits gewonnen haben.«

»Ach,« seufzte Charles, »ich bin unglücklich darüber, daß ich diese Dummheit begangen habe, welche mir den Haß aller Damen zugezogen hat. Sehen Sie, ich brauche Miß Thomson nur anzusehen, so dreht sie mir schon den Rücken. Hundertmal habe ich es heute schon probiert und hundertmal mit demselben Erfolg. Nie wieder werde ich einen so voreiligen Ruf ertönen lassen.«

»Dann schreibt er es auf, daß die ›Vesta‹ in Sicht ist,« lächelte Miß Thomson.

Ellen hatte richtig gerechnet.

Als die Gesellschaft am anderen Morgen ihr Frühstück an Deck einnahm, erblickten sie bereits die nördlichste zu Ceylon gehörige Insel Timorathi, und einige Stunden später passierten sie die sogenannte Adamsbrücke, die eigentliche Wasserenge zwischen dem Festland und Ceylon, in welcher die zwei Telegraphenkabel liegen, die Insel und Festland verbinden.

Nach kurzer Zeit hatte man das Land hinter sich, und dem Auge bot sich wieder nichts als das unendliche Meer dar.

Ab und zu kam der ›Medusa‹ ein anderes Schiff entgegen, da sich aber jetzt das Fahrwasser wieder erweiterte, und da jedem Dampfer ein besonderer Kurs vorgeschrieben ist, so verringerte sich mit den Stunden die Zahl der Schiffe, bis man endlich lange Zeit weder Dampfer, noch Segel zu sehen bekam.

Sir Williams besaß ausgezeichnete Augen, und er hielt sich etwas darauf zu gut, daß er stets früher als die anderen etwas genau erkennen konnte. Um diese Eigenschaft noch zu vervollkommnen, trug er immer ein kleines Fernrohr bei sich, mit welchem er jeden am Horizont auftauchenden Gegenstand musterte.

So richtete er auch jetzt, als der auf dem Ausguck stehende Matrose den Ruf ›ein Schiff‹ erschallen ließ, sofort sein Fernrohr nach dem dunklen Punkt in der Ferne.

Ellen stand mit Johanna, Miß Thomson und noch einigen anderen Damen auf dem Vorderteil und wartete, bis sie sich dem Schiff auf Sehweite genähert hatten, denn auf dem Meere erregt ein anderes Fahrzeug stets das größte Interesse.

Plötzlich fühlte Miß Thomson, wie in ihre Hand ein Zettel gesteckt wurde.

Hinter ihr stand Charles.

»Bitte lesen Sie! Wenn ich es Ihnen sage, glauben Sie es mir doch nicht,« sagte er. »Ich darf übrigens auch gar nicht mehr sprechen.«

Miß Thomson warf einen Blick auf das Blatt und entgegnete dann etwas unwillig:

»Ich dächte, es würde nun Zeit, daß Sie einmal Ihre Albernheiten ließen. Ich lasse mir gern Ihre Späße gefallen, weil sie gut gemeint sind; wenn Sie mich aber verspotten wollen, so hört unsere Freundschaft auf.«

»Aber Miß Thomson,« sagte Charles mit kläglicher Stimme, »habe ich Ihnen denn schon einmal eine Unwahrheit gesagt? Kann ich etwas dafür, daß es wirklich wahr ist?«

»Ich finde es sehr unpassend,« fuhr das Mädchen fort und war wirklich sehr ärgerlich, »oder vielmehr lächerlich, daß Sie mir mit solchen Späßen kommen. Was veranlaßt Sie denn zu der Behauptung, daß jenes Schiff dort die ›Vesta‹ ist? Glauben Sie etwa, ich fasse dies als einen Witz auf?«

»Na, was wetten wir denn, daß es wirklich die ›Vesta‹ ist?« entgegnete Charles, Entrüstung heuchelnd.

»Ich habe Ihnen schon einmal erklärt, wenn Sir Williams sagt, es ist die ›Vesta‹, dann ist sie es, wenn es auch ein anderes Schiff ist.«

»Aus Ihnen werde ein anderer klug, ich kann es nicht!«

Mit diesen Worten wandte sich das Mädchen ihren Gefährtinnen zu, die das fragliche Schiff betrachteten, von dem man schon mit bloßem Auge die Takelage erkennen konnte.

Plötzlich faßte Johanna Ellens Arm und rief:

»Ist es eine Täuschung oder nicht? Das kann nur die ›Vesta‹ sein!«

Ellen lachte auf über diese sonderbare Vermutung, wurde aber mit einem Male wieder ernst.

»Sonderbar, es sieht der ›Vesta‹ zum Verwechseln ähnlich, die zierliche Takelage, die weiße Farbe und doch, es ist unmöglich. Warum haben nur die Matrosen keine Segel gesetzt? Sollte das Schiff verlassen sein? Fast sieht es so aus.«

Der Kapitän hatte ebenfalls bemerkt, daß mit diesem Segler, der bei günstigem Wind mit festaufgerollten Segeln dalag, etwas nicht richtig war, und nahm direkten Kurs darauf zu.

»Bei Gott, es ist die ›Vesta‹!« rief jetzt Johanna, außer sich vor Staunen. »Ich erkenne sie nun deutlich.«

Ellen wollte ihr dies ausreden, aber ein Blick durch das Fernrohr belehrte sie, daß kein Zweifel mehr möglich war.

Jenes Schiff dort, welches ohne Mannschaft, die Segel festgebunden und wahrscheinlich auch das Steuerrad, weil es nicht schwankte, als ein Spiel der Wellen umhertrieb, neunhundert Meilen von Bombay entfernt, war die ›Vesta‹.

»Meine Damen,« sagte Ellen, »wir wollen jetzt alles Staunen beiseite lassen. Es ist kein Zweifel mehr, daß dies die ›Vesta‹ ist, die uns hier auf irgend eine rätselhafte Weise entgegentreibt, und unsere Mädchen sind nicht darauf. Jetzt begebe ich mich zum Kapitän und legitimiere mich als Kapitänin dieses Schiffes, und wir können wieder auf die Suche nach den Sklavinnen gehen.«

Sie ging auf die Kommandobrücke.

»Mir bleibt der Verstand stehen,« sagte Miß Thomson zu Charles.

»Das macht nichts,« war die Antwort, »aber jammerschade ist es, daß Sie uns nun verlassen wollen; ich gucke immer aus, ob der ›Amor‹ nicht auch so freundlich ist, uns entgegenzukommen, aber der Kerl hat keine Lust. Sehen Sie nun ein, Miß Thomson, welch' niederträchtiges Unrecht Sie mir angethan haben, als Sie mich einen Lügner, Heuchler, Unverschämten u. s. w. genannt haben?«

»Ich sehe ein, verzeihen Sie mir! Aber woher in aller Welt wußten Sie gleich, daß es die ›Vesta‹ war?«

»Das ist mein Geheimnis. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag, Miß Thomson. Lassen Sie die anderen Damen allein weiterfahren; hängen Sie diese Weltreise an den Nagel und begeben Sie sich unter meiner sicheren Führung wieder in kultivierte Länder, wo man nicht von Schlangen gebissen und von Tigern gefressen wird.«

Gespannt hingen seine Augen an den Lippen des Mädchens.

Es schwieg einige Minuten lang. Dann gab es ihm die Hand und sagte herzlich:

»Nein, Sir Williams, noch nicht. Machen wir erst diese Reise zusammen.«

»Nein? Dann lassen –« Charles verschluckte eine sehr beliebte Redensart.

»Was wollten Sie sagen?« fragte das Mädchen lächelnd, denn es wußte sehr wohl, was er unterdrückte.

»Dann lassen Sie es sich recht gut gehen und sich nicht wieder von Schlangen beißen.«

Die ›Medusa‹ lag neben dem Vollschiff, ein kurzer Abschied noch, und die Damen waren auf ihrem Schiff.

Zehn Minuten später konnten die weiterfahrenden Passagiere sehen, wie sich auf der ›Vesta‹ die weißen Segel entfalteten, wie sich das Schiff auf die Seite legte und zu kreuzen begann.

Die Herren blickten sich an und fanden lange keine Worte.

»Weinen hilft hier nichts,« unterbrach Charles endlich das Schweigen, »sie sind eben futsch, und wenn uns der ›Amor‹ nicht entgegenkommen will, so müssen wir ihn uns selbst holen.«

»Giebt es denn nur gar keine Erklärung?« rief Lord Harrlington. »Das Schiff kann doch nicht allein hierhergefahren sein.«

Niemand fand eine Antwort.

»Und wie sollen wir die ›Vesta‹ wiederfinden? Ehe wir nach Bombay kommen, vergehen noch zwei Tage, und wer weiß, wo sie sich dann schon befindet,« jammerte man. »Unsere Reise ist zu Ende.«

»Nein,« entgegnete Harrlington, »dafür ist gesorgt. Wir werden die ›Vesta‹ wiederfinden.«

Als die Vestalinnen an Bord ihres Schiffes waren, überzeugten sie sich sofort, daß die fünfzehn Mädchen verschwunden waren.

Ellen eilte durch die Kajüten, durch die Kammern und Räume, sie sah in jede Kabine; nirgends war ein Mensch zu entdecken. Und doch schien es ihr, als ob fremde Hände in ihren Papieren gewühlt hätten. Einige Gegenstände lagen nicht mehr so wie damals, als sie in Bombay das Schiff verlassen hatten, aber es fehlte nichts.

Aus ihrer Arbeitsstube eilte sie auf die Kommandobrücke und begab sich in das Kartenhäuschen.

Da plötzlich entdeckte sie etwas, was eine Auflösung dieses Rätsels bringen konnte: mitten auf dem Tisch lag ein Couvert, adressiert an Miß Petersen, Kapitänin der ›Vesta‹.

Hastig riß sie den Umschlag auf, ein schmaler Pergamentstreifen fiel ihr entgegen, auf welchem nichts weiter stand als:

76° 44' 32" ö. L., 7° 12' 57" s. B.

das hieß, 76 Grad 44 Minuten 32 Sekunden östlicher Länge; 7 Grad 12 Minuten 57 Sekunden südlicher Breite.

»Seltsam,« murmelte Ellen, »eine ähnliche Aufforderung, einen bestimmten Kurs zu nehmen, wollten damals die englischen Herren von dem Geisterschiff bekommen haben, als wir uns im Boot befanden. Ist dieses gespenstische Schiff, von dessen Vorhandensein ich mich mit eigenen Augen überzeugt habe, auch hier im Spiele? Ich wollte es den Herren fast nicht glauben, nun bekomme auch ich einen solchen Befehl.«

Sie suchte die bezeichnete Stelle auf der Karte nach, dort lagen die Lakkadive-Inseln, und gerade da, wo sich die angegebenen Längen- und Breitengrade schnitten, ein winziges Inselchen. Sie waren bewohnt, aber nicht alle, das wußte Ellen. Gerade die bezeichnete war felsig und öde.

Die Vestalinnen wurden zusammenberufen, und es wurde beschlossen, sofort dorthin zu segeln. Eine Ahnung sagte allen, daß sie dort die vermißten Mädchen wiederfinden würden.

Die Entfernung von der Stelle, wo sie sich gerade befanden, bis nach der Inselgruppe, betrug etwa vierhundert Seemeilen, und da sie günstigen Wind hatten, so konnten sie diese in einundeinenhalben Tag zurücklegen.

Unverzüglich wurden dazu Anstalten getroffen.

Am Morgen des zweiten Tages kam die erste jener Inseln in Sicht. Ellen nahm die Sonne auf und fand, daß die ›Vesta‹ bereits dicht in der Nähe der vorgeschriebenen Stelle war.

»Die Insel ist zu sehen,« rief eine Vestalin von der Raa herab, »aber nichts von unseren Schützlingen.«

Es war ein sehr felsiges Eiland, durch frühere Erdbeben entstanden, bergig und zerrissen, sodaß sich die etwaigen Bewohner leicht den Augen der Mädchen entziehen konnten.

Als die ›Vesta‹ um einen Vorsprung herumsegelte, rief wieder die Obenstehende herab:

»Sie sind dort. Sie haben die ›Vesta‹ gesehen und winken uns.«

»Dann werden wir hoffentlich bald eine Lösung dieses Rätsels erwarten können.«

Ellen suchte einen guten Platz, ließ die Anker fallen und stieg selbst mit in das Boot, welches die Mädchen nun zum zweiten Male auf die ›Vesta‹ bringen sollte.

Sie fanden alle beisammen, unversehrt, aber die meisten vor Angst erschöpft.

Yamyhla schilderte nun, was sich zugetragen hatte, und das Erstaunen der Vestalinnen wuchs von Minute zu Minute. Hätten sie nicht selbst ein Wunder erlebt, so würden sie die Erzählung der Mädchen für ein Märchen gehalten haben.

Sie erfuhren, wie Kapitän Green von Madras gekommen sei, um auf Befehl Ellens die ›Vesta‹ nach Madras zu bringen; wie er die Befreiten dem griechischen Mädchenhändler ausgeliefert habe, die Züchtigung Yamyhlas, wie sich diese gerächt, und schließlich, wie die Mädchen auf diese Insel gekommen waren.

»Als die Explosion der Pulvervorräte das Schiff vernichtet hatte,« erzählte die Negerin, »fuhren wir ziellos in die dunkle Nacht hinein. Wir wußten nicht, wo wir waren, wir wußten nicht einmal, nach welcher Himmelsrichtung wir fuhren; aber dennoch waren wir alle froh, jenem schurkischen Demetri abermals entkommen zu sein. Lieber wollten wir in den Meereswogen umkommen, als daß wir zum zweiten Mal auf den Sklavenmarkt geschleppt würden. Ueberdies hatten wir genügend Wasser mit, verstanden uns einigermaßen aufs Rudern, und so konnten wir hoffen, von einem Schiff gesehen und aufgenommen zu werden, wenn auch nicht gleich am ersten Tage.

»Es war eine ruhige, warme Nacht, aber gegen Morgen fiel ein dichter Nebel, daß wir uns bald selbst nicht einmal mehr im Boote sehen konnten. Mir waren kühlende Umschläge auf meine Wunden gemacht worden; ich lag in unruhigem Schlummer, während die Mädchen abwechselnd langsam ruderten, als ich plötzlich geweckt wurde. Der Nebel war so dick geworden, daß ich die Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte, obgleich, meiner Berechnung nach, der Morgen bereits angebrochen sein mußte.

»Die Mädchen klagten mir, daß sie nicht rudern könnten, die Riemen würden ihnen förmlich aus der Hand gerissen, und wollten von mir Rat haben. Ich selbst versuchte zu rudern, aber auch ich konnte es nicht. Der Riemen wurde sofort zur Seite geschlagen. Jetzt tauchte ich meine Hand ins Wasser und fand, daß wir mit ungeheurer Schnelligkeit von einem Strom fortgerissen wurden, vielleicht schon stundenlang fortgerissen worden waren, ohne es bis jetzt bemerkt zu haben. Dies verschlimmerte unsere Lage jedoch nicht, und so warteten wir geduldig, bis wir aus dem Strom herauskommen würden und der Nebel wiche.

»Dann hörten wir, wie der Kiel des Bootes mehrere Male aufscheuerte; den Mädchen wurde es angst, aber ich freute mich darüber, denn jedenfalls trieb uns der Strom an eine Küste. Land konnte ich nicht entdecken, denn noch immer umgab uns ein undurchdringlicher Nebel. Da plötzlich bekam das Boot einen Ruck, daß wir fast von den Ruderbänken geschleudert wurden, und es blieb stehen, es war irgendwo aufgelaufen.

»Wir warteten, bis sich der Nebel verzogen hatte. Als es hell wurde, befanden wir uns hier in dieser Bucht, nur wenige Schritte vom Lande entfernt. Das Boot selbst hatte ein Leck bekommen, aber wir merkten es nicht, denn es saß vollkommen fest, und erst bei Ebbe, als es sich auf die Seite legte, wurden wir das gewahr. Wir wateten ans Land, das zwar eine unbewohnte, felsige Insel war; aber zum Glück fanden wir dort eine Kiste mit Büchsenfleisch und ein Faß mit Trinkwasser, die hier angespült worden sein mögen, sodaß wir wohl für einen Monat mit Nahrung versorgt gewesen wären. Das Boot war unbrauchbar, die nächste, sichtbare Insel schien eine eben solche wie unsere zu sein, und so bestand unsere einzige Aufgabe darin, nach einem Schiff auszuspähen, was wir auch thaten. Zwei Nächte haben wir hier geschlafen, das erste Mal im Freien, weil schönes Wetter war, das zweite Mal, als es regnete, in einer Höhle. Die ganze Insel ist mit solchen durchzogen. Vor einer Stunde sahen wir die ersten Segel, und wunderbarerweise waren es gerade die der ›Vesta‹, wir winkten mit Tüchern, ihr bemerktet es, und so habt ihr uns abermals dem Leben wiedergegeben.«

Die Damen sahen sich groß an.

»Ist dies nicht fast ebenso gewesen, wie damals bei uns, als wir im Boot waren?« sagte Jessy zu Ellen.

Diese ging kopfschüttelnd dahin, wo die Kiste mit dem präservierten Fleisch und das Wasserfaß lagen. Nirgends war ein Schiffszeichen oder eine Fabrikmarke zu entdecken.

»Wäre die Kiste angespült,« dachte sie, »so müßte das Holz beschädigt sein, aber davon ist nichts zu bemerken. Sie ist ganz neu, ebenso wie das Wasserfaß. Was hat das Geisterschiff hiermit zu thun? Wußte es den Aufenthalt der Mädchen? Warum hat es sie nicht selbst an Bord genommen? Oder halt, könnte es das Boot nicht hierher gelenkt, die Mädchen mit Nahrungsmitteln versehen und uns dann benachrichtigt haben, wo wir sie finden würden? Aber wiederum, wo sind jene Männer, wahrscheinlich auch Sklavenhändler oder etwas Ähnliches, welche die ›Vesta‹ besetzt hatten? Es sind noch viele Rätsel zu lösen.«


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