Adolph Freiherr Knigge
Benjamin Noldmann's Geschichte der Aufklärung in Abyssinien
Adolph Freiherr Knigge

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Siebenzehntes Kapitel

Entwurf der neuen Staatsverfassung.
Richtige allgemeine Begriffe von bürgerlicher Freyheit und Gesetzgebung.

Der Mensch in dieser Welt sucht Glückseligkeit, sucht sie vorzüglich, wenn er mit andern Menschen in Verbindung tritt; allein fühlt er sich hilflos und unbehaglich; um die Summe seiner Glückseligkeit zu vermehren, schließt er sich an seines Gleichen an.

Glückseligkeit ist Lebens-Genuß, und um des Lebens genießen zu können, muß man frey seyn. Lebt man aber in Verbindung mit andern Menschen, so kann nicht jeder Einzelne verlangen, Alles zu genießen; er muß auch den Übrigen erlauben, ihren Antheil Genuß von den allgemeinen Lebens-Gütern und Vortheilen zu schmecken; er muß also seiner Freyheit gewisse Grenzen setzen; doch nur solche Grenzen, in welchen er, mit der allgemeinen Glückseligkeit, seine eigne durch einzelne Aufopferungen befördert; denn sind die Grenzen der Freyheit zu enge gezogen, die Aufopferungen zu groß, so fühlt sich der Mensch in Verbindung unglücklicher als im isolierten Zustande; und so fällt also die Ursache weg, weswegen er sich an Andre angeschlossen hat. Jedermann wünscht daher, auch als Staatsbürger, noch immer soviel von der natürlichen Freyheit zu behalten, als mit der Wohlfahrt des Ganzen bestehen kann. Es kömmt desfalls darauf an, richtige Begriffe von der bürgerlichen Freyheit festzusetzen, damit wir, die wir das Joch der Tyranney abgeschüttelt haben, um freye Bürger zu werden, uns untereinander verstehen und wissen mögen, was wir suchen und was wir erlangen können.

Die Systeme des Natur- und Völkerrechts, die bey den europäischen Nationen im Gange sind und die ich studiert habe, finde ich voll verdrehter, conventioneller Ideen, die nichts weniger als aus der Natur entlehnt, nicht von der nüchternen, vorurtheilsfreyen Vernunft eingegeben sind; ich finde künstliche, ja! sogar religiöse Begriffe mit eingemischt, die gar nicht dahin gehören, wovon der Mensch im Stande der Natur nichts wissen kann.

Die Freyheit des Menschen im natürlichen, rohen, wilden Zustande besteht darin, daß jeder Einzelne alle seine Handlungen willkürlich einrichten, thun darf, was ihm beliebt und wozu er Kräfte hat, und nehmen, was ihn gelüstet und was er bekommen kann.

Der Mensch im geselligen Zustande unterläßt manche willkürliche Handlung, versagt sich manchen Besitz und Genuß, um Andern dergleichen zu überlassen, in der Absicht, daß diese ein Gleiches in Rücksicht seiner thun werden, oder er gibt etwas hin, um wieder zu erhalten und desto sichrer das Übrige zu besitzen; allein diese Aufopferungen sind willkürlich, sind das Werk wohlwollender Empfindungen oder Speculation des Eigennutzes.

Die Menschen im bürgerlichen Leben bringen diese Regeln der Geselligkeit und gegenseitigen Aufopferung in gewisse Systeme, setzen, mit Übereinstimmung Aller, Vorschriften darüber fest, die man Gesetze nennt, nach welchen dann jeder handeln muß, zu deren Befolgung man jeden zwingen kann, der im Staate geduldet seyn will. Nun fallen alle willkürliche Handlungen weg, weil keine Handlung erdacht werden mag, die nicht Einfluß auf die Wohlfahrt des Ganzen haben könnte. Wollte man, wie es von vielen geschieht, gewisse Handlungen davon ausnehmen und diese der freyen Willkür der Einzelnen überlassen, so würden sich bald Ursachen und Vorwände für jede Handlung finden. Dies nun, nämlich daß jede Handlung des Bürgers vom Staate eingeschränkt werden darf, ein Gegenstand der Gesetzgebung werden kann, klingt sehr despotisch; doch wird das wegfallen, wenn ich mich deutlicher erkläre. Despotismus besteht in der Befugnis, die Einem oder Mehrern verstattet, von Einem oder Mehrern genommen wird, Andern willkürlich vorzuschreiben, was sie in einzelnen Fällen thun oder unterlassen sollen; die Gewalt einer vernünftigen Staats-Verfassung hingegen beruht auf der Befugnis des ganzen Corps der Bürger, unter sich, durch Mehrheit der Stimmen, Regeln festzusetzen, nach welchen jeder einzelne Bürger seine Handlungen einrichten soll, solange er im Lande leben will, und in der Befugnis der Vorsteher des Staats, mit aller Strenge auf Befolgung dieser Regeln oder Gesetze zu dringen und zu halten.

Nach diesen allgemeinen Begriffen bestimme ich folgende besondere Sätze:

  1. Alle Handlungen eines Bürgers im Staate können ein Gegenstand der Gesetzgebung seyn, weil sie alle Einfluß auf das Ganze haben können; eine andre Frage aber ist, ob es gut sey, über alle Handlungen Vorschriften zu geben? Es ist also keinem Zweifel unterworfen, daß der Staat sich zum Beyspiel in das Erziehungswesen mischen und darüber Gesetze geben dürfe, weil es ihm nicht einerley seyn kann, was für Bürger ihm die folgende Generation liefert; allein es ist noch nicht ausgemacht, ob es zweckmäßig und vortheilhaft sey oder nicht, sich in das Geschäft der Privat-Erziehung zu mischen. Ganz gleichgültige Handlungen einzuschränken, wäre nun vollends Thorheit.
  2. Neue Gesetze aber, welche die Freyheit gewisser Handlungen einschränken, können nur mit Wissen und Willen aller erwachsenen Bürger im Staate gegeben werden.
  3. Da nicht zu erwarten steht, daß Tausende leicht einerley Meinung seyn werden, so muß, bey einer solchen Gesetzgebung, die Mehrheit der Stimmen entscheiden. Die weiseste Meinung ist nun aber freylich nicht immer die Meinung des größern Haufens; allein jeder kann sich für den Weisesten halten; und wer darf dann entscheiden? Es bleibt daher kein anderes Mittel übrig, als die Meinung der mehrsten für die beste Meinung zu halten; und am Ende muß es ja auch von dem größten Haufen abhängen, unweise Gesetze zu geben, wenn er nun einmal keine andre haben will, weil der größere Haufen der stärkste Theil ist und das Recht des Stärkern in der ganzen Natur die Oberhand hat.
  4. Es muß jedermann erlaubt seyn, wenn ihm diese Gesetze nicht gefallen, das Land zu verlassen, in welchem man gezwungen wird, nach denselben zu handeln. Ein Gesetz also, welches den Bürgern im Staate das Auswandern verbiethet, ist ein tyrannisches Gesetz; denn die bürgerliche Einrichtung soll eine Wohlthat für einzelne Menschen seyn, und man darf niemand zwingen, wider seinen Willen Wohlthaten anzunehmen.
  5. Durch das Recht des Stärkern, folglich auch durch Vereinigung der größern Anzahl gegen die kleinere, folglich auch durch Entscheidung der Mehrheit der Stimmen, könnten ungerechte Befehle gegeben werden; die bloße Freyheit aber, sich diesen Ungerechtigkeiten durch Auswanderung aus dem Lande zu entziehen, scheint manchen guten und nützlichen Bürger in die Verlegenheit stürzen zu können, des Eigensinns vieler schiefen Köpfe wegen mit seinem gradern Kopfe das Land zu verlassen und die Früchte seines Fleißes darin mit dem Rücken anzusehen, ein Land, in welchem er manche andre Gemächlichkeit fand und auf vielfache Weise Gutes stiften konnte. Um auch diesen Nachtheil vom Staate abzuwälzen, muß man jedem erlauben, die Gemüther der größern Anzahl zum Vortheile seiner Meinung zu lenken. Da doch am Ende alles auf dem Recht des Stärkern beruht, so darf man auch niemand die Mittel benehmen, durch Stärke des Geistes, durch die Übermacht, welche höhere Verstandeskräfte gewähren, der andern Macht das Gleichgewicht zu halten. Es muß daher jedem unverwehrt bleiben, frey über zu machende und zu verändernde Gesetze seine Meinung zu sagen und zu schreiben und alle Künste der Überrredung und jedes andre Mittel anzuwenden, um den großen Haufen, welcher entscheidet, auf seine Seite zu bringen. Wendete er unedle Mittel an und ließen seine Mitbürger sich durch unedle oder sophistische Gründe lenken, so wäre das ein Zeichen, daß die mehrsten dieser Leute schlechte, unvernünftige Menschen wären; und da würde dann erfolgen, was sie verdienten und der Ordnung der Dinge angemessen ist – sie würden eine schlechte Staats-Verfassung bekommen. Dies wird aber schwerlich je der Fall seyn, und wenn man nur zwanglos der Ordnung der Natur den freyen Lauf läßt, so wird auf die Länge immer die Sache der gesunden Vernunft die Oberhand behalten.
  6. Ist ein Gesetz einmal gegründet, so muß freylich die heranwachsende Generation sich demselben unterwerfen, obgleich sie nicht ihre Stimme dazu gegeben hat; denn sie hat ja keinen neuen Staat zu errichten, sondern der Staat ist schon gegründet, in welchem zu leben die Neuhinzukommenden entweder die Freyheit behalten und sich dann den Vorschriften unterwerfen müssen oder aber auswandern mögen. Allein auch dies könnte zu einer Art Ungerechtigkeit werden; nach Verlauf eines Jahrhunderts lebt ja keiner von den Gesetzgebern mehr; auch verändern sich die Zeiten und Umstände; da ist es dann unbillig, daß Menschen ihren freyen Willen nach Vorschriften einschränken sollen, die in alten Zeiten Personen gegeben haben, welche gar keine Gewalt über die Handlungen solcher Menschen haben konnten, die damals noch nicht existierten. Um auch diesen abzuhelfen, muß jedem Bürger im Staate freystehen, nicht nur über zu gebende Verordnungen ungestört seine Meinungen zu sagen und sie auf alle Art gelten zu machen, sondern diese Freyheit muß sich auch auf sein Urtheil über schon existierende Gesetze und Einrichtungen erstrecken, die er abgeschafft zu sehen wünscht. – Frey und ungehindert muß also jeder Bürger über Regierung und Staatsverwaltung reden und schreiben dürfen.
  7. Da der Ton des Zeitalters, da Lebensart und Sitten, Verhältnisse der Einwohner gegen einander und gegen Fremde, das Land selbst, kurz! alles, in einem Zeiträume von einem Menschenleben sich verändert, so werden manche heute gegebene Gesetze nach fünfzig Jahren unnütz und zwecklos seyn. Es ist daher der Klugheit gemäß, daß die Volks-Versammlung, nach Ablauf einer gewissen, zu bestimmenden Zeit, die sämtlichen Landesverordnungen aufs neue durchgehe, untersuche, Einwendungen dagegen und nützliche Vorschläge zu Abänderungen und Neuerungen von jedem Bürger im Staate sich vorlegen lasse und darnach ein neues Gesetzbuch verfertige.
  8. So gewiß jede Handlung eines Bürgers durch Gesetze bestimmt oder eingeschränkt werden darf, wie ich das schon bewiesen habe, so sehr befördert es die allgemeine und die Privat-Glückseligkeit, daß man bey der Gesetzgebung darauf Rücksicht nehme, sowenig als möglich die natürliche Freyheit einzuschränken, sich untereinander keinen unnützen oder gar schädlich werdenden Zwang aufzulegen. Es werden daher bey unsrer Legislation eine Menge kleiner Verordnungen wegfallen, die bey andern Völkern ganze Bände füllen.
  9. Da die Gewalt der Gesetzgebung sich nur auf Handlungen erstreckt, so können Gedanken und Meinungen gar nicht, offenbare Absichten sehr selten ein Gegenstand derselben seyn.
  10. Was der Mensch besaß, ehe er in die bürgerliche Verbindung trat, was er ohne sie besitzen kann, was er ihr nicht zu verdanken, von ihr nicht zu erwarten hat, wovon sie ihm den Besitz nicht zuzusichern vermag, endlich was er ihr nicht aufopfern kann, weil er selbst nicht Herr darüber ist, das darf ebensowenig ein Gegenstand der Gesetzgebung werden.
  11. Weil es jedermann erlaubt seyn muß, auch über die wichtigsten Dinge frey und offenherzig seine Meinung zu sagen, und nur Handlungen der Gegenstand der Gesetzgebung sind, so dürfen also gesprochene und geschriebne Worte, von welcher Art sie auch seyn mögen, nie durch Gesetze eingeschränkt werden.
  12. Da auf diese Weise der Staat den Bürgern Gelegenheit gibt, öffentlich alles Gute zu thun und zu reden, zum Besten des Ganzen und zu ihrer eignen Wohlfahrt alle redliche Mittel anzuwenden, sie auch gegen Beeinträchtigung dieser Freyheit kräftig schützt, so darf er dagegen desto strenger jede geheime Machination, jede versteckte Meuterey, jede im Finstern schleichende Wirksamkeit einzelner und verbundner Menschen, jede anonyme Verunglimpfung, Schmähung und Anklage verdächtig finden und ahnden; denn da, wo man der Vernunft, der Ausbreitung nützlicher Kenntnisse und der Ausführung nützlicher Zwecke keinen Zwang auflegt, da kann es keine erlaubte geheime Künste und keine redliche geheime Pläne geben. – Soviel von der bürgerlichen Freyheit und den Grenzen der gesetzgebenden Macht im Allgemeinen!

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