Adolph Freiherr Knigge
Benjamin Noldmann's Geschichte der Aufklärung in Abyssinien
Adolph Freiherr Knigge

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Neuntes Kapitel

Fortsetzung des Vorigen.

Je mehr die Bevölkerung in Abyssinien zunahm, desto mannigfaltiger wurden die Fälle, in denen man des Raths und der Entscheidung des Oberhaupts bedurfte. Um nicht über jeden kleinen streitigen oder schwierigen Punct seine Zuflucht zu diesem nehmen zu müssen und um zu verhindern, daß nicht zuweilen eine Partey sich durch den Ausspruch des Fürsten gekränkt glaubte oder ihn im Verdacht einer Parteylichkeit hätte, traten alle Häupter der Familien zusammen und setzten über oft vorkommende Fälle gewisse Regeln fest, wonach diese entschieden werden sollten. Dies waren die ersten Gesetze. Bey so einfachen Verhältnissen bedurfte es keiner großen Menge solcher Gesetze. Der Fürst hatte nun eine Richtschnur, welche alle Willkür hinderte, einen Codex, nach welchem er richten mußte. Nur in außerordentlichen, noch nie vorgekommenen oder nicht klar determinierten Fällen überließ man es seiner Klugheit, ein billiges Urtheil zu sprechen.

Unter diesen Gesetzen war auch eines, die Erbschaften betreffend. Darin wurde unter andern ausgemacht, daß, wenn eine Familie ausstürbe, ihre Besitzungen dem ganzen Staate anheimfallen sollten, und da es nicht gut möglich war, diese in unendlich kleine Stücke unter alle übrigen Familien zu vertheilen, so räumte man dem jedesmaligen Fürsten das Recht ein, sie, im Namen des Staats, nach bestem Wissen und Gewissen, vorzüglich würdigen, fleißigen oder durch Unglücksfälle verarmten Familien zu schenken. – Als dies Gesetz gemacht wurde, schüttelten einige weise, in die Zukunft voraussehende Männer bedenklich die Köpfe; allein es ging, durch Mehrheit der Stimmen, durch.

Auf große Tafeln wurden nun die neuen Gesetze gegraben, und da, wo die Sammelplätze der verschiednen Stämme waren, aufgehenkt. Sie kamen also zu jedermanns Wissenschaft und waren auf Kinder und Kindeskinder verbindlich, weil das Corps der Familien-Häupter dazu eingewilligt hatte. Doch verstand sich's von selber, daß es jeder Einzelne die Freyheit behielt, ihre Gültigkeit nicht anzuerkennen, folglich auf seine Gefahr dagegen zu handeln oder das Land zu verlassen.

Was die Strafen betrifft, so waren sie äußerst einfach. Wo Ersatz möglich war, Ersatz; in einzelnen Fällen Einkerkerung, auf einige Zeit, oder, wenn die Sicherheit des Staats es erforderte, doch äußerst selten, auf immer; vielmehr, statt dieses letzten heftigen Mittels, die Landesverweisung, mit der Bedrohung einer ewigen Einkerkerung, wenn der Verbrecher sich wieder unter den Abyssiniern sehen ließe. An Todesstrafen war auf keine Weise zu denken. Dieser abscheuliche Gedanke kam nicht in die Seele der guten Gesetzgeber. Wie sollte es ihnen eingefallen seyn, sich das Recht anzumaßen, einem ihrer Brüder eine Existenz zu rauben, die sie ihm weder geben noch zusichern konnten, worauf er ein Recht gehabt hatte, ehe an ihre Gesetze gedacht war, und dies deswegen, weil er andre Begriffe von Recht und Unrecht hatte als sie? Wie konnte es ihnen einfallen, selbst zu Bestrafung des Totschlags, noch einen Totschlag zu begehen; ohne Zweck, ohne das geschehene Übel dadurch gutzumachen, ohne den Verbrecher zu bessern, ohne hoffen zu dürfen, daß durch diese unbefugte Gewaltthätigkeit andre Rasende abgehalten werden würden, in der Wuth der Leidenschaften ähnliche Verbrechen zu begehen?

Von diesen Strafen nun wurden nie Ausnahmen gemacht, am wenigsten stand dem Fürsten die Befugnis zu, sie zu mildern oder zu erschweren; denn noch war der Begriff, daß der Fürst in Staats-Angelegenheiten nach seinem Willen handeln, sich an die Stelle des Staats setzen, Rache ausüben, willkürlich verdammen und lossprechen, Gesetze aufheben, aus eigner Macht Verordnungen geben, Gnade für Recht ergehen lassen und überhaupt Gnaden ertheilen könnte, nie in eines Abyssiniers Kopf gekommen. Gerechtigkeit üben, das war seine Pflicht; Gesetze, gesunde Vernunft und Billigkeit, seine Richtschnur; Er, ein Verwalter des Staats; seine Verrichtungen ein übertragnes Amt, wofür er ernährt, versorgt und geehrt wurde.

So standen die Sachen, und ich meine, sie standen so übel nicht, als einige Stämme in Nubien, welches von Ägypten aus durch rauhe, wilde Menschen war bevölkert worden, die mit den Abyssiniern in keiner Verbindung lebten, auf den unglücklichen Einfall geriethen, mit bewaffneter Hand in dies schöne, friedliche Land einzubrechen und unserm guten Völkchen seine fruchtbaren Besitzungen streitig zu machen. Dies war der erste Krieg, den die Abyssinier führten; sie waren aber nicht ungeübt in Waffen; gegen Löwen und Hyänen hatten sie sich vertheidigen gelernt; nur gegen ihre Brüder das Schwert zu ziehen, das war ihnen neu. Aber hier galt es Rettung des Eigenthums, des Lebens, der Freyheit, und sie waren an Leib und Seele gesund, nervig, stark. Der Zorn der muthwillig gereizten Sanftmüthigen ist fürchterlicher als das Toben des unruhigen Zänkers. Unsre Abyssinier empfingen, schlugen und verfolgten siegreich die Nubier, auf eine Weise, die diesen auf lange Zeit die Lust benahm, sich wieder an ihnen zu vergreifen. Hierdurch entwickelte sich bey dem Volke ein bisher unbekannt gewesenes, schlafen gelegenes Ressort, die Tapferkeit, aber mit ihr zugleich sproß auch der Keim der Ehr- und Ruhmsucht hervor, und in denen, welche in der Schlacht sich vorzüglich ausgezeichnet hatten, war ein Toben, ein Streben entstanden, das ihnen nachher die stillen häuslichen und ländlichen Geschäfte unschmackhaft machte. Man focht Mann gegen Mann; die Niederlage der Nubier war groß; viele von ihnen wurden gefangen; keiner von abyssinischer Seite. Noch kannte man die Speculation nicht, Menschen gegen Geld und Ware umzusetzen; also nahm jeder seinen Gefangenen mit sich nach Haus und betrachtete ihn als seinen Knecht. Die Erbitterung aber gegen sie war so groß, daß man diese Gefangnen nicht wie andre Knechte, die, wie vorhin ist gesagt worden, immer wieder frey werden konnten, behandelte, sondern ihnen die schwerste Arbeit aufbürdete, ihnen schlechtere Kost und Kleidung gab und ihnen nicht das Recht zugestand, sich frey zu machen, in ihr Vaterland zurückzukehren oder sich in Abyssinien festzusetzen. Das war denn die Entstehung des unnatürlichen Sclavenstandes. Wie man sich indessen an alles gewöhnt, so hörten diese Sclaven zuletzt auf, den Verlust ihrer Freyheit zu fühlen, besonders wenn sie das Glück gehabt hatten, an gute Herren zu gerathen, und weil sie denn doch ohne häusliche Sorgen lebten, indem die Herren ihnen alle Bedürfnisse des Lebens reichen mußten. Ja! da es hübsche Männer unter ihnen gab, so geschah es zuweilen, daß die Liebe, die keinen Unterschied der Stände kennt, zwischen ihnen und den Töchtern des Landes Ehebündnisse zu Stande brachte. Nun wurde durch ein Gesetz verordnet, daß auch die Weiber, Kinder und deren Abkömmlinge Sclaven seyn sollten – also Sclaven-Familien! Daß durch diese Einrichtung wieder ein großer Unterschied in den Vermögens-Umständen der Eingebornen entstand, ist sehr natürlich; denn wer viel Sclaven hatte, konnte nicht nur größere Anlagen machen, von denen er den ganzen Vortheil zog, sondern man kam auch bald auf die Finanz-Operation, seine Sclaven zu vermiethen.

Jedermann hatte freye Macht, mit seinem Vermögen, also auch mit seinen Sclaven, nach Gutdünken zu schalten und zu walten. Hatte nun ein gutmüthiger Herr einen seiner Sclaven liebgewonnen, oder dieser hatte des Herrn Tochter zum Weibe gemacht, oder der Herr hatte nicht Arbeit genug für ihn, so schenkte er ihm und seiner Familie die Freyheit. Diese Freygelaßnen genossen dann alle Rechte der Einheimischen, und da jeder freye Mann in Abyssinien sich niederlassen und anbauen konnte, wo er wollte, so entstanden nach und nach Familien, die von Fremden abstammten und die hernach hie und da auch wohl andre in das Land lockten, wodurch zugleich fremde Sitten, Gebräuche und Bedürfnisse nach Abyssinien verpflanzt wurden.

Die Nubier waren durch den ersten unglücklichen Erfolg ihrer Waffen noch nicht vom Kriege abgeschreckt worden, sondern erneuerten ihre Anfälle in Abyssinien. Dies setzte die Einwohner in die Nothwendigkeit, sich stets zur Vertheidigung bereitzuhalten. Das Oberhaupt, der Fürst, war immer, wie wir gehört haben, ein alter Mann, folglich weniger geschickt, die Beschwerlichkeiten der Feldzüge auszuhalten, in denen er sein Volk, das jetzt kriegerisch geworden war, anführte. Dies lehrte die Abyssinier, daß es nun besser sey, bey entstehendem Todesfalle ihres Oberhaupts einen jüngern Mann an seiner Stelle zu wählen. Natürlicher Weise traf die Wahl den, welcher in den Feldzügen die größten Beweise von Muth gegeben hatte. Nun also wurde, statt daß vorher bloß Weisheit, Alter, Erfahrung ein Recht zum Throne gegeben hatten, noch persönliche Tapferkeit ein Erfordernis, um Fürst zu seyn.

Persönliche Tapferkeit hat zum Theil ihren Grund in Organisation des Körpers, zum Theil wird sie durch einen Enthusiasmus, durch ein Ehrgefühl erzeugt, und beides pflegt in gewissen Familien fortgepflanzt zu werden. Der tapfre, nervige Sohn des tapfern, nervigen Fürsten focht an der Seite seines Vaters, wurde angefeuert durch das Beyspiel seines Muths und zu Hause durch kühne, große Grundsätze emporgehoben. Die Achtung, Furcht und Ehrerbiethung, welche man für den Fürsten empfand, fing bald an, sich auch auf ihre Familien zu erstrecken. Bey einer neuen Fürstenwahl glaubte man dem tapfern Oberhaupte keinen bessern Nachfolger geben zu können als seinen tapfern Sohn. Nach Verlauf eines halben Jahrhunderts wurde es zu einer Art von Observanz, die Fürsten aus Einer Familie zu wählen, um so mehr, da diese früh zu Regenten auferzogen wurden und keine andre Hanthierung trieben. Endlich wurde ein Recht daraus, und das Reich wurde ein Erbreich.

Zwey Umstände trugen hierzu noch sehr viel bey. Nämlich, erstlich: da jeder Bürger im Staate, der das männliche Alter erreicht hatte, mitwählte und das Volk nun auf einen kriegerischen Ton gestimmt war, so hatte der tapfre Fürstensohn immer die Stimmen derer auf seiner Seite, unter deren Augen er bey der Armee gefochten hatte, indes die kleinere Anzahl der weisern Alten, die nicht mit im Felde gewesen waren, wohl freylich lieber für einen Mann stimmten, der mehr durch Einsicht, Kaltblütigkeit und Erfahrung als durch Kühnheit und Muth des Thrones würdig schien. Zweytens: der Tapferste gewann im Kriege die mehrsten Gefangnen, erhielt folglich die mehrsten Sclaven, konnte folglich reicher und mächtiger werden als die andern (und Reichthum verblendet ja das Volk und gibt Zuversicht), konnte endlich mehr Sclaven freylassen, die dann Bürger wurden, aber ihm aus Dankbarkeit verpflichtet blieben und seinem Sohne ihre Stimme nicht versagten, vielleicht gar nur unter dieser Bedingung die Freyheit erhielten. Hier haben wir eine Entstehung der Hof-Creaturen und den schwachen Anfang des dem Despotismus so vortheilhaften Lehnsystems in Abyssinien.

Auf stürmische Zeiten folgten ruhigere; der Krieg, den die Nubier angefangen hatten, war hauptsächlich darauf abgezielt gewesen, sich in den Besitz einer Provinz von Abyssinien zu setzen, aus welcher ein Product gezogen werden konnte, an welchem es in Nubien fehlte. Dagegen gab es aber in diesem Lande wieder Producte, welche man in Abyssinien nicht hatte. Kältere Überlegung unterrichtete beide Parteyen von der Möglichkeit, durch Tausch ihre gegenseitigen Wünsche zu befriedigen; man schloß einen Vergleich. – Dies war die Entstehung des Handels, mit welcher wiederum die abyssinische Cultur, Stimmung und Verfassung eine andre Gestalt und Wendung bekamen, wovon es der Mühe werth ist, etwas weitläufiger zu reden; und das soll im folgenden Kapitel geschehen.


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