Gottfried Keller
Züricher Novellen
Gottfried Keller

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2.

Dennoch schlief er gut und tief in den Morgen hinein, da seiner Müdigkeit das sorglich aufgefrischte Lager, das vormalige breite Ehebett seiner verstorbenen Eltern, gastfreundlich entgegenkam. Er mußte auch gleich beim Erwachen der weiblichen Hand gedenken, die dieses Lager so wohl zubereitet; und als er vollends den ihm zugedachten Morgenimbiß erblickte, schwankte er in seinem Sinne, ob er nicht töricht gehandelt habe, das zärtliche Glück von sich zu stoßen, das ihm so nahe gewesen. So gut er es verstand, braute er nun selbst den heißen Würzetrank und überlegte, bei demselben sitzend, wie die Sache zu wenden sei, daß er auf rechte Weise zu dem Seinen komme.

Da öffnete sich die Türe und der alte Schnurrenberger trat herein, in Fausthandschuhen und die Axt unter dem Arme wie einer, der ins Holz gehen und im Vorbeiweg zusprechen will. Mit seinen stets oszillierenden Augen besah er schnell das Frühstück, zu welchem Hansli ihn einlud, und er säumte auch nicht, daran teilzunehmen.

»Ich werde diesen Wein und dieses Brot und das Gewürz«, begann er mit bedächtigen Worten, »auf unsere Abrechnung und zwar zu meinen Gunsten schreiben müssen, da du das Kind verschmäht und von dir gestoßen hast; denn billig trägst du jetzt diese Kosten allein!«

»Wer sagt denn von verstoßen und verschmähen? Ich will sie mehr als je!« antwortete Hans; »aber ich wundere mich, daß ihr, Vater und Mutter, euer Kind auf die bewußte Art aus der Hand geben wollet; und ich wundere mich, daß ihr mit solchen Schalksnarren verkehrt, die euch solches in den Kopf setzen, wie ich gestern gesehen!«

»Diese armen Schalksnarren werden deine und deiner Herren Meister sein; denn wir, das Volk, werden sie groß machen, damit wir selber groß und herrlich werden nach dem Ratschluß Gottes, der auf dem Wege zu uns ist! Was das Kind, die Ursula, betrifft, so wollen wir uns dem alten Heidenregiment nicht mehr unterwerfen, sondern sie aus göttlicher Freiheit weggeben, und nur wer sie in solcher Freiheit aufnimmt, kann sie haben. Du aber bist als ein halsstarriger und hochmütiger Spießgesell des Alten heimgekommen, das sehen wir freilich, und bauen nicht mehr viel auf dich!«

Hansli Gyr sah bekümmert vor sich hin; er gehörte zu jenen einfach gearteten Menschen, welche von ausbrechenden Seelenkrankheiten unberührt bleiben, ohne sich irgend dafür anstrengen zu müssen, wie es Leute gibt, die gegen leibliche Seuchen verwahrt scheinen und ohne Gefährde hindurchgehen. Er fühlte daher wohl, daß er dem verworrenen Wesen, das ihm widerstand, nie näherkommen werde. Während er aber gegen die Ursula keinerlei Bitterkeit, sondern nur zärtliches Mitleid empfand, erfüllte ihn das Benehmen ihres Vaters mit Ungewißheit und Abneigung. Er hatte denselben jederzeit als einen schlauen und beredten Mann gekannt und für klüger gehalten, als er in der Tat war, insofern er in seiner Unschuld nicht zu beurteilen wußte, wie gerade solche Schlauköpfe, von übeln Trieben geleitet, am ehesten der Verkehrtheit verfallen, die sie zu beherrschen wähnen. Um so rätselhafter erschien ihm jetzt dieses fremdartige Unheil, das sich so unheimlich an die Stätte seiner Wiege und seiner verhofften Zukunft eingenistet hatte.

Nach einem kleinen Nachdenken faßte er sich jedoch zusammen und sagte:

»Ich will nach Zürich gehen, wo ich ohnehin mich noch zu stellen und zu tun habe. Dort werde ich mich umschauen und am besten sehen und hören, was im Lande geht und was die Obern eigentlich wollen und lehren lassen. Darum wäre es mir lieb, wenn du meine Sache so lang noch besorgen wolltest; sobald ich wieder komme, will ich dir alles abnehmen und dich nicht am Schaden lassen!«

Diese Mitteilung gefiel aber dem Enoch Schnurrenberger keineswegs, und daß der junge Mann in der Stadt der alten Herrscher sich Rats erholen wolle, statt ihm zu glauben.

»Du wirst nicht wiederkommen!« sagte er schnell besonnen; »und aus alter Freundschaft und um dir Gutes zu tun, will ich es dir leicht machen, deinem vermeintlichen Glücke nachzugehen, solange der Geist Gottes nicht über dich kommt. Höre also: Alles, was man jetzt Eigentum nennt, wird aufhören, sobald das Reich der tausend Jahre kommt, was über Nacht geschehen kann! Zuerst werden Zehnten und Grundzins, Gefälle und Frondienst und alle ungerechten Beschwernisse abgeschafft; bald darauf wird aber auch alles Land eingezogen und der letzte Marchstein ausgegraben, und wer nicht mithalten will, kann den Mund wischen und gehen. Damit du jetzt schon gehen kannst, ohne um das deine zu kommen, will ich dir dein Gütlein aus Erbarmen um einen billigen Kaufschilling abnehmen und es als das Meinige bewerben, solange der alte Zustand noch dauert. Da ich an dem neuen Reiche teilhaben werde, so leide ich alsdann ja keine Not und müßte so wie anders alles, was ich besitze, an dasselbige abgeben. Du aber kannst auf diese Weise einstweilen ziehen, wo dich gelüstet, und hast einen guten Reisepfennig!«

Enoch nannte, nach einem scheinbaren kleinen Besinnen, einen noch kleineren Kaufpreis, um welchen er sogleich mit Hansli abmachen wollte.

»So viel besitze ich schon an erspartem Sold und etwas Beutegeld,« erwiderte Hans, indem er ein mit Gold gefülltes Ledersäcklein hervorzog und dem Alten zeigte, dessen neugierige Augen mehr von irdischen Dingen als vom Reich Gottes zu funkeln schienen.

»Überdies«, fuhr Hansli fort, »steht mir das Gütlein vorderhand noch fest genug. Es könnte ja aber auch so kommen, daß Zehnten und Grundzinse allerdings abgeschafft würden, nicht aber das Grundeigentum, und alsdann wäre dieser Hof um so viel mehr wert, ich also darum betrogen, woran du freilich gewiß nicht gedacht hast. Wir wollen es daher beim alten lassen, und ich danke dir für deine gute Hilfsmeinung!«

»Wie du willst,« sagte Enoch, dessen Gedanken Hansli ziemlich erraten hatte, da er auch nicht auf den Kopf gefallen war; »aber sorge nun dafür, daß das Gewerblein bestellt wird, denn ich mag mich nicht länger damit plagen! »

Hiermit nahm er seine Axt zur Hand und verließ ohne weitere Reden das Haus, in welchem Hansli Gyr einsam zurückblieb. Enochs Betragen drückte ihm nicht wenig auf das Herz, da er daran erkannte, daß man ihn aufgab und aus der Nähe zu bringen suchte. Nachdem er eine Weile in der stillen Stube gesessen, welche gestern so warm und wirtlich gewesen und jetzt so kalt und unfreundlich war, sprang er plötzlich empor, um sich auf den Weg zu machen. Statt die alten Bauernkleider hervorzusuchen, blieb er in seinem Kriegsgewande und stellte dasselbe, wie die Waffen, sorgfältig wieder in sauberer Ordnung her. Auch die lederfarbigen Handschuhe mit den hohen Stulpen zog er wieder an, wie wenn er sich dadurch stolz von der verkehrten Heimat abschließen und unterscheiden wollte. Als er vollends die Fensterläden zugeschlossen hatte und von der Türschwelle in das dunkle Haus zurücksah, wurde es ihm beinah zumut, als ob der alte Invalide zu Rapperswyl recht gehabt und er lieber wieder hinaus möchte, wäre es auch nur, um ein Grab im grünen Felde zu finden.

Er nahm jedoch den Schlüssel zu sich und ging in der Richtung nach Enochs Hof hinweg, in der Absicht, denselben dort abzugeben, gewissermaßen als Unterpfand, daß er wiederkommen werde und seinerseits die Hoffnung nicht fahren lasse. Als er zu der Behausung kam, saß die Mutter der Ursula, winterlich eingemummt, in der offenstehenden Scheuer und schnitt irgendein Viehfutter zurecht, wonach hier die tägliche Arbeit doch einstweilen in alter Weise fortgeführt wurde.

»Muß man im tausendjährigen Reich auch noch Kraut und Rüben schneiden?« sagte er mit versöhnlichem Scherz; »guten Tag gebe euch Gott! So fleißig mit den krummen Fingern?«

»Danke dir Gott, Hansli, und gebe dir auch einen guten Tag!« antwortete die Frau; »man wird immer etwas tun müssen, es wäre ja sonst zu langweilig! Wo willst du hin mit deiner Rüstung? Ich wäre jetzt bald zu dir hinübergekommen, um dir etwas zu Mittag zu kochen, da man dich doch nicht so sitzen lassen kann! Doch du scheinst ja wieder ausfliegen zu wollen?«

»Ich muß nach Zürich hinunter, wo die Mannschaft abgedankt wird; hier ist mein Schlüssel, wenn Ihr ihn noch so lang verwahren wollt! Und sagt, wie ist es mit der Ursula? Ist es auch Euere Meinung, daß sie ohne Pfarrer und Obrigkeit eine Frau werden soll?«

»Ja, das ist auch meine Meinung, weil es der Wille Gottes und meines Mannes ist. Er versteht das Ding freilich besser als ich und hat immer seinen Willen durchgesetzt. Er gedenkt selbst ein Oberhaupt zu werden in der neuen Zeit und sagt, einmal müsse man anfangen, und gerad mit dem, was uns am nächsten liegt. Klug genug ist er, alles durchschaut er und hat große Gaben. Du tätest daher am besten, du würdest dich ihm unterwerfen; denn du kannst nicht aufkommen gegen ihn. Die Ursel hat letzte Nacht kein Auge zugetan; sie sitzt jetzt in der Stube und spinnt; willst du nicht hineingehen?«

Er tat es; Ursula wurde ganz mit Rot übergossen, als er eintrat; sie senkte den Blick auf die Spindel, ohne zu beachten, daß der Faden in Unordnung geriet. Seinen Gruß erwiderte sie nicht, und selbst als er ihre Hand ergriff, sah sie nicht auf, sondern wendete sich ab.

»Ich bin gestern gar nicht dazugekommen, dir das Ringlein zu geben, das ich mitgebracht habe,« sagte er, und legte ihr einen feingearbeiteten Goldreif, den er in Italien gekauft, an einen Finger der Hand, die er ergriffen; »willst du dich mir aufs neue anvertrauen und versprechen, daß du wartest, bis ich wiederkomme?«

»Nur wenn du deiner verlorenen Welt absagst und dich zu uns hältst, will ich den Ring tragen,« sagte endlich Ursula mit stets abgewandten Augen, »im übrigen will ich warten, bis du dich an die großen Dinge mehr gewöhnt hast!«

»Ich sage keinem ab und keinem zu!« rief Hansli, »du aber mußt jedenfalls von den Propheten lassen, die ich gestern gesehen; denn die gefallen mir nicht!«

Da streifte Ursula den Ring vom Finger und ließ ihn auf den Boden rollen, indem sie aufstand und ohne den Hansli Gyr anzusehen aus der Stube ging, in die Kammer, wo sie sich den heiß hervorbrechenden Tränen überließ. Sie beugte sich unter dem Banne des Wahnes und des stechenden Blickes ihres Vaters, den sie zu gleicher Zeit fürchtete, wie ein Schwert, und verehrte, wie einen untrüglichen Heiligen; denn wo sollten solche Geister Anhang und Glauben finden, wenn nicht zuerst bei den Ihrigen, denen sie die Sache unaufhörlich vorsagen und jede wünschbare Beschreibung von sich machen?

Hans stand noch einige Minuten in der Stube; dann ging er, ohne den Ring aufzuheben oder sich weiter umzuschauen, hinaus und begab sich mit einem schweren Seufzer auf den Weg. Wieder begegnete er, als er durch die nächsten Dörfer kam, manchen seltsamen Leuten und Blicken und sah, wie sie zusammenstanden und raunten. Bald aber, je weiter er kam, war es, wie wenn die Luft sich klärte; er sah das alte vertraute Volk, welches unbefangen und verständig seinen Geschäften oblag und mit heiterer Ruhe seine Wege ging. Und doch war auch hier und überall nicht mehr die alte Weise; eine rege und kräftige Gedankenarbeit schien die geklärten Lüfte zu durchwehen und die Menschen zu beseelen, und ohne daß er sich sagen konnte, woran es lag, wurde es dem rüstig Ausschreitenden wohler und heller zumute.

Freilich traf er die Kriegsschar, die noch zu Zürich lagerte, in Widerspruch und Aufregung begriffen. Durch das strenge Verbot aller weiteren fremden Kriegsdienste und der Pensionen fühlten sich die alten Reisläufer und ihre Rädelsführer hart betroffen und am neuen Auslaufen verhindert, und von den geheimen oder offenen Gegnern der Reformation aufgehetzt, ließen sie ihrem unwirschen Mute und der Zunge den Zügel schießen, während von der anderen Seite die prophetischen Schwärmer sich unter die Soldaten mischten und sie für sich zu gewinnen suchten.

Nachdem Hansli Gyr sich vorläufig umgetan und sich bei den Vorgesetzten gemeldet hatte, suchte er, da es Abend geworden, das Trinkhaus zum Elsasser auf, wo die Stadt durch ihren eigenen Wirt elsässischen Wein ausschenken ließ und jetzt die Unteroffiziere und alten Streithähne des zurückgekehrten Heerhaufens beieinander saßen oder standen; denn schon unter der Haustüre, über welcher das Stadtwappen gemalt war, und auf dem Flur waren die reisigen Gesellen in Gruppen versammelt und gingen ab und zu in aufrechter, schlanker Haltung, wie Leute, die seit Jahren den Rücken nicht gebeugt und den Karst nicht mehr geführt haben oder die Axt. Hansli drängte sich durch und eroberte noch einen äußersten Platz in der dichtgefüllten Stube, die vom lauten und aufgeregten Gespräche widerhallte, soweit die niedere Decke das zuließ. Scharfe Sprüche und Reden schwirrten durcheinander; die in den höchsten Lagen ertönenden Stimmen gehörten gerade den längsten und stärksten Männern an, erklangen aber nur um so schneidender und drohender. Sie stritten auf allen Seiten darüber, ob dem Kriegsverbote zu gehorchen oder offen zu trotzen sei, oder ob man einfach das Land verlassen und, das Übrige der Zukunft anheimstellend, ziehen wolle, wo es beliebe.

Als Hansli sich genauer umsah, bemerkte er den kalten Wirtz von Goßau, der mitten unter den Kriegern zu hinterst an der Wand saß, dicht neben einem anderen seltsamen Nichtkrieger, einem verkappten Mönch und Papist, den niemand kannte, der aber bis jetzt allerlei aufreizende Worte zum Widerstand und zum Festhalten an der alten Kriegsfreiheit in Umlauf gesetzt hatte. Plötzlich zog Wirtz seine Augbrauen bis unter den Hut hinauf und fing an zu rufen, die Männer sollten diesem römischen Teufelsgesellen nicht glauben, aber auch nicht den Herren und Räten, sondern sie sollten ihre Spieße auf einen Haufen werfen mitten in der Stadt und dieselben feierlich verbrennen; denn das neue Jerusalem sei im Anzuge, das seine eigenen Stadtsoldaten mitbringe, Legionen von Engeln mit feurigen Schwertern, gegen die kein irdisches Eisen mehr aufkommen könne. Dieses werde nur noch dazu bestimmt sein, die willige Erde mit leichter Mühe zu graben und der mildesten Witterung zu öffnen. Jeder bekomme überdies eine neue junge Frau und könne sich der alten, wenn er eine solche habe, bei dieser Gelegenheit entledigen, da mit jeglichem Übel aufgeräumt würde.

Ein schallendes Gelächter unterbrach Wirtzens Rede, die sich anfänglich einiger Aufmerksamkeit erfreut hatte; nur drei oder vier ältere Hähne, welche die Heimkehr ersorgen mochten, schienen der Sache reiflicher nachzudenken, bis auch sie das Unwahrscheinliche einsahen und den Propheten weiter keines Blickes würdigten. Hansli Gyr aber, voll Unwillen, daß der Fratzenmann, den er erst gestern gesehen, ihm heute schon wieder vor Augen kam und ihn an die unglückliche Wendung erinnerte, die das Wiedersehn mit Ursula genommen, rief jetzt mit lauter Stimme, man sei nicht dazu da, sich mit allerhand Eselsschwänzen abzugeben, wie sie im Lande jetzt vom Himmel zu fallen scheinen; man habe Ernsteres zu schaffen und müsse zusammenhalten.

Als er nun begrüßt und gefragt wurde, wie er denn von den Sachen denke, sagte er: »Liebe Brüder, ich bin erst seit ein paar Stunden hier und habe gleichwohl erkundet, daß die Räte und Bürger, die Zweihundert und das Volk auf der Landschaft in großer Mehrheit einiggehen und die Gewalt bei ihnen ist nach wie vor! Darum halte ich dafür, daß es uns nicht anstehe oder nützlich sei, Streit zu erregen und von der Ordnung zu weichen.«

»Das ist eine gute Rede von einem jungen Kriegsmann!« sagte jemand neben ihm mit wohlklingender Stimme, und eine Hand legte sich warm und fest auf seine Schulter. Als er sich verwundert umschaute, sah er den Meister Ulrich Zwingli, der, von einem angesehenen Zunftvorsteher und einem jungen Humanisten begleitet, aus den Staatsgeschäften kommend, hier vorsprechen wollte, um selber wahrzunehmen, wie es um die Kriegsleute stehe.

»Ist unter den Waffen«, fuhr Zwingli fort, »eine so biedere Meinung und noch ein Plätzchen für uns übrig, so möchte ich gern auch ein Glas von dem elsässischen Wein trinken, der einem Geistlichen, der die Soldaten liebhat, nicht minder wohltun muß, als diesen selbst!«

Zum Teil willig und freundlich, zum Teil nur langsam und murrend rückten die Männer zusammen; aber diese Bewegung wurde mit jedem Augenblicke kräftiger, je länger das sonnige Auge des Reformators auf der Versammlung ruhte, weshalb bald hinlänglicher Raum für die Neuangekommenen vorhanden war, freilich auf Kosten des römischen Mönches und des kalten Wirtzen; denn weil diese beiden allein sich nicht gerührt hatten, so wurden sie von zwei Seiten her zusammengedrückt und aneinandergepreßt, so daß sie sich nicht mehr bewegen konnten zwischen den starken und breiten Gesellen, und dabei alle Mühe bloß darauf verwenden mußten, ihre feindlichen Gesichter voneinander abzukehren.

Umso ungestörter konnte Zwingli, der die beiden Eingeklemmten mit heiterer Laune gar wohl bemerkte und erkannte, sich mit den Soldaten unterhalten; bald hörten sie auch mit sichtlichem Wohlgefallen auf seine Reden, deren toggenburgischer heller Dialekt anmutig abstach gegen den Vokalismus der Züricher, der bald dumpf geschlossen, bald ungefügsam breit dem Inhaber selbst zuweilen beschwerlich fällt, bis der erstarkende Redestrom alle Hindernisse besiegt und wie ein geschiebeführendes Bergwasser einherdonnert. Die bewegliche Sprache Meister Ulrichs war zudem die Blüte des frischen und unbefangenen Wesens des Gebirgskindes, das hoch unter Felsenhäuptern und Firnen geboren, mit gelenker Kraft ins Leben herniedergesprungen ist und überall den Glanz der Heimat im Auge zu tragen und die wehende Bergluft auf den Wangen zu fühlen scheint.

Es wurde auch dem Manne, der später die merkwürdige Instruktion für einen Feldhauptmann, wie er sein soll, geschrieben hat, nicht schwer, die Wehrmänner zu überzeugen, daß er kein Feind und Verächter redlicher Kriegsleute, sondern ihr Freund und guter Bruder sei. Sie folgten mit Aufmerksamkeit seinen Worten, als er die höhere Art eines Wehrvolkes schilderte, welches nicht sein Blut für Geld und fremde Händel verspritze, wohl aber mit seinen Ehrenwaffen die Unabhängigkeit des Vaterlandes, das selbstgeschaffene Recht, die gute Sitte und die Freiheit des Gewissens zu schirmen verstehe.

Es wurde zuletzt so still, daß man plötzlich die Glocke läuten hörte, welche den Schluß aller Trinkstuben und Wirtschaften gebot. Sogleich erhob sich Zwingli mit seinen Begleitern und begab sich nach seinem Hause, das ihm ungewohnte Abenteuer beendigend. Allein auch die Soldaten, denen in Anbetracht ihrer langen Kriegsfahrt sowie ihrer besonderen Stimmung niemand den Aufbruch anzubefehlen wagte, erhoben sich zum größten Teile freiwillig, und einige von ihnen geleiteten den Magister bis zu seiner unfern vom Münster gelegenen Pfarrwohnung und schüttelten ihm dort traulich die Hand, unter ihnen auch Hans Gyr, der mit großer Zufriedenheit dicht neben ihm gesessen und ihn, soviel es die Bescheidenheit erlaubte, fleißig angeschaut hatte. Zwingli wachte noch den größten Teil der Nacht hindurch, indem er an seine gelehrten Zeit- und Kampfgenossen lateinische Briefe schrieb über die Dinge, die ihn und sie bewegten.

Die Mannschaft aber ging dann am nächsten Tage friedlich auseinander und zerstreute sich über die Landschaft, jeder seinen Herd suchend; nur Hansli Gyr blieb mit einer kleinen Zahl zuverlässiger Leute, die keine andere Unterkunft wußten, in der Stadt, um für alle Fälle bei der Hand zu sein und inzwischen mannigfache vertraute Dienste zu leisten. Hansli wohnte auch am Schlusse des Monates der ersten großen Disputation bei, durch welche die Oberherrschaft des Staates und die Unabhängigkeit der Gemeinde festgestellt, die für wahr gehaltene biblische Urkunde zur alleinigen Grundlage des Glaubens erklärt wurde. Er ging auch fleißig in die Predigt des Reformators, und nach Maßgabe seines schlichten Verständnisses war er Zeuge einer wirklichen Reformationsarbeit, die noch das Glück hatte, aus dem Ganzen zu bauen. Von dem festen Grunde der Erde erhoben sich die Pfeiler und Giebel des Werkes in die Höhe der übersinnlichen Welt, bis sie wie lauterer Kristall in den kristallenen Äther tauchten, ohne die Umrisse zu verlieren, und die Baumeister standen nicht wie willkürliche Macher hinten in einer geistigen oder körperlichen Sakristei, sondern mitten im Tempel und blickten, selber leidend, hoffend und vertrauend, siegend oder untergehend, in die Höhe, die vom Dunste des Priesterheidentums, soweit das Zeitalter es erlaubte, gereinigt war. Aber die Religion blieb die alte und wurde nicht zu einer mythologischen Literatur, welche, über eine philosophische Formel gespannt, mit mehr oder weniger Kunstfertigkeit gespielt werden kann, wie ein anderes Instrument.

Daher waren die Reformatoren samt ihrem Volke naiv fromm und mit sich einig bei aller Freiheit des Geistes, und es wurde auch dem einfachen Soldaten Hansli Gyr möglich, mit Bewußtsein und wachem Auge die neuen Wege zu gehen.


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