Gottfried Keller
Züricher Novellen
Gottfried Keller

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Der Narr auf Manegg

Einige Zeit nach dem Spaziergange, den Herr Jacques mit seinem Paten gemacht, wunderte es diesen, wie es dem jungen Adepten des Originalwesens ergehe und welche Fortschritte er darin zurückgelegt habe. An einem schönen Septembertage ging er darum in das Haus der Gevattersleute, um seinen Jungpaten heimzusuchen und etwa zu einem Gang vor das Tor einzuladen. Nur mit halb säuerlicher Höflichkeit wurde er hierfür empfangen; denn man hielt ihn trotz seiner weißen Haare und seines gewaltigen Jabots für einen jener frondierenden Herren, welche, stets kühl gegen die Kirche und kritisch gegen die Staatsbehörden, sich zwar wohl hüten, irgendwo an einer praktischen Tätigkeit wirklichen Anteil zu nehmen, nichtsdestoweniger aber einer radikalen, wo nicht frivolen Gesinnung bezichtigt werden, einer Gesinnung, vor deren Einfluß besonders die Jugend zu bewahren sei.

Der alte Herr ließ sich aber nicht abschrecken, seinen Taufschützling selbst aufzusuchen, und fand denselben im obersten Stockwerk des Hauses in seinem Sommerquartier, einer großen geweihten Kammer, deren hohe Fenster noch aus unzähligen runden Scheiben zusammengesetzt waren. In diesem Gemache standen die ältesten Schränke des Hauses, nicht etwa die schönen Nußbaumschränke, welche die Vorsäle der untern Gemächer zierten, sondern uralte, baufällige Kasten von Fichtenholz, mit Blumen und Vögeln bemalt. Von der Decke hingen verschollene Zierstücke, große Glaskugeln, die inwendig mit bunten Ausschnittbildern, Damen in Reifröcken, Jägern, Hirschen und dergleichen beklebt und mit einem weißen Gipsgrunde ausgegossen waren, so daß sie bemaltem Porzellane glichen. Auch prangten an den Wänden einige Familienbildnisse, welche wegen zu schlechter Arbeit aus den Wohnräumen verbannt worden. Ihre Gesichter lächelten alle ohne andere Ursache, als weil die Maler die Mundwinkel mit angewöhntem, eisernem Schnörkel so zu formen gezwungen waren. Diese grundlose Heiterkeit der verjährten Gesellschaft machte fast einen unheimlichen Eindruck. Die guten Maler und die Vorfahren schienen nicht immer gleichzeitig geraten zu sein. Dazwischen hingen wunderliche Bilder, die mit Harzfarben unmittelbar auf die Rückseite von Glastafeln gemalt waren, und vergilbte Kupferstiche, welche Prospekte zürcherischer Staatszeremonien oder militärischen Schauspiele zum Gegenstand hatten. Seltsamerweise war hier noch ein kleines Rähmlein versteckt mit längst gesprungenem Glase und einem gestochenen Bildnisse Karls I. dahinter; mit verblichener Tinte war darauf geschrieben:

König Karl von Engelland
Ward der Krone quitt erkannt.
Daß er dürfe keiner Krone,
Machten sie ihn Köpfes ohne.

Der Schreiber dieser Zeilen war aber nicht unter den töricht lachenden Ahnen, die hier im Exil hingen, zu finden; derselbe weilte vielmehr, von einem guten Künstler gemalt, in einer ganz anderen Stadt in der Gemäldesammlung eines dortigen Liebhabers. Es war ein ernsthafter Mann in der Tracht des siebzehnten Jahrhunderts, dessen eisengraue Augenbrauen und Knebelbart wie Sturmfahnen zu flattern schienen. Nicht nur als ein eifriger Antipapist lebte er im Gedächtnis, sondern als ein Ungläubiger und Unbotmäßiger überhaupt, der zu verschiedenen Malen verwarnt und gebüßt worden sei; und da eine geheime Tradition im Hause dahin lautete, daß es besser wäre, wenn nie eine Empörung stattgefunden hätte, nie ein König enthauptet worden und auch keine Kirchentrennung entstanden wäre, so war das Bild von einem Nachkommen für unangenehm befunden und einem fremden Kenner guter Sachen verkauft worden. Noch lieber hätte man längst das kleine Bildchen mit der frechen Aufschrift entfernt. Allein es ging die abergläubische Sage, daß jedesmal, so oft dies versucht würde, der alte Empörer nächtlich umgehe und mit entsetzlichen Hammerschlägen das Rähmlein wieder an der Wand befestige; der Schreck habe einst einen Hausgenossen so angegriffen, daß er daran gestorben sei.

Mitten auf dem rötlichen Kachelboden der Kammer stand der Tisch, an welchem Herr Jacques sein Wesen trieb, wenn er in der guten Jahreszeit sich in diesen unheizbaren Raum zurückzog, in Erwartung eines eigenen Studierzimmers, das ihm nicht mehr lang entgehen konnte. Als der Pate kam, saß er eben vor einem Reißbrett, worauf ein großer Pergamentbogen gespannt war. Derselbe zeigte eine kranzartige Schilderei von Landeswappen, Fahnen, Waffen, Musikinstrumenten, Büchern, Schriftrollen, Erdglobus, Eulen der Minerva, Lorbeer- und Eichenzweigen und dergleichen, hervorgebracht von einer jugendlich unerfahrenen Hand. Besonders zwei Löwen waren von allzu unsicherer Gestaltung; sie schienen mitten im Kampf ums Dasein, wie man jetzt sagen müßte, auf einer untern Entwicklungsstufe erstarrt zu sein und lächelten dabei unweise, wie die Ahnenbilder an der Wand. Im innern Raume aber entstand soeben in großen Lettern die Aufschrift: »Zürcherischer Ehrenhort«, und Herr Jacques war beschäftigt, die vorgezeichneten Buchstaben aus einer Muschel mit Gold zu überziehen. Je dicker er aber das Gold auftrug, desto weniger wollte es glänzen.

»Dick auftragen hilft nicht immer, mein Lieber, sondern gut polieren!« sagte der Pate, der ihm einen Augenblick zuschaute. Er nahm eine kleine Achatkugel, die mit anderen Sachen an seiner Uhrkette hing, und zeigte ihm, wie durch die Handhabung derselben die Schrift bald zu schimmern begann.

»Aber was in aller Welt soll denn diese bunte Projektion vorstellen und welchem Zweck soll sie dienen?« fragte er nun den Herrn Jacques.

Und dieser vertraute ihm, wie er über den Verlust der Handschrift Manesse seit jenem Spaziergange nachgedacht und ausfindig gemacht habe, auf welche Art und Weise der Vaterstadt ein würdiger Ersatz geschafft werden könne. So sei er auf den Gedanken geraten, sein Leben daran zu setzen und einen Kodex zu stiften und auszuführen, dessengleichen anderswo nicht zu finden wäre, und dies hier sei das Titelblatt, mit dem er begonnen habe. Alles, was der Stadt und Republik Zürich seit ihrem Entstehen zu Schmuck und Ehren gereiche, wolle er in schönen Versen erzählen und mit schönen Bildern illustrieren, wobei die Entwicklung von den schwächern Anfängen bis zur Vollkommenheit des Endes von selbst den gleichen Verlauf nehmen werde, wie der Gegenstand des Werkes. So gedenke er einen Schatz und Wahrzeichen, einen Ehrenhort zu gründen, der den alten Spruch Ottos von Freising bestätige: Nobile Turegum multarum copia rerum! und wie er des schweizerischen Athens, des Athens an der Limmat allein würdig sei!

Bei dem letzteren Ausdrucke verzog der Pate, der erst gelächelt, das Gesicht, wie wenn er einen Schluck sauren Bieres erwischt hätte.

»Hast du diese schwache Redensart auch schon aufgeschnappt?« sagte er verdrießlich; »wenn ich sie nur nie mehr hören müßte! Fühlt ihr denn nicht, daß Eitelkeit, die sich auf Kosten anderer bläht, in diesem Fall also auf Kosten von Bundesgenossen, die jederzeit wohl so klug und gebildet gewesen sind, wie wir, daß eine solche Eitelkeit immer das gleiche Laster bleibt, ob sie der eigenen Person oder dem Gemeinwesen gelte, dem man angehört? Da wird allerdings eine gewisse naßkalte, frostige Bescheidenheit getrieben; jeder sieht dem andern auf die Finger, ob er sich nicht zuviel einbilde; dafür wird aber in der Gesamteinbildung geschwelgt, daß die Mäuler triefen, und kein Gleichnis ist zu stark, um die Vortrefflichkeit aller zu bestätigen! Darum sieht man auch so manche schwächliche Gesellen herumstreifen, die am Gesamtdünkel fast zugrunde gehen, eben weil die Persönlichkeit unzulänglich ist, ein so Ungeheures mitzutragen! – Doch das wirst du alles genugsam erleben und vielleicht mitmachen; jetzt wollen wir uns nicht dabei aufhalten, sondern wieder einmal miteinander ins Freie gehen, wenn es dir beliebt!«

Jakob hatte mit ängstlicher Miene zugehört, weil er die Übertreibung des alten Krittlers nicht zu bemessen wußte; diese erstmalige Erfahrung, daß auch eine höchststehende Heimatstadt, ja vielleicht ein ganzes Vaterland eine schwache, wohl gar lächerliche Seite haben könne, gleich einem einzelnen Menschenkinde, beklemmte sein Herz, und er fühlte sich durch die Einladung des Paten dankbar erlöst. Sie wurden einig, abermals die Überbleibsel der Burg Manegg zu besuchen, und machten sich alsbald auf den Weg.

Nachdem sie im Pachthofe am Fuße der Burg sich durch eine landesübliche Erfrischung gehörig gestärkt hatten, wozu die einfache und mäßige Lebensweise auch der Reichen jederzeit Lust und Fähigkeit verlieh, erstiegen sie vollends den Hügel. Unter den breiten Schirmwipfeln der schlanken Föhren machten sie es sich bequem. Der Pate setzte seine Meerschaumpfeife in Glut und gab dem Herrn Jacques eine Zigarre, um ihm das Rauchen beizubringen. Er war nämlich einst ein Bewerber um die Hand von dessen Mutter gewesen und führte, nachdem die Sache sich zerschlagen, seither stets einen kleinen Bosheitskrieg gegen sie. An der Erziehung und Förderung ihres Söhnchens alle Teilnahme beweisend, konnte er doch niemals lassen, der gestrengen Mama kleine Ärgernisse zu bereiten nach dem Sprichworte: Alte Liebe rostet nicht! und so gewährte es ihm heute ein besonderes Vergnügen, den Herrn Jacques als einen angehenden Raucher nach Hause zu bringen. Allein er kam bereits zu spät. Jakob konnte schon rauchen, weil er diese Kunst gleich nach dem Bombenschießen, wo er die Pfeifen hielt, gelernt hatte. Sie spazierten also auf dem Burgraume schmauchend auf und nieder, wie in einer Studierstube, und Jakobus ging würdevoll an der Seite des Alten einher. Er frug den Herrn Paten nach dem weiteren Schicksale des Geschlechtes der Manessen und der Burg Manegg.

»Ihre verschiedenen Zweige«, erzählte jener, »haben in geistlichen und weltlichen Würden und auch in dunkleren Trieben noch über hundert Jahre geblüht. Jedoch ist nur ein an Tugend Ebenbürtiger des Liederfreundes aufgetreten, nämlich dessen Urenkel Rüdiger, der gegen fünfzig Jahre lang Ratsmann und Staatshaupt in Zürich gewesen ist. Auch dieser war in Tat und Leben mustergültig, fest und gelassen, ohne sich jedoch als ein Originalmensch zu gebärden. Aus Schule und Zunftleben ist dir bekannt, wie in den Dreißigerjahren des vierzehnten Säkulums auch in Zürich der Patrizierstaat der Autochthonen sich in den freien Bürgerstaat, nach damaligen Bedingungen, umgewandelt hat, und wie dieser einige Jahre später dem jungen Bunde der Eidgenossen beigetreten ist, um sich gegen die feindlichen Herrenmächte zu schützen. In diesen Übergängen stand das Geschlecht der Manessen, das doch seit einem Jahrhundert mitgeherrscht hatte, bürger- und freiheitsfreundlich auf Seite der Stadt und der neuen Zeit.

»Am echtesten erwies sich dies gute Blut in jenem jüngeren Rüdiger, der hierdurch in der Stunde der Gefahr eine wirkliche und klassische Originalität erreichte.

»Auch das Ereignis von Dätwil zu Weihnachten 1351 ist dir geläufig. Der erste Bürgermeister der neuen Ordnung, Rudolf Brun, ist mit der zürcherischen Kriegerschar, ohne weitere Hilfe, ausgegangen, die habsburg-österreichische Macht aufzusuchen, welche die Stadt wiederholt bedroht. Er trifft sie nicht an erwarteter Stelle, sieht sich aber, zur Seite ziehend, erst gegen Abend plötzlich in einem Talkessel von ihrer Überzahl, die alle Höhen besetzt, umringt. Da verläßt den Haupturheber der neuen Zustände, den klugen, listigen und energischen Führer des Volkes, der alle Ehre und Macht in dessen Namen an sich gezogen hat und ausübt, der das große Wort führt, jählings jeder Mut, und er flieht sofort vom Schlachtfelde, sich zu bergen. Schon einmal hat er in entscheidender Stunde, als die Gefahr unmittelbar an ihn trat, das Lebensopfer eines Getreuen durch Verwechslung des Mantels angenommen, als die Verschwörung der Vertriebenen die nächtliche Stadt durchtobte. Das war als glückhaft und nützlich angesehen worden. Jetzt zeigt er aber wiederholt, daß er, der fremdes Blut zu vergießen wohl versteht, sein eigenes hinzugeben nie gewillt ist. Der sinkende Tag findet das kleine Heer ratlos und vom Untergang bedroht; allein jetzt tritt Manesse, Bruns Statthalter, ruhig hervor, als ob nichts geschehen wäre. Die Flucht des Führers stellt er als selbstverständlich und notwendig, als eine Maßregel der Vorsorge dar und faßt sodann laut und volltönig, mit begeistertem Zuruf, die Bürger zum Notkampfe zusammen. Fest und unerschüttert steht er im Geschrei und Getöse der beginnenden Schlacht, die tief in Nacht und Dunkelheit hinein dauert, und zieht im Scheine der Morgenröte, die Leichname der gefallenen Brüder mit sich führend, mit Fahnen und Beute als Sieger heimwärts. Als nun die Volksgunst dem flüchtigen Staatshaupte sich schnell wieder zuwendet und dasselbe feierlich mit dem Stadtbanner aus seinem Schlupfwinkel als vorsorglicher Vater heimgeholt wird, reitet Manesse, ohne ein Gesicht zu verziehen, neben dem Stolzen einher und amtet still und verschwiegen unter ihm weiter; denn er hat erwogen, daß es gut ist, wenn ein Gründer der Freiheit bei Ehren bleibt, wenigstens solang er sonst tauglich ist.

»Dieser Manesse starb hochbetagt, wenn ich nicht irre, um das Jahr 1380; mit ihm sank aber der Stern jener Linie; seine Söhne lebten sternlos dahin, wie alles ein Ende nimmt, und namentlich Ital, der jüngste, ist es, der die Burg hier verloren hat.

»Gleich seinen Vorfahren war Ital Manesse ein anmutender und begabter Mann; allein es mangelten ihm Geduld und Vertrauen; es war, als ob er den Niedergang und das Aussterben des Geschlechtes hätte ahnen und befördern müssen. Bei keiner Verrichtung und Tätigkeit konnte er ausharren, von jedem Geschäft trieb ihn die Unruhe, abzuspringen, und er schlüpfte allen, die ihm wohlwollten, ängstlich aus den Händen, wenn sie ihn festzuhalten glaubten. So gingen seine Umstände stets rückwärts. Ein Besitztum, Hof- und Landgut nach dem andern mußte er dahingeben und geriet immer tiefer in Schulden, und weil er dabei ruhelos lebte, so nannte man ihn allgemein den ›Ritter Ital, der nie zu Haus ist‹.

»Als im Jahre 1392 in Schaffhausen ein großes Turnier abgehalten wurde, bei welchem sich Hunderte von Fürsten, Grafen und Edelleuten einfanden, nahm auch Ital teil daran, da es eine gute Gelegenheit bot, sein unruhiges Herz vom Hause wegzutragen. Seines alten Stammes und rühmlichen Namens wegen geriet er in gute Gesellschaft und gewann die Neigung einer reichen thurgauischen Erbin, deren Hand ihn wohl von aller Sorge befreien konnte. Seiner übeln Umstände bewußt, verhielt er sich schüchtern und zurückhaltend gegen die freundliche Schönheit der ganz unabhängigen Freiin, die ihm dafür, damit er Zeit und Besinnung gewänne, in dem Festgeräusche mit holder Geistesgegenwart kundzutun wußte, daß sie ehestens eine Base heimsuchen würde, die in der Abtei zu Zürich lebe. Von Hoffnung und Freude, aber auch von neuer Unruhe erfüllt, ritt er mit seinem Knechte vom Turniere hinweg und durchstreifte wochenlang die Landschaften von Ort zu Ort, um bei Freunden die Zeit in Zerstreuungen zu verbringen. Als er endlich heimkehrte und der Erscheinung der Schönen gewärtig war, sah und vernahm er nichts von ihr, als daß sie sieben Tage in Zürich zugebracht habe, dann aber wieder abgereist sei.


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