Gottfried Keller
Züricher Novellen
Gottfried Keller

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Mit dem ersten Morgengrauen des 31. Mai stieg Landolt auf die oberste Warte des Schloßturmes und schaute nach dem Wetter aus. Der Himmel war ringsum wolkenlos, die Sterne verglühten, im Osten begann es rosig zu werden. Da steckte er die große Herrschaftsfahne mit dem springenden Greifen auf den Wimperg der Burg, und hinter die Ringmauer stellte er zwei kleine Kanonen, um mit ihrem Donner die ankommenden Schönen zu begrüßen. Um sicher zu sein, hatte er dafür gesorgt, daß jede mit besonderem Fuhrwerk abgeholt und herbeikutschiert wurde. Die gesamte Dienerschaft mußte sich in den Sonntagsstaat hüllen; das Zierlichste aber war sein Affe Cocco, welcher, für diesen Tag besonders abgerichtet, als eisgraues Mütterchen gekleidet, auf einem mächtigen Haubenbande die Inschrift trug: Ich bin die Zeit!

Im Innern des Hauses stand die Frau Marianne als Haushofmeisterin bereit in einer verjährten, reichen Tracht mit katholisch-tirolischem Pomp; ihr war zur Seite ein schöner vierzehnjähriger Knabe, welchen der Landvogt eigens ausgesucht und in das Gewand einer reizenden Zofe gekleidet hatte, die zur Bedienung der Damen bestimmt wäre.

Gegen neun Uhr erdröhnte der erste Kanonenschuß; man sah zwischen den Bäumen und Hecken gemächlich eine Kutsche daherfahren, in welcher Figura Leu saß. Als der Wagen vor dem Schloßtore hielt, sprang der Affe mit einem großen, duftigen Strauße von Rosen hinauf und drückte ihr denselben mit possierlichen Gebärden in die Hände. Den Rebus augenblicklich verstehend, nahm sie den Cocco samt den Rosen auf den Arm und rief im Aussteigen erfreut und voll Heiterkeit, indem der Landvogt, den Degen an der Seite und den Hut in der Hand, ihr grüßend den Arm bot: »Was gibt es denn alles bei Ihnen, was bedeutet die Fahne auf dem Dache, die Kanone, und die Zeit, die Rosen bringt?«

Da sie ganz schuldlos und ihm die liebste war, so weihte er sie in das Geheimnis ein, und anvertraute ihr, daß heut alle fünf Bewußten hier zusammentreffen würden. Sie errötete zuerst. Als sie aber ein wenig nachgedacht, lächelte sie nicht unfein. »Sie sind ein Schelm und ein Possenreißer!« sagte sie; »nehmen Sie sich in acht, wir werden Sie ans Kreuz schlagen und Ihren Affen braten, samt seinen Rosen, singe aux roses! nicht wahr, Cocco, kleiner Landvogt?«

Kaum hatte er sie in die Wohnung hinaufgeführt, wo sie von Frau Marianne und dem Zofenknaben sogleich bedient wurde, so donnerte das Geschütz von neuem, und es fuhren zwei Wagen gleichzeitig vor. Es waren Wendelgard und Salome, der Kapitän und der Distelfink, welche ankamen und sich schon auf dem Wege gegenseitig gewundert hatten, wer in der andern stets in Sicht fahrenden Kutsche sein möge. Diese zwei Damen wußten voneinander und ihren einstmaligen Beziehungen zum Landvogt; sie betrachteten sich schnell mit neugierigen Blicken, wurden aber bald abgezogen durch Cocco, der mit neuen Rosen gehüpft kam, und Landolt, der sie, an jedem Arm eine, ins Haus führte.

Dort hatte inzwischen Frau Marianne ihr erstes Examen mit Figura eben beendigt: da sie dieselbe unschuldig wußte, so verhielt sie sich gnädig und menschlich gegen sie; desto feuriger funkelten aber ihre Augen, als Salome und Wendelgard eintraten. Die Flügel ihrer Hakennase und die Oberlippe, auf welcher ein schwärzlicher Schnurrbart lag, zitterten leidenschaftlich den zwei schönen Frauen entgegen, die einst vom Landvogt abgefallen waren, und es bedurfte eines strengen Blickes des Herrn, um die treue Haushälterin im Zaume zu halten und sie zu einem leidlich höflichen Benehmen zu zwingen.

Auch die Aglaja, die nun anlangte und auf gleiche Weise empfangen wurde, wie ihre Vorgängerinnen, mußte eine sehr kritische Besichtigung aushalten, da noch nicht entschieden war, ob die Tat, die sie an Landolten getan, um einen Helfer in der Not zu gewinnen, verzeihlich oder unverzeihlich sei. Die Alte ließ sie jedoch mit einem heimlichen Murren passieren, in Betracht, daß Aglaja immerhin einer echten Liebe fähig gewesen und nach der ersten Neigung geheiratet habe.

Kaum eines Blickes aber würdigte sie die Grasmücke, deren Ankunft die letzten Kanonenschüsse verkündigten, Was sollte sie mit einer Fliege, die gewagt hatte, mit dem Herrn Landvogt anzubinden, und sich dann doch vor ihm scheute?

Der Landvogt merkte gleich, daß die zarte Grasmücke, die so schon fast zitterte und nicht wußte, wie sich wenden unter den Prachtgestalten, verloren war vor der alten Husarin, und befahl sie mit wenigen heimlichen Worten in den besonderen Schutz der Figura, die sich sofort ihrer annahm. Im übrigen geschah jetzt ein großes Vorstellen und Begrüßen; die Figura Leu ausgenommen, sahen sich die hübschen Frauen gegenseitig und übers Kreuz an und wußten nicht, woran sie waren; denn natürlich kannten sie sich alle vom Sehen und Hörensagen schon, abgesehen von der Schwägerschaft zwischen Wendelgard und Figura. Doch verbreitete letztere so gut wie des Landvogts glückliche Stimmung sogleich einen heiteren, vergnügten Ton; auch wurde keiner müßigen Spannung Raum gelassen, vielmehr ein leichtes Frühstück herumgeboten, in Tee und süßem Wein mit Gebäck bestehend. Frau Marianne besorgte das Einschenken, der Knabe trug die Tassen und Gläschen herum, und die Damen betrachteten alles neugierig, besonders die vermeintliche junge Zofe, die ihnen etwas verdächtig erschien. Dann beguckten sie herumgehend die Wände rings, die Einrichtung des Zimmers und wiederum eine die andere, während Landolt eine nach der anderen höflich vertraut ansprach und mit zufriedenem Auge prüfte und verglich, bis sie endlich über ihre Lage klar wurden und merkten, daß sie in einen Hinterhalt geraten waren. Sie fingen wechselweise an zu erröten und zu lächeln, endlich zu lachen, ohne daß jedoch der Grund und das offene Geheimnis ausgesprochen wurde; denn der Landvogt dämpfte unversehens die Fröhlichkeit mit der feierlich ernsten Entschuldigung, daß er jetzo eine kurze Stunde seinem Amte leben und als Richter einige Fälle abwandeln müsse. Da es alles leichtere Sachen und kleine Ehestreitigkeiten seien, meinte er, würde es die Damen vielleicht unterhalten, den Verhandlungen beizuwohnen. Sie nahmen die Einladung dankbar an, und er führte sie demgemäß in die große Amtsstube, wo sie auf Stühlen zu beiden Seiten seines Richterstuhles Platz nahmen, gleich Geschworenen, während der Schreiber an seinem Tischchen vor ihnen in der Mitte saß.

Der Amtsdiener oder Weibel führte nunmehr ein ländliches Ehepaar herein, welches in großem Unfrieden lebte, ohne daß der Landvogt bis jetzt hatte ermitteln können, auf welcher Seite die Schuld lag, weil sie sich gegenseitig mit Klagen und Anschuldigungen überhäuften und keines verlegen war, auf die grobe Münze des anderen Kleingeld genug herauszugeben. Neulich hatte die Frau dem Manne ein Becken voll heißer Mehlsuppe an den Kopf geworfen, so daß er jetzt mit verbrühtem Schädel dastand und bereits ganze Büschel seines Haares herunterfielen, was er mit höchster Unruhe alle Augenblicke prüfte, und es doch gleich wieder bereute, wenn ihm jedesmal ein neuer Wisch in der Hand blieb. Die Frau aber leugnete die Tat rundweg und behauptete, der Mann habe in seiner tollen Wut die Suppenschüssel für seine Pelzmütze angesehen und sich auf den Kopf stülpen wollen. Der Landvogt, um auf seine Weise einen Ausweg zu finden, ließ die Frau abtreten und sagte hierauf zum Manne: »Ich sehe wohl, daß du der leidende Teil und ein armer Hiob bist, Hans Jakob, und daß das Unrecht und die Teufelei auf seiten deiner Frau sind. Ich werde sie daher am nächsten Sonntag in das Drillhäuschen am Markte setzen lassen, und du selber sollst sie vor der ganzen Gemeinde herumdrehen, bis dein Herz genug hat und sie gezähmt ist!« Allein der Bauer erschrak über diesen Spruch und bat den Landvogt angelegentlich, davon abzustehen. Denn wenn seine Frau, sagte er, auch ein böses Weib sei, so sei sie immerhin seine Frau, und es gezieme ihm nicht, sie in solcher Art der öffentlichen Schande preiszugeben. Er möchte bitten, es etwa bei einem kräftigen Verweise bewenden lassen zu wollen. Hierauf ließ der Landvogt den Mann hinausgehen und die Frau wieder eintreten. »Euer Mann ist«, sagte er zu ihr, »allem Anscheine nach ein Taugenichts und hat sich selbst den Kopf verbrüht, um Euch ins Unglück zu stürzen. Seine ausgesuchte Bosheit verdient die gehörige Strafe, die Ihr selbst vollziehen sollt! Wir wollen den Kerl am Sonntag in das Drillhäuschen setzen, und Ihr möget ihn alsdann vor allem Volk so lange drillen, als Euer Herz verlangt! » Die Frau hüpfte, als sie das hörte, vor Freuden in die Höhe, dankte dem Herrn Landvogt für den guten Spruch und schwur, daß sie die Drille so gut drehen und nicht müde werden wolle, bis ihm die Seele im Leibe weh tue!

»Nun sehen wir, wo der Teufel sitzt!« sagte der Landvogt in strengem Ton und verurteilte das böse Weib, drei Tage bei Wasser und Brot im Turm eingesperrt zu werden. Zornig blickte der Drache um sich, und als sie links und rechts die Frauen mit den Rosen sitzen sah, die sie furchtsam betrachteten, streckte sie nach beiden Seiten die Zunge heraus, ehe sie abgeführt wurde.

Jetzt erschien ein ganz abgehärmtes Ehepaar, das den Frieden nicht finden konnte, ohne zu wissen, warum. Die Quelle des Unglücks lag aber darin, daß Mann und Frau vom ersten Tage an nie miteinander ordentlich gesprochen und sich das Wort gegönnt hatten, und dieses kam wiederum daher, daß es beiden gleichmäßig an jeder äußeren Anmut fehlte, die einem Verweilen auf irgendeinem Versöhnungspunkte gerufen hätte. Der Mann, der ein Schneider war, besaß ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl, wie er meinte, und grübelte während des Nähens unaufhörlich über dasselbe nach, während andere Schneider etwa ein Liedchen singen oder einen schnöden Spaß ausdenken; die Frau besorgte ausschließlich das kleine Ackergütchen und nahm sich bei der Arbeit vor, beim nächsten Auftritt nicht nachzugeben, und da sie beide fleißige Leute waren, so fanden sie fast nur während des Essens die zum Zanken nötige Zeit. Aber auch diese konnten sie nicht gehörig ausnutzen, weil sie gleich im Beginn des Wortwechsels nebeneinander vorbeischossen mit ihren gespitzten Pfeilen und in unbekannte Sumpfgegenden gerieten, wo kein regelrechtes Gefecht mehr möglich war und das Wort in stummer Wut erstickte. Bei dieser Lebensweise schlug ihnen die Nahrung nicht gut an, und sie sahen aus wie Teuerung und Elend, obgleich sie, wie gesagt, nur an Liebenswürdigkeit ganz arm waren, freilich das ärmste Proletariat. Gestern war der Zorn des Mannes auf das Äußerste gestiegen, so daß er aufsprang und vom Tische weglief. Weil aber das durchlöcherte Tischtuch an einem seiner Westenknöpfe hängen blieb, zog er dasselbe samt der Hafersuppe, der Krautschüssel und den Tellern mit und warf alles auf den Boden. Die Frau nahm das für eine absichtliche Gewalttat, und der Schneider ließ sie, plötzlich von Klugheit erleuchtet, bei diesem Glauben, um sein Ansehen zu stärken und seine Kraft zu zeigen. Die Frau aber wollte dergleichen nicht erdulden und verklagte ihn beim Landvogt.

Als dieser sie nun nacheinander abhörte und ihr trostloses Zänkeln, das gar keinen Kompaß noch Steuerruder hatte, wahrnahm, erkannte er die Natur ihres Handels und verurteilte das Paar zu vier Wochen Gefängnis und zum Gebrauch des Ehelöffels. Auf seinen Wink nahm der Weibel dieses Gerät von der Wand, wo es an einem eisernen Kettlein hing. Es war ein ganz sauber aus Lindenholz geschnitzter Doppellöffel mit zwei Kellen am selben Stiele, doch so beschaffen, daß die eine aufwärts, die andere abwärts gekehrt war.

»Seht,« sagte der Landvogt, »dieser Löffel ist aus einem Lindenbaume gemacht, dem Baume der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit. Denket beim Essen, wenn ihr einander den Löffel reicht (denn einen zweiten bekommt ihr nicht), an eine grüne Linde, die in Blüte steht und auf der die Vögel singen, über welche des Himmels Wolken ziehen und in deren Schatten die Liebenden sitzen, die Richter tagen und der Friede geschlossen wird!«

Das Männlein mußte den Löffel tragen, die Frau folgte ihm mit der Schürze an den Augen, und so wandelte das bleiche, magere Pärchen trübselig an den Ort seiner Bestimmung, von wo es nach vier Wochen versöhnt und einig und sogar mit einem zarten Anflug von Wangenrot wieder hervorging.

Nach diesem wurde, und zwar aus dem Gefängnis, eine verdrießliche, dicke Frau vorgeführt, die mürrisch um sich blickte und sich nicht wohl befand. Es war die Gattin eines Untervogts, welche ihren Mann beredet hatte, den Landvogt mit einem Kalbsviertel zu bestechen, daß er ihnen günstig gesinnt würde und durch die Finger sehe. Herr Landolt hatte die Frau, die das Fleisch selbst hertrug und scherwenzelnd überreichte, so lange in den Turm gesetzt, bis das Viertelskalb von ihr aufgegessen war, das sorgfältig für sie gekocht wurde. Sie hatte sich begreiflicherweise damit beeilt, so sehr sie konnte, und vermochte nun ein gewisses Mißbehagen nicht zu verbergen. Der Landvogt eröffnete ihr, daß die Verzehrung des Kalbsviertels als Strafe für einen Bestechungsversuch anzusehen sei, daß aber für die Verleitung des eigenen Ehemannes zum Bösen eine Geldstrafe von fünfundzwanzig Gulden und für die nachgiebige Schwäche des Mannes eine Buße von wiederum fünfundzwanzig Gulden auferlegt werde, was der Schreiber vormerken möge. Die dicke Frau machte eine ungeschickte Verbeugung und watschelte, mit beiden Händen den Bauch haltend, von dannen.

Zwei Schwestern von schöner Leibesbeschaffenheit waren angeschuldigt, den stillen und harmlosen Ehemännern nachzustellen und Zwietracht und Unglück in den Haushaltungen zu stiften, und überdies ihre eigene alte Mutter auf dem Krankenlager hilflos hungern und dahinsiechen zu lassen. Vor das Gericht des Landvogts gerufen, erschienen sie in verlockend üppigem Gewande, die Haare in verwegener Weise geputzt und mit Blumen geschmückt; und mit süßem Lächeln, feurige Blicke auf den Landvogt werfend, traten sie auf. Ihre freche Absicht erkennend, brachte er das Verhör sofort zu Ende und befahl, sie hinauszuführen, ihnen die schönen Haare am Kopfe wegzuschneiden, die Dirnen mit Ruten zu streichen und sie so lange an das Spinnrad zu setzen, bis sie einiges für den Unterhalt der Mutter verdient hätten.


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