Gottfried Keller
Züricher Novellen
Gottfried Keller

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitän

Salomon lebte sieben volle Jahre dahin, ohne sich weiter um die Frauenzimmer zu kümmern, und nur der Hanswurstel, wie er Figura Leu nannte, wohnte noch in seinem Herzen. Endlich aber gab es doch wieder eine Geschichte.

Aus holländischen Kriegsdiensten zurückgekehrt, hauste damals in Zürich ein gewisser Kapitän Gimmel, der von seiner verstorbenen Frau, die eine Holländerin gewesen, eine Tochter mit sich führte und von einem kleinen Vermögen, sowie von einer Pension in der Art lebte, daß er fast alles für sich allein brauchte.

Dieser Mann war ein arger Trunkenbold und Raufer, der sich besonders auf seine Fechtkunst etwas einbildete und, obgleich keineswegs mehr jung, doch immer mit den jungen Leuten verkehrte, lärmte und Skandal machte. Als Landolt einst in seine Nähe geriet und ihm die Prahlereien des Kapitäns zuwider wurden, nahm er dessen Herausforderung auf und begab sich mit der Gesellschaft in das Haus Gimmels, wo ein förmlicher Fechtsaal gehalten wurde. Dort gedachte Landolt dem alten Raufer trotz seines Lederpanzers ein paar tüchtige Rippenstöße beizubringen; denn er war selbst ein guter Fechter und hatte sich schon als kleiner Junge im Schlosse zu Wülflingen und später auf der Metzer Kriegsschule, sowie in Paris fleißig geübt.

Der Saal erdröhnte denn auch bald von den Tritten und Sprüngen der Fechtenden und von dem Schalle der Waffen, und Landolt setzte dem Kapitän allmählich so heftig zu, daß er zu schnauben begann; aber jener ließ plötzlich seinen Degen sinken und starrte wie verzaubert nach der aufgehenden Tür, durch welche die Tochter des Kapitäns, die schöne Wendelgard, mit einem Präsentierteller voll Likörgläschen hereintrat.

Das war nun freilich eine herrliche Erscheinung zu nennen. Über Vermögen reich gekleidet, wie es schien, die hohe Gestalt von Seide rauschend, trat doch alle Pracht zurück vor der seltenen Schönheit der Person. Gesicht, Hals, Hände, Arme, alles von genau derselben weißen Hautfarbe, wie wenn ein parischer Marmor bekleidet worden wäre; dazu ein rötlich schimmerndes, üppiges Haar, von dessen Seide jeder einzelne Faden hundertfach gewellt war; große, dunkelblaue Augen, sowie der Mund schienen wie von einem fragenden Ernste, ja fast von leiser Sorge zu reden, wenn auch nicht gerade von geistigen Dingen herrührend.

Als diese glänzende Person sich umsah, wo sie das Gläserbrett abstellen könne, wies der Kapitän, über die willkommene Unterbrechung erfreut, das Fenstergesimse dazu an. Die jungen Männer aber begrüßten sie mit derjenigen Höflichkeit, welche man einer solchen Schönheit unter allen Umständen schuldig ist. Sie entfernte sich, indem sie sich verneigte, mit einem anmutsvollen Lächeln, welches den Ernst ihrer Züge durchbrach; dabei warf sie rasch einen schüchternen Blick auf den erstaunten Salomon, welchen sie zum erstenmal im Hause sah. Der Papa jedoch holte verschiedene holländische feine Schnäpse herbei und wußte mit dem Anbieten derselben über die Fortsetzung des Waffenganges hinwegzugleiten.

Landolt dachte auch nicht mehr daran, dem Kapitän Gimmel weh zu tun; denn er war in seinen Augen mit einem Schlag in einen Zauberer verwandelt, der goldene Schätze besaß und Glück oder Unglück aus den Händen schütten konnte. Er machte ohne Besinnen eine Wasserfahrt mit, die Gimmel nach einem guten Weinorte vorschlug, und so ungewohnt ihm das unharmonische Gebaren des ältlichen Renommisten erschien, war er jetzt gegen ihn die Duldung und Nachsicht selber.

Wessen das Herz voll ist, davon läuft der Mund über, und zu einer Neuigkeit kommt die andere. Um von der schönen Wendelgard etwas sprechen zu hören, brachte er von der Zeit an ihren Namen mit behender List, aber so beiläufig und trocken als möglich, überall aufs Tapet, und zu gleicher Zeit machte sie, die sonst noch so wenig bekannt gewesen, selbst von sich reden durch den Leichtsinn, mit welchem sie eine ziemliche Menge Schulden kontrahiert haben sollte, so daß der unerhörte Fall eintrat, daß ein junges Mädchen, eine Bürgerstochter, am Rande eines schimpflichen Bankerottes schwebte; denn der Vater, hieß es, verweigere jegliche Bezahlung der ohne sein Wissen gemachten Schulden und bedrohe die mahnenden Gläubiger mit Gewalttaten, die Tochter aber mit Verstoßung.

Die Sache schien sich so zu verhalten, daß letztere, um für die Bedürfnisse des Haushaltes zu sorgen, und vom Vater ohne die nötigen Mittel gelassen, zum Borgen ihre Zuflucht genommen und dann für sich selbst diesen tröstlichen Ausweg zu oft und immer öfter eingeschlagen hatte. Ihre Unerfahrenheit, mütterliche Verwaistheit und eine gewisse Naivität, wie sie solchen Ausnahmegestalten zuweilen eigen ist, waren hierbei nicht ohne Einfluß gewesen, abgesehen davon, daß sie den prahlerischen Vater für sehr wohlhabend hielt.

Wie dem auch sei – so war sie jetzt in aller Mund; die Frauen schlugen die Hände zusammen und erklärten das jüngste Gericht nahe, wenn solche Phänomene sich zeigen; die Männer ließen es beim Untergang des Staates bewenden; die jungen Mädchen steckten heimlich die Köpfe zusammen und ergingen sich in den unheimlichsten Vorstellungen von der Unglücklichen; die jungen Herren gerieten auf ungeordnete und schlechte Späße, hielten sich aber mit erschreckter Vorsicht fern vom Hause des Kapitäns, ja von der Gasse, wo es lag; die angeführten Kaufleute und Krämer liefen hin und her zu den Gerichten, ihre Klagen zu betreiben.

Nur Salomon Landolt gedachte mit verdoppelter Leidenschaft der in ihren Schulden trauernden Schönheit. Ein heißes Mitleid beseelte und erfüllte ihn mit unüberwindlicher Sehnsucht, wie wenn die Sünderin statt im Fegefeuer ihrer Not in einem blühenden Rosengarten säße, der mit goldenem Gitter verschlossen wäre. Er vermochte dem Drange, sie zu sehen und ihr zu helfen, nicht länger zu widerstehen, und als er eines Abends den Kapitän in einem Wirtshause fest vor Anker sah, ging er rasch entschlossen hin und zog am Hause der Wendelgard kräftig die Glocke an. Der Magd, welche aus dem Fenster guckte und nach seinem Begehr fragte, erwiderte er barsch, es sei jemand vom Stadtgerichte da, der mit dem Fräulein zu sprechen habe, und er wählte diese Einführung, um damit jedes unnütze Gerede und anderweitiges Aufsehen abzuschneiden. Freilich erschreckte er die Ärmste nicht wenig damit; denn sie trat ihm ganz blaß entgegen und errötete dann ebenso stark, als sie ihn erkannte.

In größter Verlegenheit und mit einer zitternden Stimme, der man Furcht und Schrecken wohl anmerkte, bat sie ihn, Platz zu nehmen; denn sie war so unberaten und verlassen, daß sie keine Einsicht in den Gang der Geschäfte besaß und vermutete, sie würde jetzt in ein Gefängnis abgeführt werden.

Kaum hatte Landolt aber Platz genommen, so wechselten die Rollen, und er war es nun, der für seine Eröffnungen nur schwer das Wort fand, da ihn das schöne Unglück vornehmer und hochstehender dünkte als ein König von Frankreich, der immerhin die Eidgenossen grands amis nennen mußte, wenn er ihnen das Blut abkaufte. Endlich tat er ihr mit der Haltung eines Schutzsuchenden kund, was ihn hergeführt; das wachsende Wohlgefallen, das er an ihrem Anschauen fand, stärkte seine Lebensgeister dann so weit, daß er ihr ruhig auseinandersetzen konnte, wie er als Beisitzender des Gerichts von ihrer verdrießlichen Angelegenheit Kenntnis genommen habe und nun gekommen sei, die Dinge mit ihr zu beraten und ausfindig zu machen, auf welche Weise der Handel geschlichtet werden könne. So möge sie ihm denn vertrauensvoll den Umfang und die Natur ihrer eingegangenen Verpflichtungen mitteilen.

Mit einem großen Seufzer der Erleichterung und nachdem sie, wie jenes erste Mal, einen forschenden Blick auf ihn geworfen, eilte Wendelgard eine Schachtel herbeizuholen, in welcher sie alle Rechnungen, Mahnbriefe und Gerichtsakte, die bisher eingelaufen, zusammengesperrt hatte, ohne sie je wieder anzusehen. Mit einem zweiten Seufzer, indem sie schamrot die Augen niederschlug, schüttete sie den ganzen Kram auf den Tisch, lehnte sich auf ihrem Sessel zurück und bedeckte das Gesicht mit der umgekehrten leeren Schachtel, hinter welcher sie sachte zu schluchzen begann, das Haupt abwendend.

Gerührt und beglückt, daß er so tröstlich einschreiten könne, nahm Salomon ihr die Schachtel weg, faßte sanft ihre Hände und bat sie, guten Mutes zu sein. Dann machte er sich mit den Papieren zu schaffen, und wo er einer Auskunft bedurfte, fragte er mit so guter und vertrauenerweckender Laune, daß die Antwort ihr leicht wurde. Er zog nun das Skizzenbüchlein hervor, das er immer bei sich führte und das mit flüchtigen Studien von Pferden, Hunden, Bäumen und Wolkengebilden angefüllt war. Dazwischen hinein verzeichnete er auf ein weißes Blatt den Schuldenstand der guten Wendelgard. Es handelte sich meistens um schöne Kleider und Putzsachen, sowie um zierliche Möbelstücke; auch einige Näschereien waren darunter, obgleich in bescheidenem Maße, und im ganzen erreichte die Summe bei weitem nicht die ungeheuerliche Größe, die im Publikum spukte. Doch betrug alles in allem immerhin gegen tausend Gulden Züricher Währung und war von der Schuldnerin in keiner Weise zu beschaffen.

Landolt aber war so betört, daß ihm das Schuldenverzeichnis des schönen Wesens, als er das Büchlein sorgfältig in seiner Brusttasche verwahrte, ein so süßer, köstlicher und anmutiger Besitz schien, wie kaum das Vermögensinventarium einer reichen Braut; er liebte alles, was auf dem Register stand, die Roben, die Spitzen, die Hüte, die Federn, die Fächer und die Handschuhe, und selbst die Näschereien erweckten nur seine Gelüste, das reizende große Kind mit dergleichen selbst einmal füttern zu dürfen.

Als er sich verabschiedete und bald wieder von sich hören zu lassen versprach, schaute sie ihn mit zweifelnden Blicken an, da ihr nicht deutlich war, wie es werden sollte. Doch war sie heiter geworden und leuchtete ihm selbst mit traulich dankbarem Wesen bis unter die Haustüre, wo sie mit einem freundlich gelispelten »Gute Nacht!« vollständig die Oberhand gewann über den Stadtrichter. Sie stieg langsam und gedankenvoll, letzteres vielleicht zum erstenmal, die Treppen wieder hinauf und schlief jedenfalls zum erstenmal seit geraumer Zeit süß und ruhig ein, so daß sie den polternden Kapitän nicht nach Hause kommen hörte.

Desto weniger schlief Landolt in dieser Nacht und überlegte den Handel, bis die Hähne krähten in den vielen Hühnerhöfen der Stadt.

Da Salomon Landolt noch bei seinen Eltern lebte und von ihnen abhing, konnte er höchstens einen Teil der Summe aufbringen, deren es zur Erlösung Wendelgards bedurfte, weil seine Einmischung verborgen bleiben mußte, wenn er sich die spätere Verbindung mit dem Leichtsinnsphänomen nicht von vornherein noch mehr erschweren wollte. Dagegen besaß er eine reiche Großmutter, deren Liebling er war und die ihm in allerhand Geldnöten beizustehen pflegte und ein Vergnügen daran fand, es ganz im geheimen zu tun. Sie hatte dabei die Eigenheit, daß sie heftig gegen jede Verheiratung des Enkels protestierte, so oft etwa von einer solchen die Rede war, indem er, den sie am besten kenne, dadurch nur unglücklich werden und verkümmern würde; denn auch die Weiber, behauptete sie, kenne sie genugsam und wisse wohl, was an ihnen sei. Sie begleitete daher jedesmal ihre Handreichungen und geheimen Vorschüsse mit der vertraulichen Ermahnung, nur ja nicht ans Heiraten zu denken; und wenn er in einer Verlegenheit sich an sie wendete, brauchte er nur eine derartige Anspielung zu machen, um des schnellsten Erfolges sicher zu sein.

Auch jetzt nahm er seine Zuflucht zu der wunderlichen Großmutter und vertraute ihr mit einem verstellten Seufzer, daß er nun doch endlich darauf werde denken müssen, durch eine gute Partie, welche sich zeige, aus der Not und überhaupt in eine unabhängige Stellung zu kommen. Erschreckt nahm sie die Brille ab, durch die sie eben in ihrem Zinsbuche gelesen hatte, und betrachtete den unheilvollen Enkel wie einen Verlorenen, der sein eigenes Haus in Brand zu stecken im Begriffe steht. »Weißt du, daß ich dich enterbe, wenn du heiratest?« rief sie, selbst entsetzt über diesen Gedanken; »das fehlte mir, daß so ein scharrendes Huhn einst über meine Kisten und Kasten kommt! Und du? Wie willst du denn ein Weib ertragen lernen? Wie willst du es aushalten, wenn zum Beispiel eine den ganzen Tag lügt? oder eine, die über alle Welt lästert, so daß dein ehrlicher Tisch eine Stätte der Schmähsucht wird, oder eine, die immer etwas ißt, wo sie steht und geht, und dazu klatscht während des Kauens? Wie wirst du dastehen, wenn du eine hast, die in den Kaufläden mauset, oder die Schulden macht, wie die Gimmelin?«

Der Enkel unterdrückte das Lachen über die letzte Spezies, mit der es die Großmutter so nahe getroffen, und er sagte möglichst ernsthaft: »Wenn es so schlimm steht mit den armen Weiblein, so kann man sie ja um so weniger sich selbst überlassen und man muß sie heiraten, um zu retten, was zu retten ist!«

Aufs Äußerste gebracht, rief die Feindin ihres eigenen Geschlechtes: »Hör auf, du Greuel! Was ist's, was brauchst du?«

»Ich habe tausend Gulden im Spiel verloren, daran fehlen mir sechshundert!«

Die alte Dame setzte ihre Brille wieder auf, riß ihre Gloriahaube vom Kopf, um in ihren kurzen, grauen Haaren zu kratzen, und humpelte an den eingelegten Schreibtisch. Mit Vergnügen sah Landolt hinter der zurückrollenden Klappe die Wunder erscheinen, die dort aufbewahrt wurden und schon seine Kindheit erfreut hatten; eine kleine silberne Weltkugel; einen Ritter auf einem aus Elfenbein geschnittenen Pferde, der trug eine wirkliche silberne und vergoldete Rüstung, die man abnehmen konnte: der Schild war mit einem Edelsteine geschmückt und die Federn des Helmes emailliert; dann aber, ebenfalls aus Elfenbein kunstreich und fein gearbeitet, ein vier Zoll hohes Skelettchen mit einer silbernen Sense, welches das Tödlein genannt wurde und an dem kein Knöchlein fehlte.

Diesen zierlichen Tod nahm die Alte auf die zitternde Hand und sagte, während das feine Elfenbein kaum hörbar ein wenig klingelte und klapperte: »Sieh her, so sehen Mann und Frau aus, wenn der Spaß vorbei ist! Wer wird denn lieben und heiraten wollen!«

Salomon nahm das Tödlein auch in die Hand und betrachtete es aufmerksam; ein leichter Schauer durchfuhr ihn, als er sich die schöne Gestalt der Wendelgard von einem solchen Gerüste herunterbröckelnd vorstellte; wie er aber an die schnelle Flucht der Zeit und ihre Unwiederbringlichkeit dachte, klopfte ihm das Herz so stark, daß das Gerippchen merklich zitterte, und er warf einen verlangenden Blick auf die Hand der Großmutter, welche jetzt dem stets in einem Fache liegenden Barschatze eine Rolle schöner Doppellouisdors enthob und sagte:

»Da sind die tausend Gulden! Nun bleib mir aber vom Halse mit allen Heiratsgedanken!«

Zunächst machte er sich nun an den Kapitän Gimmel, den er in der Schenke aufsuchte und beiseitenahm. Er trug ihm vor, wie er von einer dritten Person, die nicht genannt sein wolle, beauftragt und in den Stand gesetzt sei, die unangenehme Angelegenheit der Tochter in Ordnung zu bringen; allein es werde verlangt, daß der Kapitän die Sache in seinem eigenen Namen geschehen lasse, zur möglichsten Schonung der Tochter, und es dürfe auch diese nichts anderes glauben, als daß der Vater die Schulden bezahlt habe. In diesem Sinne werde Landolt die Summe, als vom Kapitän herrührend, an amtlicher Stelle einliefern und dafür sorgen, daß dort die Gläubiger in aller Stille befriedigt würden. So werde dem Vater und dem Fräulein jede weitere Verdrießlichkeit erspart sein.

Der Herr Kapitän betrachtete den jungen Mann mit verwunderten Augen, sprach erst von unbefugten Einmischungen und Wahrung seines Hausrechtes und rückte an seinem Degen; als ihm aber Landolt vorstellte, daß man sich sehr für das Fräulein und ihr zukünftiges Wohl interessiere, welches von einer baldigen Regulierung der bewußten Sache abhangen könne, und der Kapitän eine gute Versorgung des Kindes zu wittern begann, steckte er das Schwert seiner Ehre wieder ein und erklärte sich mit dem vorgeschlagenen modus procedendi einverstanden.


 << zurück weiter >>