Gottfried Keller
Züricher Novellen
Gottfried Keller

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Ein schönes Kind aus der Mühle hielt sich den größten Teil des Tages in der Burg auf: das nahm Fides an die Hand, als sie jetzt in den Turm hinaufstieg, um das Schicksal, das sie dort eingesperrt hatte, zu untersuchen und unter Umständen loszulassen. Nicht vom Treppensteigen, sondern von innerer Bewegung atmete sie stark, als sie die Kammer aufschloß. Ein Kind, das eine Spinne in einem Schächtelchen eingeschlossen hält und den Deckel ein wenig lüftet, kann nicht ängstlicher gespannt sein, als Fides war. Sie setzte sich auf einen der niedrigen Stühle und hob das Kind auf den Schoß, dasselbe mit den Armen fest umfangend; es guckte freundlich und neugierig daraus hervor auf den nicht minder erregten Johannes, der sich auf ihr Geheiß ihr gegenüber niedergelassen hatte, so entfernt, als es die Enge des Gemaches erlaubte.

Nachdem sie einen ernsten Blick auf ihn geworfen und eine Weile nach Worten gesucht hatte, die eine unverfängliche Einleitung bilden sollten, sagte sie nun:

»Ihr habt mich zum Gegenstande Eueres Minnesingens gemacht und zum Vergnügen der wohlgeborenen Herren, ja meiner eigenen schwachen Eltern, ein artiges Spiel mit mir gespielt, ohne mich zu fragen, ob das mir auch wohl oder wehe tue! Was habt Ihr Euch eigentlich dabei gedacht?«

Johannes, der bislang nur seine Augen auf ihr hatte ruhen lassen, schlug sie jetzt errötend nieder und suchte seine Gedanken zu sammeln.

»Ei,« sagte er endlich, »wenn ich mich darauf besinnen soll, so habe ich immer nur das dabei gedacht, was in den Liedern eben steht, das heißt in denen, die Euch allein angehen, denn wie Ihr wißt, sind es zweierlei; es sind solche, die man selbst empfindet und erlebt und nicht anders machen oder unterlassen kann, und wieder andere, die man sonst so zur guten Übung hervorbringt, aus Lust am Singen und gewissermaßen zum Vorrat! So wißt Ihr ja selbst, daß ich zum Beispiel keine Ursache zu Tageliedern habe und in meiner Torheit doch solche singe!«

»Ungefähr weiß ich das!« erwiderte Fides; »das bringt mich nun eben auf die Sache! Wenn es allenfalls zu dulden ist, eine Frau zu besingen, die es nicht hindern kann, so sollte man ihr zu Ehren wenigstens auf einem edleren Tone verharren und nicht die Dirnen auf dem Stroh und die gesottenen Schweinsfüße und den groben Bauerntanz neben jene Frau setzen. Wißt Ihr nicht, wie beleidigend das ist?«

»Ich bitte Euch, mir diese Zuchtwidrigkeiten zu verzeihen,« antwortete Johannes mit aufrichtiger Bekümmernis; »ich habe sie schon bereut, obgleich ich sie nur in einem Unmute begangen habe, der von meiner verschmähten Neigung und von Eurer Härte herkam! Ich bin aber schon dafür gestraft worden, als ich in jenen Tagen alte Lieder fand, die mich mit meiner ganzen Singerei genugsam beschämten!«

»Wie das?« fragte Fides, und Johannes erzählte getreulich das Erlebnis mit dem alten Spielmann, sowie den Fund des Kürenbergers.

»Ich will Euch ein einziges kleines Lied sagen,« fuhr er fort, »das tausendmal besser und schöner alle Sehnsucht und alles Weh enthält, die in mir sind, als alle meine Lieder und Leiche, obschon es eigentlich eine Frau ist, die spricht!«

Fides forderte ihn lächelnd auf, das Liedchen zu sagen, das wir jetzt allgemein kennen, damals aber verschollen war:

Ich zog mir einen Falken
    länger als ein Jahr,
Und da ich ihn gezähmet,
    wie ich ihn wollte gar,
Und ich ihm sein Gefieder
    mit Golde wohl umwand,
Stieg hoch er in die Lüfte,
    flog in ein anderes Land.

Seither sah ich den Falken
    so schön und herrlich fliegen,
Auf goldrotem Gefieder
    sah ich ihn sich wiegen,
Er führt an seinem Fuße
    seidne Riemen fein:
Gott sende sie zusammen,
    die gerne treu sich möchten sein!

Die schöne Herrin von Schwarz-Wasserstelz hatte gegen das Ende dieses einfachen Liedchens das Kind, das sie auf dem Schoße hielt und das sich spielend unruhig bewegte, wieder fester an sich gezogen und küßte ihm beide Wänglein, den Mund und den Nacken, um ihre Augen zu bergen, in welche Tränen getreten waren.

In diesem Augenblicke wurde sie von einer ihrer dienenden Frauen abgerufen, die ihr vor der Türe mitteilte, daß der Graf Wernher plötzlich wieder zurückgekommen sei und, die Überfahrt begehrend, mit seinen Pferden vor der Mühle stehe. Fides gab schnell ihrem Gefangenen das Kind zu halten für eine kleine Weile, wie sie sagte, zog den Schlüssel der Kammer wiederum ab, und begab sich, von zwei Mägden begleitet, unter das der Mühle gegenüberstehende Tor ihrer Burg, vor welchem schon der Graf im Schiffe angekommen und im Begriffe war, hinauszuspringen.

Er hatte nämlich den Reisezug des Bischofs, der nach Zürich ging, wieder erreicht gehabt gerade in der Nähe des Lägerberges, als der Regensberger Herr Leuthold, der aus genannter Stadt nach Hause ritt, des Weges kam und nach stattgefundener Begrüßung beiläufig fragte, ob sich nicht der junge Hadlaub im Gefolge befinde. Derselbe sei seit einigen Tagen verschwunden, und man vermute, daß er beim Fürstbischof sich aufhalte. Sogleich wurde der Graf von Argwohn und Eifersucht ergriffen und auch der Bischof davon angesteckt, der anfing zu besorgen, der Singmeister könnte am Ende seine Harmlosigkeit verlieren und seine, des Bischofs, Pläne durchkreuzen. Sie wurden daher rätig, der Graf solle spornstreichs zurückreiten und die Fides einladen und in die Abtei zu Zürich bringen unter die Obhut der Frau Mutter.

Gestreckten Laufes war der Graf mit seinen Leuten davongeeilt und stand jetzt, wie gesagt, in dem schwankenden Nachen, im Begriffe, denselben zu verlassen; Fides jedoch erhob die Hand, in welcher sie den bewußten Schlüssel hielt, und winkte ihm innezuhalten. Sie rief ihm anmutig lachend zu, er möchte sein Begehren oder seine Verrichtung vom Schiffe aus kundtun, da sie allein im Hause sei und ohne Verletzung guter Sitte keinen Ritter einlassen könne. Etwas unbesonnen wollte aber der Graf, anstatt zu sprechen, dennoch auf die Landungsstufen springen, als der Müller, der das Ruder führte, auf einen Wink der Fides, das Schiff mit einem kräftigen Ruck drehte und wieder dem Ufer zuwendete. Im gleichen Augenblicke kam ein anderes Fahrzeug um die Ecke der Wasserburg geschossen, in welchem die Muhme Mechthildis saß, die kundschaften wollte, was da noch vorgehe. Denn sie hatte von ihrem Burgsitz aus gewahrt, daß noch Reiter angekommen seien. Ihr Schiff stieß nun so heftig gegen das eben im Kehren begriffene Schiff des Grafen von Homberg, daß dieser, der aufrecht stand, in den Rhein stürzte, zugleich aber auch die schreiende Dame über Bord fiel und sich an den badenden Ritter mit beiden Armen anklammerte. Mit einiger Mühe wurde das Paar von den Müllerknechten und Schiffern aus dem Wasser gezogen, ohne daß die Hexe von dem Ritter gelassen hätte.

Beschämt sah er, was für eine schöne Nixe er gefangen, schüttelte sich los und bestieg von Wasser triefend sein Pferd, jede Hilfe verschmähend, indem er rief: »Hole der Teufel das ganze Wassernest mit allen weißen und schwarzen Bachstelzen!« und ritt in einem Trabe nach Zürich, obgleich der Weg wohl fünf Stunden mißt.

Nie behelligte er mehr die schöne Fides; die Muhme aber wurde in der Mühle trocken gemacht, gewärmt und gepflegt, und sie fuhr noch in der Nacht über den Rhein zurück.

Inzwischen war Fides, als sie das Haustor wohl verschlossen, wieder in den Turm hinaufgeeilt, wo Johannes mit dem Kinde saß. Er hielt es auf den Knien und küßte es zärtlich auf beide Wänglein, den Mund und den Nacken, gerade wie Fides getan hatte; sie kam eben dazu und sah ihn so im Widerscheine einer großen, goldenen Abendwolke, die im Osten überm Rheine stand.

Wie sie ihm das Kind abnehmen wollte, hielt es schalkhaft lächelnd an ihm fest, so daß sie ganz nahe treten mußte, um die Ärmchen von seinem Halse loszumachen; das Kind bot ihr mutwillig das Mäulchen hin, daß sie es küssen sollte, und über diesem Spiele fielen sich die zwei großen Leute um den Hals und umfingen sich, das Kind vergessend, so eng, daß dieses stark gedrückt wurde, ängstlich zwischen ihnen hervorstrebte und in eine Ecke floh. Dort öffnete es den Mund und begann laut zu weinen, weil es glaubte, daß die zwei schönen Menschen, durch irgendeine feindliche Macht gezwungen, einander das größte Leid zufügten, sich schädigten und weh täten.

Das war aber keineswegs der Fall, obwohl sie unter ihren ungleichen, bald kurzen, bald langen Küssen sehr ernsthafte Gesichter machten. Vielmehr erhoben sie sich plötzlich, gingen ein paarmal in dem engen Raume herum und ließen sich gleich wieder auf ein Bänklein in der Mauervertiefung nieder, so daß ihre Häupter auf dem Goldgrunde des Abendhimmels schwebten, freilich so nah beisammen, daß auf der inneren Seite kaum zwischen den Hälsen etwas von dem Golde durchschien.

Erst jetzt bemerkte Fides endlich die Verzweiflung des Kindes; sie lockte es auf ihren Schoß zurück und trocknete ihm die Augen, ließ es aber bald wieder fahren, um den Johannes zu umhalsen, und das Kind saß jetzt frei auf ihren Knien und schlug fröhlich die Händchen zusammen.

Dann legte sie eine Hand auf das Herz des Mannes und sagte: »Hier will ich nun mein wahres Lehen aus Gottes Hand empfangen, hier meine sichere Burg und Heimat bauen und in Ehren wohnen!«

»Es ist dein rechtes Eigen und alles schon wohl gegründet und gebaut,« rief Meister Hadlaub; »aber ich stehe davor wie ein geharnischter Wächter und werde es schützen für dich und mich bis zum Tode!«

Fides lauschte diesen Worten mit begieriger Aufmerksamkeit; denn sie klangen mit volltönender sicherer Stimme wie aus einer anderen als der bisherigen Brust, wie wenn sie wirklich aus Panzer, Schild und Helm hervorschallte, wie von der Mauerzinne einer festen Stadt herunter.

Indessen hatten sie unbewußt begonnen, das Kind gemeinsam zu liebkosen, und zögerten über diesem Spiele nicht länger, ihre Ehe zu beschließen und zu besprechen. Fides lehnte sich dabei in das offene Fenster zurück; ein Windhauch hob einen Augenblick ihr langes dunkles Haar empor, daß es vom höchsten Turmgemache wie eine Fahne in die Luft und über den Rhein hinaus flatterte, als ob es Kunde davon geben möchte, daß eine schöne Frau hier in ihrer Seligkeit sitze.

Sie sandten nun Botschaften nach allen Seiten, um eine rechte Verlobung zu bewerkstelligen; das taten sie aber so, daß die betreffenden Freunde nicht wußten, um was es sich handelte, hingegen doch glauben mußten, daß es höchst dringend sei, nach dem Wasserschloß zu reisen, um eine Gefahr abzuwenden oder eine Hilfe zu leisten oder einen Rat zu erteilen.

So kamen sie am dritten Tage von allen Seiten an. Es kam die Äbtissin Kunigunde auf einem schwerfälligen Wagen mit Frauen und Kaplänen und traf verwundert mit Herrn Bischof Heinrich zusammen, der halb verdrießlich den Weg schon wieder machte, den er vor kurzer Zeit geritten. Es kam Herr Rüdiger Manesse, wie auch Herr Leuthold von Regensberg, dann des Bischofs Vogt von Röteln und der Schultheiß von Kaiserstuhl, Heinrich von Rheinsfelden und der Junker im Turm zu Eglisau als Nachbarn und Zeugen; schließlich kam Johannes' Vater, der alte Hadlaub, mit seinem jüngeren Sohne, der aufgewachsen war wie ein junger Eichbaum, und mit noch zwei Männern vom Zürichberg. Diese trugen Eisenhüte und Waffen. Der Saal auf der Burg war voll Gäste, die alle nicht wußten, zu was sie eigentlich herbeschieden seien, und sich voll Verwunderung begrüßten und befragten, aber niemand wußte Bescheid zu geben.

So stand alles an den Wänden, nur der Bischof und die Äbtissin saßen auf Stühlen. Da erschien Fides im Saale, ungewöhnlich reich gekleidet, von Johannes Hadlaub an der Hand geführt, und sie verkündete mit bewegter, aber ebenso entschieden als wohlklingender Stimme, daß sie sich mit diesem ehrlichen freien Manne, der seit Jahren ihr in treuer Minne gedient, verlobe, wie es keinem von allen den werten Freunden, die nächsten nicht ausgenommen, die so freundlich beflissen dazu geholfen, unerwartet oder unlieb sein werde.

Sie hatte den Ehering ihrer Großmutter, den ihr die Mutter einst geschenkt, dem Johannes gegeben und von diesem des Bischofs Ring, den er an der Hand trug, dafür verlangt. Diese Ringe tauschten sie jetzt feierlich aus, und die beiden kirchenfürstlichen Personen sahen sich bestürzt und schmerzlich an. Als aber das Paar ihnen nahte, um ihnen zuerst Ehre zu erweisen und Segen zu erbitten, fuhr Herr Heinrich, der Bischof, in die Höhe, um Einsprache zu tun. Er verstummte aber einen Augenblick, wohl fühlend, daß er nicht als Vater zu sprechen das Recht habe, weil Fides nicht seinen Namen trug oder tragen durfte; er fuhr daher als Fürst und Lehensherr fort zu sprechen, jedoch nur wenige Worte, weil einerseits die Äbtissin ihm beschwichtigende Laute zuflüsterte, andererseits Herr Rüdiger Manesse vortrat und mit milder Stimme sagte:

»Beruhige dich, gnädigster Herr und Fürst! Der junge Mann, unser guter Freund, ist in diesem Falle wohl lehensfähig! Da unser heiteres Spiel diese ernsthafte Wendung genommen hat, so wollen wir das übrigens auch sonst als ein Zeichen der Zeit freundlich hinnehmen und uns freuen, daß in dem unaufhörlichen Wandel aller Dinge treue Minne bestehen bleibt und obsiegt.«

Dessenungeachtet ging eine murrende Bewegung unter den übrigen Herren herum, denen das unverhoffte Abenteuer nicht einleuchten wollte. Jetzt stellte sich aber der alte Ruoff vom Hadelaub mit weitem Schritte hervor, und seine Freunde traten dicht hinter ihn.

»Auch mir«, rief er, »hat dieser Handel nie recht gefallen, und er würde mir auch jetzt nicht gefallen, wenn ich das Kind Fides nicht für eine preiswerte und vollkommen gewordene Frau erachten würde, die verdient, in allen Ehren zu leben. Ein Lehen braucht mein Sohn von niemandem; denn ich habe in ebendiesen Tagen für ihn den Kauf eines guten steinernen Hauses eingeleitet, das am neuen Markte zu Zürich steht, da er einmal ein Mann von der Stadt sein will. Er wird also im Schirme der Stadt wohnen und auch dort teil an meinem Eigentum auf dem Berge haben!«

»Ich rate,« rief jetzt der Regensberger lachend, »daß wir den Männern von Zürich diesen schönen Vogel überlassen, der unser Lied nicht mehr singen will; sonst pfänden sie uns mehr, als er wert ist.«

Die Nachbarn, zu denen er hauptsächlich gesprochen hatte, lachten auch und gaben sich zufrieden, und so ging die Verlobung ohne weitere Störung vor sich. Selbst der Bischof wendete den Sinn mit einem Male, da er an den Augen der Fides sah, daß sie in wirklicher Liebe erblühte, und die Äbtissin war froh, daß das Kind und sie selbst damit zur Ruhe kam.

Fides richtete ein musterhaftes Mahl zu, und als die Gäste sich zerstreuten, zog Johannes mit denen von Zürich und seinen Verwandten, aus der Gefangenschaft entlassen, bis zur Hochzeit nach Hause.

*

Es fügte sich nun, daß ein verloren gewesener, ältlicher wasserstelzischer Vetter aus fernen Landen auftauchte und sich mit der Dame auf Weiß-Wasserstelz vermählte, so daß auch diese noch zu Ehren kam. In die Hände dieses Ehepaares wurde durch nützliches Abkommen das ganze Lehen wieder vereinigt, und Fides zog als Bürgersfrau in die aufstrebende Stadt. Sie war stets heiter und gut beraten und machte am liebsten zuweilen einen raschen Gang auf den nahen Berg, wo die Schwiegereltern noch lange Freude an ihr gewannen.

Die Vollendung des Kodex Manesse erlebte kein einziger von den Herren mehr, die seine Entstehung gesehen hatten. Lange schon ruhte Herr Rüdiger Manesse in der Gruft bei den Augustinern zu Zürich und lagen die Eltern der Fides unter Grabmälern ihrer Münsterkirchen, getrennt durch Land und Wasser. Selbst der Graf von Homberg endete sein bewegtes Kriegerleben schon im Jahre  1320 im Felde vor Genua. Hadlaub schrieb noch die wenigen Lieder, die man von ihm besaß, in das Buch und widmete ihm ein tapferes Schlachtenbild; dann schloß er endlich die Sammlung und schrieb unter den Index:

Die gesungen hant nu zemale sint C und XXXVIII.


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